18

Genya POV:

Es war nach einem dieser wirklich anstrengenden Tage. Die Klasse der 3H war wie ein Hurrikan durch unsere Schule gezogen, und Muichiro... nun, er hatte sich wieder einmal sehr auffällig benommen. Ich hatte schon lange den Verdacht, dass mit ihm etwas nicht stimmte, aber heute fühlte es sich anders an. Irgendwie war alles intensiver.

Als wir endlich das Schulgebäude verließen, drehte er sich zu mir, seine Augen voller Zuneigung. Ich hatte den Eindruck, dass er mich ganz anders ansah als sonst. Fast so, als wollte er etwas festhalten, etwas, das er sich nicht entgehen lassen wollte.

„Genya", murmelte er, und ich sah, wie sich seine Miene verdunkelte, als würde er mit sich selbst kämpfen. Dann, ohne Vorwarnung, zog er mich zu sich und küsste mich. Es war kein flüchtiger Kuss, wie der, den er mir oft gab – es war leidenschaftlich, wie ein verzweifelter Versuch, mich festzuhalten, als würde er befürchten, dass ich gleich verschwinden könnte.

Ich war völlig überrascht. „Muichiro...", flüsterte ich, doch er unterbrach mich mit einem weiteren Kuss.

Als er sich endlich von mir löste, stand er da, atmete schnell und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Dann – und das kam völlig unerwartet – sprang er auf und rannte los, ohne ein weiteres Wort. „Ich gehe zu Yuichiro!", rief er noch über die Schulter, bevor er in die Richtung verschwand, in der sein Zwillingsbruder wartete.

Ich stand da, völlig perplex, und starrte ihm hinterher. Mein Herz pochte schneller als normal, und ich konnte das Knistern zwischen uns noch immer auf meiner Haut spüren. Aber es war mehr als nur Aufregung. Etwas an diesem Verhalten hatte mich beunruhigt.

Muichiro war nicht der Typ, der so übertrieben wirkte. Er war in seiner Art immer ein bisschen... zerbrechlich, aber dieser Kuss, dieses Verlassen seiner eigenen Gefühle für einen Moment – das war etwas anderes. Und dann das plötzliche Rennen zu seinem Bruder, als ob er Angst hatte, etwas zu verlieren.

Ich atmete tief ein und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Aber es war, als hätten sich alle Puzzleteile in meinem Kopf plötzlich zu einem Bild zusammengefügt.

Ich hatte immer noch das Gefühl, dass irgendetwas mit Muichiro nicht stimmte. Manchmal war er so unberechenbar in seiner Art, und andere Male verhielt er sich fast kindlich. Aber ich wollte nicht zu viel hineininterpretieren. Was, wenn ich mich täuschte? Was, wenn es einfach nur ein komisches Gefühl war, das ich gerade hatte?

Doch je mehr ich nachdachte, desto mehr wurde mir klar: Muichiro zeigte Symptome von etwas, das er nicht verstand – und ich wusste, dass ich ihm helfen musste. Aber was, wenn er es nicht akzeptieren würde? Was, wenn ich ihm den Spiegel vorhalten müsste und er dann... weglief?

Ich seufzte und machte mich langsam auf den Weg zu meinem eigenen Ziel. Doch mein Blick fiel erneut auf den Ort, an dem Muichiro verschwunden war. Es schmerzte irgendwie, zu wissen, dass er mit dieser Last alleine war. Aber ich konnte nicht einfach immer nur auf ihn warten. Wenn er nicht bereit war, sich Hilfe zu holen, konnte ich ihm nicht wirklich helfen. Und das war vielleicht das Frustrierendste daran – dass ich ihm nicht mehr als das geben konnte, was er bereit war, zu akzeptieren.

Als ich die Gedanken beiseite schob und mich in den Rest des Schultages stürzte, konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass heute etwas anderes war. Irgendetwas war bei Muichiro anders. Und es war mir klar, dass er entweder schon längst von seinen eigenen Dämonen überwältigt wurde – oder er war gerade auf dem besten Weg dorthin.

