11. Kapitel - Augustus Geheimnis

Nerea war ebenso wie ihr Vater eingesperrt worden - vor ungefähr drei Wochen. Die ältere Frau kam aus einem Land weit im Osten, das Zendor hieß. Kilian hatte noch nie davon gehört, doch es faszinierte ihn, wie groß die Welt war.

Und es erschreckte ihn, wo die drei Fremden anscheinend überall ihr Unheil trieben.

"Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass Augustus und seine beiden Handlanger mich vor die Wahl gestellt haben: Sie haben gesagt, dass sich in einem Schlüssel ein Zauberreich befindet und ich mein geliebtes Pferd Fantasia retten kann, wenn ich hineingehe. Im anderen befindet sich ewiges Glück für mich selbst. Ich habe den ersten Schlüssel gewählt", berichtete Nerea. Sie, Enya und Kilian saßen vor dem Wasserfall. Darius hatte angeboten, der alten Frau ein paar Nüsse zum Trost zu bringen, aber Kilian hatte es für besser gehalten, sie nicht auch noch mit einem sprechenden Eichhörnchen zu überfordern.

Also hatte Darius sich zu Fiona in den Spiegel-Wald zurückgezogen. Sobald Nerea erschienen war, hatte Fiona panisch etwas von "keine Maske!" gemurmelt und war schneller verschwunden, als Kilian fragen konnte, ob alles in Ordnung war.

Nerea schilderte ihnen ihre Geschichte. "Ich kümmere mich um die Königskinder von Zendor. Bei einem Ausritt wurden wir von einem Irrlicht angegriffen. Fantasia hat es verjagt und uns alle gerettet, doch sie wurde vergiftet. Ich hatte gehofft, dass ich ihr noch helfen kann ..."

Es war dieselbe Geschichte wie ihre - nur ein wenig anders.

"Kennst du die 'Quintessentia'?" Kilian lehnte sich nach vorne. "Es ist ein magisches Buch über die Elemente."

"Nein, noch nie davon gehört. Wobei ... Lenox, einer der Prinzen, hat mir kurz vor dem Besuch der drei Männer etwas von einem seltsamen Buch erzählt ... Ich hoffe, es geht ihm und seinen Brüdern gut. Ich hoffe, in den drei Wochen meines Verschwindens ist nichts passiert." Sie schluchzte. "Bloß Fantasia wird wahrscheinlich nicht mehr leben ..."

Je länger sie sich unterhielten, desto sicherer war Kilian sich: Es war alles kein Zufall. Die drei Fremden - zumindest vom Anführer kannten sie jetzt auch den Namen: Augustus - tauchten anscheinend immer dann auf, wenn ein Irrlicht zugebissen hatte.

Genauso wie die Quintessentia.

"Das ist so gemein!", beschwerte sich Enya und stützte den Kopf in die Hände. "Das Buch zeigt den Weg zur Heilung. Indem die Drei es stehlen, stehlen sie mehr als nur Hoffnung. Sie reißen Familien auseinander! Und das anscheinend regelmäßig."

Sie versuchten stets schneller zu sein, als jemand die Quintessentia lesen konnte, nutzten die Angst aus und schlüsselten Menschen ein - bloß, um selbst das jeweilige Buch in die Finger zu bekommen. Die Frage war, warum und was sie mit so vielen magischen Büchern wollten.

Oder es ging gar nicht um die Bücher, sondern um die Elemente darin ...

Als Nerea schließlich mit gebückter Haltung zum Hafen aufbrach, um nach Zendor zurückzukehren, kniete Kilian sich neben Enya ins warme Gras. "Tut mir leid."

"Was?", fragte seine Schwester erstaunt.

"Dass Vater nicht in dem Schlüssel war."

"Das konntest du nicht wissen. Du hast viel riskiert, um ihn zurückzuholen. Wir schaffen das noch. Wir sind auf einem guten Weg."

Kilian lächelte und versuchte, ihren Optimismus zu fühlen. "Ja, das sind wir." Dann verrutschte sein Lächeln. "Ich muss dir noch etwas sagen: Eigentlich hatten wir bereits alle Elemente. Sie waren im Buch und ..."

