17. Kapitel - Ein Auge und ein Sturm

Ein mächtiger Wind zerriss die Anhöhe und fegte alle gleichermaßen von den Füßen. Alle, außer Kilian. Dieser blieb unberührt in der Mitte der Wiese stehen, seinen Ast erhoben, als wäre er ein fest verwurzelter Baum.

Um ihn herum lagen alle im Gras. Augustus rappelte sich auf. Seine tiefschwarzen Augen wirkten größer und dunkler als zuvor. Er tastete nach seinen Schlüsseln, um Enya einzuschlüsseln. Doch ein weiterer Windhauch wirbelte die beiden leeren Gefängnisse außer Reichweite. Der Wind hob sie an, als wären sie so leicht wie Blätter, und pustete sie über sieben Berge davon.

Augustus starrte ihnen sprachlos hinterher.

Kilian genauso. Doch er stemmte den Ast ins Gras und schaffte es, nicht so erstaunt auszusehen. "Lasst uns in Ruhe."

"Wie hast du das gemacht?" Augustus sah ehrlich durcheinander aus. Sein Mantel hatte Grasflecken und sein Kragen saß schief.

Der Wind verdichtete sich und nahm eine Gestalt an. Mit ausgestreckten Krallen flog der Nebelparder auf den Mann zu. Er landete in seiner nebelartigen Gestalt nur wenige Zentimeter vor ihm. "Hier draußen sind wir Elemente frei und stärker als auf der Elementarebene", fauchte der Geist der Luft und zeigte seine Zähne.

Augustus Mund klappte auf. Er hatte schon mehrere Prüfungen auf der Elementarbene bestanden, weil er mehrere Quintessentias gestohlen hatte, aber so etwas hatte er sicher noch nie erlebt. Wahrscheinlich hatte er den Geist der Luft nie in seiner wahren Gestalt gesehen.

Er und seine Handlanger standen auf und wichen mit langsamen Schritten zurück.

Doch Augustus war noch nicht fertig. "Wir sehen uns am Tor!", dröhnte er. "Ich habe immer noch die beiden Schlüssel und wenn dir diese Leben lieb sind, dann solltest du rechtzeitig dort sein! Sei dir bewusst, dass ich die Schlüssel jederzeit zerstören kann."

Kilian wollte ihnen hinterherlaufen, dem Kampf hier und jetzt ein Ende setzen, doch der Nebelparder stoppte ihn. "Warte."

Kilian nahm an, der Geist der Luft würde etwas unternehmen. Doch er tat nichts. Gemeinsam sahen sie den drei hinterher, bis sie fort waren.

"Ist das dein Ernst?", fragte Kilian entgeistert. "Warum hast du nichts getan?"

"Ich tue keinem meiner Elementarlingen etwas - egal wer es ist."

"Deinen was?"

"Elementarlingen. Prüflingen."

Kilian schüttelte nur den Kopf, als ihm bewusst wurde, dass er auch ein Elementarling war. Wie Augustus. Und wie Fiona.

Er sah zu Enya, die sich aufrappelte. Sie drückte Darius fest an sich, als wäre er ein Plüschtier, das ihr Trost spenden konnte. Stumme Tränen liefen ihre Wangen hinunter.

Kilian trat zu ihr. "Wir gehen alle nach Hause", versprach er. "Ich lasse nicht zu, dass Augustus Vater oder Fiona etwas antun, genauso wenig wie ich dich sterben lasse. Wir gehen alle nach Hause."

Enya holte zitternd Luft. "Aber ..."

"Kein aber", widersprach Kilian. "Ich überleg mir etwas. Versprochen."

Der Himmel leuchtete inzwischen orange. Perlmuttfarbene Wolken schimmerten vor dem Sonnenuntergang. In maximal drei Stunden würde der Mond hoch am Himmel stehen und er müsste die Elemente zur Quintessenz vereinen. Waren sie so lange unter der Erde gewesen? Er brauchte nicht einmal auf Enyas mittlerweile vollständig silbernen Arm zu schauen, um zu wissen, dass die Zeit drängte. Er hatte erst zwei Elemente - und einen Nebelparder neben sich zu sitzen.

