20
Genya POV:
Ich starrte auf die Nachricht, die ich gerade von Yuichiro erhalten hatte, und ließ mein Handy langsam sinken. „Muichiro geht also heute nicht zur Schule", murmelte ich. Es fühlte sich irgendwie... falsch an. Ich konnte nicht genau sagen, warum. Aber es machte mich unruhig.
Ich wusste, dass es in letzter Zeit immer schlimmer wurde. Muichiro war nicht mehr derselbe, der er früher war. Er war stiller, abwesender. Oft sah er aus, als würde er in Gedanken versinken und nie wirklich wieder auftauchen. Aber er sprach nie darüber. Kein einziges Wort.
Und jetzt war er beim Arzt? Wurde er etwa wirklich krank? Und warum hatte Yuichiro ihm das Handy in die Hand gedrückt und nicht selbst geschrieben? Es war, als wollte er mir diese Nachricht unterschwellig mitteilen, ohne sich dabei zu offenbaren. Irgendwas stimmte nicht.
Ich seufzte und fuhr mir durch die Haare. „Ich muss mit ihm reden...", murmelte ich dann. „Er kann sich nicht immer verstecken."
Als die Pause kam, ging ich zum Schultor und wartete dort auf Yuichiro. Es dauerte nicht lange, bis er auftauchte – aber er schien genauso nachdenklich wie ich.
„Was ist los mit Muichiro?", fragte ich sofort. Keine Umstände, keine Ausreden.
Yuichiro schüttelte leicht den Kopf. „Du weißt, dass er nicht gerne darüber redet."
„Aber er muss es, Yuichiro! Es wird immer schlimmer!"
„Ich weiß", antwortete er leise, „aber wir können nicht viel tun, wenn er sich nicht helfen lassen will."
Ich ballte die Fäuste. „Warum nicht? Warum tut er sich das an?"
Yuichiro sah mich einen Moment lang an, bevor er einatmete. „Weil er Angst hat. Angst, dass wir ihn anders sehen. Dass du ihn anders siehst."
„Ich sehe ihn nicht anders!" Mein Herz schlug schneller. „Ich... ich will ihm doch nur helfen."
„Das weiß er", sagte Yuichiro ruhig, „aber er fühlt sich, als wäre er eine Last. Und das tut weh, Genya. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer das für ihn ist."
Ich biss mir auf die Lippe und fühlte mich hilflos. Ich wollte Muichiro sagen, dass es in Ordnung war. Dass er nicht allein war. Aber es war alles so viel komplizierter, als ich es mir jemals vorgestellt hatte. „Was passiert jetzt?"
„Ich habe einen Termin mit ihm gemacht", antwortete Yuichiro. „Er wird mit einem Psychiater sprechen. Aber nur, weil ich ihn fast angefleht habe." Er schüttelte sich. „Das war nicht einfach."
Ich nickte, auch wenn ich mir nicht sicher war, was ich denken sollte. Ein Psychiater. Ein Fachmann. Das war vielleicht der einzige Weg, den ich noch sah, aber es fühlte sich auch so an, als würde Muichiro mich von sich abstoßen, als wäre er ein Fremder. Das alles war so verwirrend.
„Ich will, dass er weiß, dass er nicht allein ist", sagte ich, fast zu mir selbst. „Dass wir für ihn da sind."
Yuichiro nickte. „Ich weiß. Aber wir müssen ihm Zeit lassen, Genya. Er wird nicht gleich zu uns kommen und sagen: ‚Ich brauche Hilfe!' Es wird dauern."
„Und was ist, wenn er sich nie öffnet?" Meine Stimme klang rauer als beabsichtigt.
„Dann sind wir da, um ihn zu stützen, auch wenn er uns nicht direkt darum bittet."
Ich seufzte tief und schaute zum Himmel. Ein starker Wind wehte, und ich wünschte mir, ich könnte auch einfach davonfliegen, weit weg von all diesem Chaos. Aber ich wusste, dass ich nicht weglaufen konnte. Nicht von Muichiro. Nicht von ihm.
„Ich werde ihn ansprechen", sagte ich schließlich. „Ich werde ihm sagen, dass er sich mir anvertrauen kann, wann immer er will."
