15. Kapitel - Was zusammen gehört ...

Stabilität.

Das Wort tauchte in seinem Kopf auf und kreiste umher, als wollte es ihm etwas Wichtiges sagen. Kilian runzelte die Stirn, um die Erkenntnis zu beschleunigen, bis ihm endlich ein Licht aufging.

Erde stand für Stabilität. Es ging nicht nur darum, Enya zu finden - sondern vor allem zu sehen, ob er die entsprechenden Werte derweilen verkörperte. Bei Feuer war es ähnlich gewesen, aber Kilian hatte es in der Eile fast verdrängt.

Ruhe. Stabilität. Einheit.

Im Moment fühlte er das Gegenteil. Vielleicht brach auch deshalb alles zusammen?

Kilian atmete zitternd tief ein und aus, auch wenn über ihm gerade ein ganzes Gebirge einstürzte. Kristalle explodierten zu Staub. Er zuckte bei jedem Knall zusammen. Trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen - schloss er die Augen. Kilian konzentrierte sich auf Ruhe. Der Boden bebte, aber er dachte an Stabilität. Enya und er waren getrennt, doch er fokussierte sich auf die Einheit.

Er wiederholte die drei Worte so lange, bis er alles um sich herum vergaß. Bis sein Atem und sein pochender Herzschlag ruhiger wurden. Bis das Knallen und Beben in den Hintergrund rückten.

Bis sich etwas veränderte.

Er spürte Sonnenstrahlen in seiner Nase kitzeln, auch wenn er im Hinterkopf wusste, dass er unter der Erde war. Wärme flutete über ihn wie eine zarte Brise und ließ seine Fingerspitzen kribbeln. Er fühlte sich zurück in den Apothekergarten versetzt - der Geruch von bunten Pflanzen, der Schutz ihrer Blätter und Ranken, die Stille zwischen den Beeten. Das leise Klingeln von Elfen, die kichernd umherflogen und Unkraut jagten. Das Gefühl, dass der Garten die Heilmittel für alle Krankheiten, die Lösung für alle Probleme, beinhaltete.

Damals hatte er noch nicht gewusst, wie viel mehr es auf der Welt gab.

Trotzdem war und blieb der Garten sein Ruhepunkt, sein Lieblingsteil am Apothekersein.

"Kilian, wo bist du?", hörte er Enyas Stimme in naher Ferne.

Sie hatten oft Verstecken im Garten gespielt. Es war der perfekte Ort dafür. Auch wenn sein Vater sich stets um die Pflanzen gekümmert hatte, waren die Beete wild gewachsen und hatten viel Platz geboten, um sich zurückzuziehen.

So wie auch jetzt. Suchte er eigentlich Enya oder suchte sie ihn?

Nein, es war kein Versteckspiel - es war das Gegenteil.

Kilian riss die Augen auf. Die inneren Bilder vom Apothekergarten verschwanden, doch der Nachhall der Ruhe blieb. Er sprang auf. "Enya! Ich bin hier!"

"Kilian?" Am anderen Ende der Höhle tauchte Enya neben einem Tunnelausgang auf. Ängstlich starrte sie die Decke an.

Es hatte geklappt!

"Du wirst immer finden, was du suchst." Die Stimme des Geistes der Erde ließ ihn innehalten. Sie stand plötzlich neben ihm. Wo kam sie her? Sie beobachtete ihn, als hätte sie schon eine Weile hier gewartet. "Und wenn du es nicht tust, dann wird es dich finden. Es findet immer zusammen, was zusammengehört."

"Dann hätte ich gar nicht rennen brauchen?"

Die Erde zuckte mit den Schultern. "Was du brauchst, um dein Ziel zu finden, ist deine Sache. Aber es war ein guter Weg."

Sie drückte ihm etwas in die Hand: seinen Kompass. Gleichzeitig hatte Kilian das Gefühl, dass sie ihm noch viel mehr gab, etwas, was er schwer fassen konnte.

Er hatte ihre Prüfung bestanden.

Sie lächelte. Dann nickte sie ihm kurz zu, wie auch der Geist des Feuers getan hatte, und löste sich auf.

Kilian verschwendete keine weitere Sekunde. Er rannte los. Enya ebenfalls. Sie trafen sich in der Mitte der Höhle und er wirbelte sie im Kreis herum. Er hielt sie fest, als wollte er sie nicht mehr loslassen. "Ich hab dich."