Dieser erhob sich. Zum ersten Mal bemerkte Kilian, dass sein Fell wie der Wind umherströmte. "Enya, Darius, würdet ihr euren Bruder und mich kurz allein lassen?", fragte er.

Kilians Herz begann noch schneller zu klopfen. Es war soweit. Er konnte sich der Prüfung der Luft nur allein stellen. Es gab keine weitere Chance. Bei den anderen Elementen hatte es das vermutlich auch nicht gegeben, aber jetzt fühlte es sich ernster an. Vermutlich, weil er sich grundsätzlich am meisten mit dem Element Luft verbunden fühlte. Zu scheitern würde bedeuten, dass er nicht nur seine Schwester, sondern auch sich selbst enttäuschen würde.

Doch Kilian straffte die Schultern und atmete tief durch. Er konnte das schaffen.

"Ihr könnt ja schauen, ob ihr irgendwo Wasser oder einen Fluss oder so seht", schlug er den Beiden vor.

Enya drückte seine Hand. "Denk an das, worüber wir vorhin geredet haben", flüsterte sie, bevor sie und Darius den Berg nach unten liefen. Hier waren überall Bäume und Gras, bemerkte Kilian. Vorhin hatte ihre Umgebung nur aus trockenem Stein bestanden. Nun wuchs hier überall Natur. Seltsam ... Vielleicht hatte der Geist der Erde etwas damit zu tun?

Er schüttelte den Kopf und warf seinen Ast weg. Jetzt musste er sich vollkommen auf den Geist der Luft konzentrieren.

Doch eine Frage hatte er vorher noch. "Stimmt es, dass ich mit der Quintessenz nur eine Person heilen kann?"

Der Nebelparder faltete die Pfoten im Gras. "Ja. Nur eine, aber nicht dich selbst", bestätigte er.

Dann hatte Augustus die Wahrheit gesagt. Kilian schluckte. Zumindest hatte er jetzt Gewissheit.

"Okay, was muss ich tun?", war seine nächste Frage. Er hielt Ausschau nach potenziellen Klippen, weil er nicht wieder abstürzen wollte.

"Ich möchte dir nur eine einzige Frage stellen."

"Tatsächlich?"

"Ja. Was bedeutet Luft für dich?"

Kilian wollte die Werte aus dem Loblied aufzählen, doch er hatte das Gefühl, dass der Geist etwas anderes hören wollte. Er schwieg einen Moment.

"Luft ist die Basis von Leben", sagte er schließlich mit einem Hauch Unsicherheit.

Der Nebelparder lachte. Zumindest glaubte er das, weil er noch nie eine Wildkatze lachen gehört hatte. "Und was bedeutet dann Erde?"

Kilian knetete seine Hände. "Es ist ebenfalls die Basis von Leben", gab er lahm zu.

Wahrscheinlich war es nicht das, was der Geist hören wollte. Er stampfte mit den Pfoten auf und ein heulender Wind zerriss die Anhöhe. Er teilte die Luft in warm und kalt und wirbelte um ihn herum, immer schneller und wilder. Er riss an seinen Haaren. Kilian hob eine Hand zum Schutz vor seine Augen, doch er konnte im Sturm nichts mehr sehen. Er verlor jegliche Orientierung. Der Wind zerrte an seiner Kleidung und stieß ihn fast von den Füßen.

Von wegen Basis von Leben - der Nebelparder wollte ihn umbringen.

"Komm zu mir", ertönte dessen Stimme.

Kilian sah nicht, wo er war. Trotzdem lehnte er sich gegen den stürmischen Wind. Er kämpfte gegen die mächtige Kraft, die ihn mit jedem Schritt zurückdrängte.

Einen Fuß vor den anderen.

Plötzlich wurde es still. Kein Wind, kein Wirbel. Nur eine zarte Sommerbrise, die ihm eine Haarsträhne aus seinem überraschten Gesicht strich. Er ließ seine Hände sinken.

"Das Auge des Sturms." Der Nebelparder saß ruhig in der Mitte, um sie herum tobte die Welt. "Was spürst du?"

Kilian betrachtete den Sturm mit großen Augen. Er schien weit weg, obwohl er nah war. Er antwortete, ohne nachzudenken. "Ruhe", kam es ihm über die Lippen. Sofort schlug er sich eine Hand vor den Mund, weil das die Haupteigenschaft der Erde war.