„Das ist der richtige Weg", antwortete Yuichiro und klopfte mir auf die Schulter. „Aber sei geduldig, Genya. Du kannst ihm nicht alles abnehmen, aber du kannst ihm helfen, den Weg zu finden."
Muichiro POV:
Ich saß still in dem kühlen Raum, die Wände schienen sich immer mehr auf mich zuzubewegen. Der Psychiater, der vor mir saß, blickte von seinem Notizblock auf und dann wieder auf mich. Es war irgendwie unangenehm, weil ich nie wirklich verstanden hatte, warum ich überhaupt hier war.
Mama und Papa saßen neben mir, ihre Blicke nervös, als ob sie die Antwort auf eine Frage erwarteten, die sie sich schon lange gestellt hatten. Ich selbst fühlte mich leer, als ob meine Gedanken in einem Nebel versinken würden. Alles war zu viel, zu chaotisch, zu... fremd.
„Muichiro", begann der Psychiater ruhig, „die Symptome, die du zeigst, deuten auf eine psychische Erkrankung hin, und zwar auf eine spezielle Störung namens MPS." Er legte den Stift beiseite und sah mich mit einem ernsten Blick an. „MPS steht für 'Multiple Persönlichkeitsstörung'."
Ich blinzelte. „Was?" Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber es klang nicht gut.
„Es ist eine psychische Erkrankung, bei der eine Person mehrere Persönlichkeiten entwickelt, die oft unbewusst und in Konflikt miteinander stehen", erklärte er weiter. „In deinem Fall, Muichiro, sind die Symptome subtiler, aber sie sind da. Es ist, als ob du dich in verschiedenen Rollen befindest, je nachdem, was in deinem Leben passiert. Du bist mal der ruhige, mal der verspielte, mal der sehr verletzliche Muichiro. Und manchmal hast du das Gefühl, dass du dich selbst nicht mehr erkennst, nicht wahr?"
Ich nickte, obwohl ich nicht sicher war, ob ich es richtig verstand.
„Aber was heißt das genau?" fragte Mama. „Was ist MPS genau? Was können wir tun?"
Der Psychiater nahm sich einen Moment Zeit, um seine Gedanken zu sammeln. „MPS ist eine Störung, bei der eine Person verschiedene Persönlichkeiten entwickelt, um mit traumatischen Erfahrungen oder intensiven emotionalen Belastungen umzugehen. In Muichiros Fall könnten diese verschiedenen Persönlichkeiten die unterschiedlichen Seiten seiner selbst widerspiegeln – der Zwillingsbruder, der ihn immer getröstet hat, der Muichiro, der sich nach Nähe sehnt, der Muichiro, der die Welt in einem Nebel sieht, und so weiter."
„W-was?", murmelte ich. „Das klingt irgendwie... komisch. Das ist nicht normal, oder?"
„Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen mit MPS Schwierigkeiten haben, ihre Identität klar zu erkennen oder sich selbst zu definieren", erklärte der Psychiater ruhig. „Und es kann auch zu heftigen Stimmungsschwankungen kommen, weil sich die verschiedenen Persönlichkeiten oft nicht gut miteinander vertragen. Aber was wichtig ist: Es gibt Behandlungsmöglichkeiten. Mit der richtigen Therapie kann Muichiro lernen, seine verschiedenen Persönlichkeiten besser zu verstehen und zu integrieren, damit sie nicht mehr so stark miteinander in Konflikt geraten."
„Also... ich bin verrückt?" fragte ich, fast flüsternd.
„Nein", sagte der Psychiater schnell. „Das ist eine Erkrankung, keine ‚Verrücktheit'. Du bist nicht verrückt, Muichiro. Du hast einfach Hilfe nötig, um zu lernen, wie du mit dieser Störung umgehst und wie du deine inneren Konflikte lösen kannst."
Ich atmete tief ein und ließ den Atem langsam wieder entweichen. Das war zu viel. Zu viel für meinen Kopf, zu viel für mein Herz. Ich wollte einfach nur verstehen, warum ich so war, wie ich war. Warum sich alles manchmal so seltsam und beängstigend anfühlte.