Seine Schwester gab einen undefinierbaren Ton von sich, der wie eine Mischung aus Schluchzen und Lachen klang. Als sie sich löste, trug sie ein breites Lächeln auf den Lippen.

"Hast du bestanden?", wollte sie wissen.

Er nickte und Enya jubelte. "Ich wusste, dass du es schaffst!"

Über ihnen schien die Sonne. Kilian hob den Kopf und kniff die Augen zusammen. Dort war eine Treppe nach oben ins Freie, die vorher nicht dort gewesen war. Das Sonnenlicht schien hinab und ließ die Kristalle funkeln und glitzern und erzeugte kleine Regenbogen. Wie kleine Kaleidoskope brachen sie das Licht und ließen die Felswände noch bunter schimmern als zuvor. Staunend drehte er sich im Kreis. Auch Enya sah sich mit offenem Mund um.

Dann fiel ihr Blick auf den Kompass, den er in der Hand hielt. "Wow, der ist ja hübsch! Hast du den auch von hier?"

Zum ersten Mal, seit die Erde ihn ihm gegeben hatte, betrachtete Kilian ihn richtig. Der Kompass hatte sich verwandelt: Er funkelte in strahlendem Gold, als wäre er nagelneu. In der Fassung waren Diamanten eingesetzt, mehr als er zählen konnte. Es war sein Kompass ... in einem neuen Glanz.

"Nein ... den habe ich von früher."

Enya näherte sich ihm und fuhr mit den Fingern über den Rand. Auch wenn Kilian ihn ihr früher nie gezeigt und ihr nie die Geschichte dahinter erzählt hatte, überkam ihn das Gefühl, es jetzt tun zu wollen.

"Es ist mein Glücksbringer, seit unsere Mutter gestorben ist", kam es ihm über die Lippen. Es war sein Glücksbringer gewesen, ein Symbol, ein Andenken. Und vor allem eines: Ein Geheimnis.

Enya stoppte. Ihre Augen wurden, wenn möglich, noch größer.

Kilian bedeutete ihr, sich mit ihm auf die unterste Treppenstufe zu setzen. "Ich habe nicht viele Erinnerungen an sie", begann er zu erzählen, während die Sonne ihre Rücken wärmte. "Aber an eines erinnere ich mich noch genau, als wäre es gestern: Ich war sechs Jahre alt, du zwei. Sie hat mir immer im Garten Geschichten über die weite Welt vorgelesen, während du und Vater mit den Elfen gespielt habt. Ich habe das geliebt, also hat sie mich eines Tages mit zum Hafen mitgenommen. Ich glaube, das war der Anfang von meinem Wunsch, mehr von der Welt zu sehen, als immer nur das kleine Dorf."

"Das hast du nie erzählt."

"Ich weiß. Sie hat mir versprochen, eines Tages gemeinsam einen Ausflug zu machen - und dann ist sie gestorben. Ich war so sauer und traurig, dass ich weggerannt bin und mich an den Hafen gesetzt habe, wo wir damals gesessen hatten. Ein Matrose hat mich gesehen und gefragt, wo meine Mutter ist. 'Weg', habe ich gesagt. 'Auf dem Meer?', hat er gefragt. 'Ich weiß es nicht. Papa sagt, sie sei an einem schöneren Ort.'" Kilian konnte nicht verhindern, dass ihm eine Träne über die Wange lief. "Er hat mich traurig angeguckt und sich dann neben mich gesetzt. 'Es gibt viele schöne Orte, aber nicht zu allen kannst du segeln.' 'Warum?', habe ich gefragt. Daraufhin hat er diesen Kompass herausgeholt und ihn mir in die Hände gelegt. 'Weißt du, das ist ein magischer Kompass', hat er gesagt. 'Eines Tages wird er dir den Weg zu einem viel schöneren Ort zeigen, als dort, wo deine Mama gerade ist.'"

Kilian schüttelte den Kopf, weil auch Enya Tränen über die Wangen liefen. Er wog den Kompass mit einem Lächeln in der Hand. "Damals habe ich es nicht verstanden. Er war kaputt, wie sollte das gehen? Trotzdem ist er mein Glücksbringer und eine hoffnungsvolle Erinnerung geblieben, die mich stets begleitet hat. Jetzt verstehe ich endlich, was der Matrose gemeint hat."