Enya nickte. "Ich weiß."

Kilians Mund klappte auf. "Woher ...?"

"Es war nicht schwer zu erraten. Außerdem hatte ich heimlich in der Quintessentia gelesen, weil ich gehofft hatte, dass sie doch noch mit mir spricht." Sie schob ihre Unterlippe hervor, was Antwort genug war.

"Dann bist du nicht sauer oder so?"

"Nein, warum auch? Du wusstest es nicht. Keiner hätte es wissen können. Außerdem finde ich es, glaube ich, gut so - besser zumindest, als wenn ich mit ansehen müsste, wie du unvorbereitet auf der Elementarebene versucht, dich allen Prüfungen gleichzeitig zu stellen, um mich zu retten, und daran vielleicht zerbrichst wie Fiona ..."

"Das wird nicht passieren, okay?"

Enya schniefte. "Versprich es mir, Kilian, bitte! Ich will nicht, dass dir etwas passiert."

Er nickte, zuerst langsam, dann entschlossen. Bisher war ihm nicht bewusst gewesen, wie belastend es auch für Enya war, zu wissen, dass er sich den Prüfungen der Elemente stellte. Mit ihr redeten sie nämlich nicht.

"Zeig mir mal deinen Arm", bat er sie.

Enya streckte ihn aus. Das silberfarbene Gift hatte sich weiter ausgebreitet und inzwischen ihren halben Arm gefärbt, wie ein Handschuh aus tödlicher Seide. Kilian stand auf. "Wir sollten weitergehen. Heute Nacht ist Vollmond und wir haben noch drei Elemente und einen langen Weg vor uns. Aber das schaffen wir mit links", sagte er und hielt Enyas linken, silbernen Arm hoch. Sie kicherte und Kilian lächelte ebenfalls. "Ich hole schnell Fiona und Darius. Warte hier."

Kilian zwängte sich hinter dem Wasserfall vorbei. Doch als er den Spiegel-Wald betrat, stoppte er auf der Stelle.

"Fiona! Darius!", schrie er und wollte losrennen. Doch die Erinnerung an die Fallen ließ ihn innehalten. Machtlos blieb er am Eingang stehen und suchte den Wald mit weit aufgerissenen Augen ab.

"Wie es scheint, wirkt die Projektion vom Wasserfall gut, oder?"

Kilian drehte sich erleichtert zur Seite. Fiona saß mit angezogenen Beinen an einen der wenigen Bäume gelehnt, die nicht vollkommen verbrannt und umgekippt waren. Der übrige Spiegel-Wald glich eher einer ausgebrannten Feuerstelle. Das einst so frische Gras war schwarz. Das Haus, in dem sie gewohnt hatte, war zur Hälfte eingebrochen. Rauch stieg aus dem Fenster und der Geruch nach verbranntem Papier lag in der Luft wie ein Schleier.

"Das Feuer hat auch hier gewütet", verstand Kilian plötzlich und spürte einen dicken Kloß im Hals, "weil alles hier reingespiegelt wird. Bloß die heilende Magie des Feuergeistes wurde nicht übertragen. Dein Zuhause ..."

Doch Fiona schüttelte den Kopf. Darius, der tröstlich auf ihrer Schulter gehockt hatte, nickte Kilian zu, als dieser sich neben ihr zu Boden sinken ließ. Dann verschwand er nach draußen zu Enya.

"Das war nicht der Spiegel-Hologramm-Effekt, oder wie auch immer das funktioniert", flüsterte Fiona. Erst jetzt bemerkte Kilian, dass sie ein demoliertes Buch an ihre Brust gedrückt hielt, das sie anscheinend aus dem Haus gerettet hatte.

Ihre Quintessentia.

"Das Feuer hier drinnen hat das Feuer draußen gespürt. Dadurch muss es die Kraft gefunden haben, auszubrechen. Das Wasser ist ebenfalls geflohen, deshalb ist hier alles so nass. Meine letzten beiden Elemente sind weg, und sie haben das Buch zerstört."

Kilian inspizierte erschrocken die unleserliche Quintessentia. Die Seiten waren verbrannt oder durchgeweicht, und als Kilian sie berührte, fiel das Buch auseinander. Er zuckte zusammen.