„Aber warum erst jetzt?", fragte Papa mit besorgter Miene. „Warum hat es so lange gedauert, bis wir es gemerkt haben?"
„Es ist nicht ungewöhnlich, dass solche Störungen sich langsam entwickeln und erst in späteren Jahren auffallen", antwortete der Psychiater. „Vor allem, wenn die Symptome nicht immer offensichtlich sind, wie bei Muichiro. Aber es ist nie zu spät, Hilfe zu bekommen."
Ich sah zu Mama und Papa, und ihre Gesichter waren von Besorgnis gezeichnet. Ich konnte sehen, wie sie versuchten, das Ganze zu verarbeiten, aber irgendwie wusste ich, dass sie sich auch schuldig fühlten. Schuldig, weil sie es nicht früher bemerkt hatten. Ich konnte ihre Schuld in ihren Blicken lesen.
„Also, was nun?", fragte Mama schließlich, ihre Stimme zitterte. „Wie können wir ihm helfen?"
„Der erste Schritt", sagte der Psychiater, „ist, dass Muichiro versteht, was los ist. Er muss lernen, sich selbst zu erkennen und seine inneren Konflikte zu verstehen. Aber das wird Zeit brauchen. Es wird Therapie erfordern, viel Geduld und vor allem Unterstützung von euch allen. Aber er kann es schaffen."
Ich fühlte mich ein wenig erleichtert, aber gleichzeitig überwältigt von allem, was er sagte. Die Vorstellung, dass ich nicht „normal" war, dass etwas in mir nicht stimmte, fühlte sich wie ein schwerer Stein in meiner Brust an. Aber es war irgendwie auch eine Erleichterung zu wissen, dass es einen Namen für das hatte, was mit mir geschah.
„Muichiro", sagte der Psychiater sanft, „du bist nicht allein in diesem. Wir sind hier, um dir zu helfen. Und du kannst das durchstehen."
Ich nickte langsam, auch wenn ich nicht sicher war, ob ich wirklich an diese Worte glaubte. Es war ein Anfang, das wusste ich. Aber wie konnte ich wirklich wissen, was der richtige Weg war? Wie sollte ich wissen, was als Nächstes kommen würde?
Es war ein weiterer schwieriger Nachmittag. Nachdem ich den Arzttermin überstanden hatte, fühlte ich mich irgendwie leer, aber gleichzeitig war da diese seltsame Beruhigung. Es gab endlich eine Erklärung für das, was mit mir los war – doch die Veränderung war immer noch schwer zu begreifen. MPS – Multiple Persönlichkeitsstörung. Aber was bedeutete das wirklich für mich?
Ich versuchte mich abzulenken, indem ich mit Mama und Papa sprach, aber irgendwie schaffte ich es nie, in einem erwachsenen Zustand zu bleiben. Ich fühlte mich ständig wie ein kleines Kind. Mein Kopf war voll von Gedanken, die ich nicht greifen konnte, und die Welt um mich herum schien sich ständig zu verändern. Besonders heute.
„Muichiro, du bleibst heute zu Hause", sagte Mama sanft, als sie bemerkte, dass ich meine Schuhe anzog. „Du bist heute noch nicht ganz du selbst. Und es ist besser, wenn du dich erstmal ausruhst."
Ich wollte widersprechen, wollte zu Genya. Ich vermisste ihn. Aber es war, als ob etwas in mir blockierte. Ich spürte, wie sich mein Körper schwer anfühlte, als ob er nicht mehr so funktionierte, wie er sollte. Also ließ ich es geschehen. Meine Eltern machten sich Sorgen, und das wusste ich. Ich konnte ihnen nicht wirklich helfen, das alles zu verstehen, was in mir vorging.
„Aber ich will zu Genya...", flüsterte ich leise.
„Genya muss warten, Muichiro. Du brauchst heute deine Ruhe", sagte Papa ruhig. „Wir müssen dir helfen."
Ich nickte, aber es war nicht wirklich einverstanden. Genya hatte mir so viel bedeutet, und er hatte mich immer wieder aus meinen dunklen Momenten gezogen. Doch heute schien es so, als ob alles gegen mich war.