Doch der Nebelparder nickte. "Genau. Darum geht es."

"Ich verstehe nicht?"

"Luft kann frei, wild und ungezähmt sein", begann er und der Sturm wurde stärker, "aber sie hat auch einen ruhigen Teil. Eine zarte Brise. Ein sanfter Lufthauch. Luft vereint diesen Gegensatz in sich, verstehst du? Also, Kilian, was ist dann mit der Erde?"

"Erde ist ruhig und stabil - vorrangig -, aber auch sie hat eine andere Seite", sagte er und verstand endlich, worauf der Geist hinaus wollte. "Neue Wege - das ist ein Aspekt der Freiheit! Erde kann auch kraftvoll und ungebändigt sein und gleichzeitig voller Leichtigkeit sein. Jedes Element verkörpert vorrangig seine Werte, genauso wie es die Gegenteiligen trägt - zumindest manchmal. Aber ... das ist die Balance, oder? Um alle Elemente zu balancieren, muss ich erstmal verstehen, dass jedes Element für sich eine Balance bewahrt und braucht."

Er musste aufhören, alles getrennt zu sehen. Wenn er die Essenz eines jeden Elementes begriff, erst dann würde er die Quintessenz vereinen können.

Der Nebelparder nickte stolz. "Jetzt bist du bereit, die Luft anzunehmen."

"Moment, ich dachte, ich muss ..."

"Meine Prüfung bestehen?", lachte der Nebelparder und der Sturm verstummte endgültig. Sie standen wieder auf der Wiese. Die Sonne schien und irgendwo zwitscherten Vögel. Unzählige Blütenblätter hatten sich durch den Sturm gelöst und schwebten wie zarte Schmetterlinge um sie herum. "Vielleicht gab es mehrere. Vielleicht habe ich dich seit unserem ersten Treffen die ganze Zeit im Blick behalten. Und vielleicht habe ich, während du die Prüfung der Erde bestanden hast, bereits genug gespürt."

"Heißt das ...?"

"Ja." Der Nebelparder nickte ihm zu, wie die anderen beiden Geister zuvor, und löste sich auf. "Nun geh und folge dem Pfad bis zum Schluss", hauchte der Wind.

Plötzlich spürte Kilian einen enormen Rückenwind zu seinen Zielen, der ihn loslaufen ließ. Seine Füße bewegten sich wie von selbst. Da es bergab ging, nahm er schnell Fahrt auf. Einen Moment versuchte er noch anzuhalten, dann überkam ihn eine Welle der Freiheit. Er breitete die Arme aus, als könnte er fliegen. Mit einem lauten "Wohoo!" rannte er den Hügel nach unten.

Das war leichter gewesen als gedacht.

"Luft steht für Leichtigkeit." Ein kräftiger Flügelschlag verdrängte den Wind, als der Nebelreiher knapp hinter ihm in die Höhe stob. Der Wind streifte um seinen Kopf und wehte alle Zweifel davon. Diese Kraft schenkte ihm mehr Antrieb, als er je für möglich gehalten hatte. "Was hast du denn erwartet?"

Kilian lachte. Der Moment war so leicht, so frei, so unbeschwert. Irgendwie irreal und doch zart. Seine Füße flogen mit schnellen Schritten über das Gras. Der Nebelreiher vollführte eine akrobatische Drehung und stieß einen Schrei aus - laut und ungezähmt - bevor er in den Weiten der Wolken davonflog.

Ja, die Zeit rannte. Ja, seine Familie war in Gefahr. Aber er hatte gerade die dritte von vier Prüfungen mit Leichtigkeit bestanden. Sobald er alle geschafft hatte, würde er sich überlegen, wie er Enya, Fiona und seinen Vater retten konnte.

Er spürte es in jeder Zelle. Der Geist der Luft hatte ihm neben seiner Freundschaft noch etwas geschenkt: Zuversicht.

Sie leuchtete wie ein Wegweiser am Horizont. Und daneben tauchte noch ein anderes Licht auf, welches die Zuversicht mit hunderten Flügelschlägen vermehrte:

Die Glühwürmchen waren zurück.

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