"Was?", wollte Enya wissen. Ihre Unterlippe zitterte, als Kilian den Kompass aufklappte und der Zeiger sich, wie erwartet, sofort zu ihr drehte.

Er lächelte. "Du bist ihr ähnlicher, als du denkst."

Enya schluchzte laut auf. Sie schlang ihre Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Kilian drückte sie an sich.

Vielleicht musste er für schöne Orte nicht weit reisen, sondern nur richtig hinsehen.

"Warum hast du die Geschichte nie eher erzählt?", fragte sie irgendwann und wischte sich das Gesicht trocken.

"Ich weiß es nicht. Irgendwie hatte es sich wie ein Geheimnis angefühlt, das ich einfach bei mir bewahrt habe." Er betrachtete den Kompass, dann seine Schwester. "Ich möchte, dass du ihn nimmst."

"Wieso?"

Er zuckte mit den Schultern. Der Kompass hatte seine Aufgabe erfüllt. Außerdem war er jetzt anders. Vielleicht konnte er auch für Enya irgendwann den richtigen Weg zeigen.

Doch seine Schwester schüttelte den Kopf. "Behalte ihn. Du wirst ihn noch brauchen."

"Wofür?"

Sie lächelte. "Du hast gesagt, dass du dich nach Freiheit sehnst. Wenn du die Welt sehen willst, wenn das dein Wunsch ist, dann solltest du das tun."

"Aber ich kann dich und Vater doch nicht ..."

"Natürlich kannst du!", schimpfte Enya und er verstummte. Sie schien selbst überrascht über die Intensität ihrer Worte. Dann schenkte sie ihm ein Lächeln. "Als wir den Pfad der Elemente begonnen haben, hatte ich zuerst Angst. Ich habe gesehen, wie du dich durch die Konfrontation mit Feuer verändert hast. Ich hatte Angst, dass du versuchen würdest, die Elemente zu beeindrucken, um mich zu retten, und dich dadurch selbst verlierst." Sie schüttelte den Kopf. "Jetzt merke ich es: Auch du findest durch diese Reise mehr zu dir. Wenn das alles vorbei ist, dann solltest du deinem Weg folgen, egal wo er dich hinführt. Du weißt ja jederzeit, wie du wieder nach Hause kommst."

Mit diesen Worten reichte sie ihm den Kompass zurück. Dieses Mal war Kilian es, dem die Tränen kamen.

"Was ist heute nur los mit uns? So sind wir doch sonst nicht", lachte er. Enya lachte mit. Sie lachten gemeinsam, weil es keine Worte als Antwort brauchte.

Manchmal brauchte es besondere Momente, damit das wirklich zusammenfand, was zusammengehörte.

Und nichts und niemand durfte dieses Geschwisterband jemals kaputt machen - auch kein Irrlicht.

"Wir sollten weitergehen", sagte Kilian nach einer Weile und ließ den neuen Kompass zurück in seine Tasche gleiten. Jetzt, da er Enya seinen größten Wunsch erzählt und sogar Zuspruch bekommen hatte, war eine unsichtbare Last verschwunden. Es war, als hätte er sich vorher, indem er niemandem von seinem Wunsch erzählt hatte, selbst festgekettet. Nun fühlte er sich befreit, sogar beflügelt - wie Luft. Luft stand für Freiheit. Vielleicht könnte er diese Prüfung gleich bestehen.

Aber zuerst sollten sie Darius und Fiona finden, damit sich die beiden keine Sorgen machten. Er wusste nicht, wie lange sie schon unter der Erde waren.

Gemeinsam folgten sie der Treppe, raus aus der Erde und hinein in das Tageslicht. Der Wind des Nebelgebirges begrüßte sie mit offenen Armen.

Doch dort wartete der nächste Schreck auf sie.

"So, so." Augustus wartete mit verschränkten Armen gelangweilt an einen Baum gelehnt. Seine beiden Handlanger standen neben ihm wie zwei Wächter-Statuen mit ausdruckslosen Gesichtern. Einer hatte ein regungsloses Eichhörnchen in der Hand baumeln - Darius.

Fiona dagegen war nirgends zu sehen.

Augustus grinste, als die Geschwister nach Luft schnappten und zurückwichen. "Wir haben schon auf euch gewartet."

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