Ihre übrigen Elemente waren weg.

Und irgendwie war es seine Schuld, weil er das Feuer draußen gerufen hatte.

"Wie geht es dir damit?", fragte er vorsichtig.

Fiona sah hoch, ihm direkt in die Augen. Sie waren getrübt, nicht mehr wie stürmische Wellen, aber auch ohne ein begeistertes Feuer, das in ihrem Inneren geleuchtet hatte. Eher ... blass.

"Wer bin ich ohne die Elemente?", flüsterte sie und ihre Schultern zitterten. "Wer bin ich ohne meine Masken, die allesamt verbrannt sind?"

Kilian wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er nahm ihre Hand und drückte sie leicht. "Ich bin nicht gut in so etwas", gab er zu. "Aber wer warst du vorher, vor alledem?"

Fiona presste die Lippen aufeinander. "Ich weiß es nicht mehr."

Kilian zog sie mit auf die Beine. "Dann finden wir es heraus", schlug er vor und erinnerte sich an Darius Worte. "Gemeinsam. Komm mit uns."

"Nein."

Kilian blinzelte. Sein Herz flatterte unruhiger, als es sollte. "Nein ...?"

Plötzlich lachte Fiona laut los. "Du bist echt leichtgläubig, weißt du das?"

"Was?"

Fiona warf das Buch weg. "Natürlich komme ich mit! Hier liegt alles in Schutt und Asche, hier hält mich sowieso nichts mehr."

Sein Mund klappte auf und wieder zu, erst dann fand er die passenden Worte. "Sollte das ein Witz sein? Darüber macht man doch keine Witze!"

"Tue stets das, womit niemand rechnet." Sie zuckte mit den Schultern und warf sich einen leicht angerösteten Mantel über die Schultern, der anscheinend das Einzige war, was sie vorhatte, mitzunehmen.

"Das war's?", fragte er, sprachlos über ihren Stimmungswandel. "Was ist mit all deinen Sachen, den Erinnerungen, weil du hier so lange gelebt hast?"

Alles war verbrannt. Er könnte niemals so einfach weitergehen.

Fiona neigte nur den Kopf. "Wenn eine Seite im Buch endet, liest du die nächste. Und wenn ein Buch verbrannt ist ... dann folgst du einfach dem nächsten."

"Aber ich habe mein Buch nicht mehr."

"Vielleicht meinte ich das nicht so, wie du es verstanden hast."

"Wie ... ach egal." Er schüttelte den Kopf. Ein Rätsel. Vielleicht musste er es auch nicht verstehen. Denn als er Fiona ansah, bemerkte er eine ganz neue Art des inneren Kampfes, den sie austrug und mit der Leichtigkeit nur zu überspielen versuchte. Doch ihr Kiefer war angespannt und ihre Augen leicht gerötet. Es gab keine Maske, die das verstecken konnte.

Immerhin war es ihr Zuhause gewesen.

"Willst du wirklich nichts mehr mitnehmen?", fragte er sanft.

"Ich denke nicht. Oder doch, warte!"

Sie zählte ihre Schritte und trat an einer bestimmten Stelle auf den Rasen, bevor sie sich blitzschnell zu Boden fallen ließ. Haarscharf über ihr - dort, wo gerade noch ihr Kopf gewesen war - bohrte sich eine Reihe an erschreckend spitzen Pfeilen in den Baum.

Fiona stand auf und klopfte ihren Mantel ab. "Die nehme ich mit."

Sie holte einen Bogen, während Kilian die Pfeile aus dem Baum zog. Die Rinde splitterte leicht und so gelang es ihm schnell. Durch sein Ziehen wackelte der Baum und ein Apfel fiel herab - der einzige, der noch gut aussah.

Er warf ihn in die Luft und fing ihn. Ein Apfel war leicht zu halten.

Als Fiona zurückkehrte, reichte er ihn an sie weiter. "Einer wurde vom Feuer verschont. Zufall?"

Sie nahm ihn mit. "Wer weiß?"

Als sie den Spiegel-Wald verließen, trug sie ein Lächeln im Gesicht. Kilian fand, dass ihr das viel besser stand, als eine hölzerne Maske.

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