Stattdessen schlenderte ich langsam durch das Haus, als würde ich ziellos durch mein eigenes Leben wandern. Der Nachmittag zog sich in die Länge, und ich fühlte mich immer mehr wie ein kleines Kind, das nicht wusste, was es tun sollte. Es war alles verwirrend.
Yuichiro war der Nächste, der ins Visier geriet. Er saß auf dem Sofa und starrte auf sein Handy, als ich mich leise auf ihn zuschlich. Plötzlich kroch ich auf seinen Schoß. Es fühlte sich irgendwie sicherer an, als ich mich in seinen Armen vergrub. Er zuckte etwas zusammen, als ich mich einfach niederließ und meinen Kopf gegen seinen Bauch drückte.
„Muichiro?", fragte er, doch seine Stimme war weich. Er streichelte meinen Kopf, wie er es früher immer getan hatte, wenn ich nicht schlafen konnte. „Was ist los mit dir?"
Ich wusste es selbst nicht wirklich. Es war, als ob mein Inneres nach etwas suchte, das ich nicht benennen konnte. Etwas, das mich tröstete.
„Ich will einfach bei dir sein", flüsterte ich, die Worte kamen einfach, ohne dass ich wirklich nachdachte.
„Aber du musst lernen, auch mal alleine klarzukommen, Muichiro", sagte Yuichiro leise, doch seine Stimme war nicht schroff, sondern beruhigend. „Es ist nicht immer gut, sich so an mich zu klammern."
„Ich kann nicht... Ich... ich fühl mich so komisch", murmelte ich und schloss die Augen. „Ich will nicht alleine sein."
Yuichiro seufzte tief und strich mir weiter sanft über den Kopf. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das nach einer Beruhigung suchte. Meine Gedanken waren ein heilloses Durcheinander. Ich wollte Genya, aber gleichzeitig war ich zu ängstlich, mich von Yuichiro zu entfernen.
„Es ist okay, Muichiro. Du bist nicht alleine", sagte er sanft. „Ich bin hier. Aber du musst verstehen, dass das, was du gerade durchmachst, nicht einfach so verschwinden wird. Du kannst nicht immer an jemanden hängen, wenn du Angst hast."
Ich fühlte mich, als ob ich nicht mehr wusste, was richtig war. Das war nicht das Leben, das ich mir vorgestellt hatte. Aber es war das Leben, das mich jetzt umgab – und ich fühlte mich zu schwach, um zu kämpfen. Ich wollte einfach nur noch, dass alles wieder normal wird. Doch in meinem Inneren wusste ich, dass das nie wieder der Fall sein würde.
„Ich kann nicht..." flüsterte ich und schüttelte schwach den Kopf. „Ich fühl mich wie... ein Baby..."
„Muichiro, das ist keine Schwäche", sagte Yuichiro, und ich hörte einen Hauch von Mitleid in seiner Stimme. „Das, was du durchmachst, ist schwer. Und es ist okay, Hilfe zu brauchen. Aber du musst auch lernen, dich selbst zu unterstützen. Ich werde immer für dich da sein, aber du musst lernen, was mit dir passiert."
Ich war zu verwirrt, um zu antworten. Es fühlte sich alles so an, als ob ich auf einem falschen Weg war. Eine Seite von mir wollte nicht mehr, dass Yuichiro mich so behandelte, als ob ich ein Kind wäre. Doch die andere Seite, die mich immer mehr übernahm, brauchte genau das – die Geborgenheit, die nur er mir geben konnte.
„Ich will nicht alleine sein", murmelte ich erneut und schloss die Augen. „Ich will, dass alles normal wird. Aber... ich weiß nicht, wie..."
Yuichiro schwieg einen Moment lang, dann flüsterte er: „Ich weiß, Muichiro. Aber du wirst es lernen. Langsam, Schritt für Schritt. Und ich werde dich auf diesem Weg begleiten."
Trotz seiner beruhigenden Worte fühlte ich mich wie in einem riesigen, schwarzen Loch gefangen. Nichts schien jemals wieder klar zu werden. Und während ich mich weiterhin in Yuichiros Armen an ihn klammerte, war ich mir nicht sicher, ob ich jemals den Weg zurück zu dem finden würde, was ich „normal" nannte.
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