Ich konnte nur hoffen, dass er irgendwann den Mut finden würde, sich den Problemen zu stellen, bevor sie ihn ganz einnahmen.

Muichiro POV:

Ich wusste nicht, was mit mir los war. Alles fühlte sich plötzlich so fremd an, als wäre ich nicht ganz ich selbst. Und dann, ohne Vorwarnung, fing ich an zu weinen. Es war nicht dieses leise, unauffällige Weinen, das man unterdrücken konnte. Nein. Es war ein hässliches, schluchzendes, verzweifeltes Weinen.

Ich klammerte mich an Mama, so wie ich es früher als kleines Kind getan hatte. „Mama...", murmelte ich zwischen den Schluchzern. „Ich hab Angst..."

Mama strich mir beruhigend über den Kopf. „Alles ist gut, mein Schatz. Ich bin hier."

Aber es war nicht gut. Gar nichts war gut. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er in tausend Teile zerfallen. Ich wusste nicht mal, warum ich so fühlte. Es war einfach so.

Papa beobachtete mich besorgt. „Muichiro, was ist los?", fragte er, und ich konnte hören, dass er sich Mühe gab, ruhig zu bleiben.

Ich konnte nicht antworten. Ich wusste es selbst nicht.

Yuichiro stand in der Ecke und sah mich mit einer Mischung aus Mitgefühl und Schuld an. Er wusste, was hier los war. Er war der Einzige, vor dem ich diese Ausbrüche jemals hatte. Ich hatte immer geglaubt, dass er mein sicherer Hafen war. Dass er mich verstand, ohne dass ich es erklären musste.

„Yuichiro", wandte sich Mama an ihn, während sie mich weiter in den Armen hielt. „Weißt du, was mit Muichiro los ist?"

Yuichiro versteifte sich sofort. Ich sah, wie er sich unbewusst auf die Lippen biss. „Ähm..."

Papa runzelte die Stirn. „Yuichiro. Wie lange geht das schon so?"

Er wich ihrem Blick aus. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er innerlich kämpfte. Er hatte mir versprochen, niemandem etwas zu sagen. Und mein Bruder hielt seine Versprechen.

„Nicht lange", sagte er schließlich. Aber ich wusste, dass das eine Lüge war.

Papa ließ nicht locker. „Wie lange genau, Yuichiro?"

Mein Bruder sah mich an. In seinen Augen lag dieser Konflikt, diese Unsicherheit. Und dann... senkte er den Blick.

„Schon ein paar Jahre", murmelte er schließlich.

Mama erstarrte. Papa zog scharf die Luft ein.

„Yuichiro!", fuhr Mama ihn an. „Warum hast du uns nie etwas gesagt?!"

„Weil er mich darum gebeten hat!", schoss Yuichiro zurück.

Stille.

Niemand wusste, was er darauf sagen sollte.

Ich spürte, wie sich mein Körper an Mama drückte, als wäre ich wieder vier Jahre alt. Ich wollte einfach nur verschwinden.

Papa seufzte tief und fuhr sich durch die Haare. „Das ist nicht normal, Muichiro", sagte er schließlich sanft. „Vielleicht sollten wir... vielleicht wäre es gut, wenn wir jemanden fragen, der sich mit so etwas auskennt."

Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Ihr wollt mich zu einem Psychiater schicken?!"

Mama streichelte meine Wange. „Schatz, wir machen uns einfach Sorgen. Du verhältst dich anders in letzter Zeit."

„Ich bin doch nicht krank!", schrie ich, bevor ich mich aus ihrem Griff befreite und aus dem Raum rannte.

Ich wusste, dass sie mir nichts Böses wollten. Aber ich wollte es einfach nicht hören. Ich wollte nicht, dass sie mich für... kaputt hielten.

Denn tief in mir drin wusste ich es schon längst. Ich war nicht mehr ich selbst. Vielleicht war ich das auch nie gewesen.

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