06
Genya POV:
Der nächste Tag war die Hölle. Ich hatte kaum geschlafen, weil mir dieser blöde Kuss und Muichiros Ohrfeige ständig durch den Kopf gingen. Ich konnte einfach nicht anders, als darüber nachzudenken, wie sehr ich es vermasselt hatte. Aber ich war kein Feigling. Ich musste mit ihm reden, egal, ob er mich erneut ohrfeigen würde.
Als ich ihn vor seiner Schule stehen sah, beschleunigte ich meinen Schritt. Bevor ich nachdenken konnte, hatte ich ihn schon gegen die Wand gedrückt. Nicht aggressiv, eher verzweifelt.
„Muichiro, hör mir zu! Ich muss mit dir reden!"
Er sah mich an. Diese eiskalten cyanfarbenen Augen durchbohrten mich förmlich. Es tat weh – nicht physisch, sondern tief in meiner Brust. Dieser Blick sagte: Ich will nichts mit dir zu tun haben.
„Was willst du?" Seine Stimme war genauso kalt wie sein Blick.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen – irgendwas –, doch bevor ich auch nur ein Wort herausbrachte, fühlte ich plötzlich einen scharfen Schmerz in meinem Bauch. Ich keuchte und stolperte zurück, hielt mir die Stelle, wo der Tritt mich getroffen hatte.
„Lass ihn in Ruhe", knurrte eine Stimme, die fast genauso klang wie Muichiros – nur tiefer und viel wütender.
Ich sah auf und erkannte den Jungen sofort. Yuichiro. Muichiros älterer Zwillingsbruder. Natürlich. Er hatte mich noch nie ausstehen können.
„Was machst du hier, Genya?" fragte er, und sein Ton war alles andere als freundlich. „Hast du nicht schon genug Ärger verursacht?"
„Yuichiro, das ist nicht, was du denkst", stammelte ich und hielt die Hände hoch, um zu zeigen, dass ich keine Gefahr war. „Ich wollte nur mit Muichiro reden. Ehrlich!"
„Ach ja?" Yuichiro trat einen Schritt auf mich zu, und ich konnte sehen, dass er die Fäuste ballte. „Weil dein Kuss gestern so super bei ihm angekommen ist, oder? Du bist echt unglaublich, Genya."
„Yuichiro, hör auf", murmelte Muichiro, aber seine Stimme war leise, fast widerwillig.
„Warum sollte ich?" Yuichiro sah seinen Bruder an. „Er hat dich gestern einfach geküsst, ohne zu fragen. Und jetzt taucht er hier auf und bedrängt dich wieder. Ich lasse das nicht zu."
„Ich bedränge ihn nicht!" Ich hob die Stimme, aber das schien keine gute Idee zu sein, denn Yuichiros Blick wurde noch finsterer.
„Du solltest besser verschwinden, bevor ich die Geduld verliere", sagte er gefährlich leise.
„Hör auf, Yuichiro", wiederholte Muichiro, diesmal etwas lauter. „Ich kann selbst auf mich aufpassen."
Yuichiro schnaubte. „Ach ja? Das sah gestern aber anders aus."
Ich wusste, dass ich besser hätte verschwinden sollen, aber ich konnte nicht. Ich musste das klären.
„Muichiro, bitte. Ich wollte mich entschuldigen", sagte ich und sah direkt in seine Augen.
„Entschuldigen?" Muichiro zog eine Augenbraue hoch. „Wofür genau?"
„Für... für alles. Für den Kuss. Für den Ärger. Ich wollte dich nicht verletzen oder wütend machen."
Er sah mich lange an, und ich hatte das Gefühl, dass er mich förmlich durchleuchtete. Schließlich seufzte er.
„Genya, du bist wirklich anstrengend."
„Tut mir leid."
„Ich habe nicht gesagt, dass du gehen sollst."
Yuichiro warf ihm einen überraschten Blick zu. „Was? Willst du jetzt etwa mit ihm reden?"
„Ja, will ich", sagte Muichiro ruhig. „Aber nicht hier. Komm mit, Genya."
Yuichiro sah aus, als wollte er protestieren, aber Muichiro schüttelte den Kopf. „Du kannst uns nicht ewig wie ein Wachhund verfolgen."
Ich warf Yuichiro einen unsicheren Blick zu, bevor ich Muichiro folgte. Mein Herz raste. Hatte ich jetzt tatsächlich eine Chance, das wieder geradezubiegen?
Muichiro POV:
Ich seufzte innerlich, während ich Genya und Yuichiro zu unserer Lieblingsbank führte. Die Bank stand etwas abseits, mit guter Sicht auf den Sportplatz der Oberschule nebenan. Von hier aus hatte Yuichiro oft seine kleinen „Spionagemissionen" gestartet – ob es darum ging, Schüler beim Streit zu beobachten oder, na ja, Oberschülerinnen in der Umkleide.
Ich hätte ihm dafür regelmäßig den Kopf waschen sollen, aber irgendwie brachte ich es nie übers Herz. Es war Yuichiro. Er konnte mir fast alles durchgehen lassen, und ich ihm ebenso. Er sagte immer, dass ich viel zu gutmütig war, und vielleicht hatte er recht. Für ihn war ich „der Engel der Familie".
„Also, was ist jetzt? Warum stalken wir den da?" Yuichiro zeigte mit einem Daumen auf Genya, der mit verschränkten Armen vor der Bank stand und unsicher zwischen uns hin- und hersah.
„Wir stalken niemanden", sagte ich trocken und setzte mich auf die Bank. „Wir reden. Oder ich rede mit ihm, und du hältst dich raus."
„Pff, so ein Spaßverderber", murmelte Yuichiro, ließ sich aber auf die Bank fallen und zog sein Handy hervor.
Genya schien nicht genau zu wissen, wohin mit sich, und stand einfach weiter da.
„Setz dich, Genya", sagte ich und deutete auf die Bank.
„Äh, ja... okay." Er ließ sich neben mich sinken, aber hielt respektvollen Abstand. Wahrscheinlich aus Angst, dass ich ihn wieder ohrfeigen würde.
Ich lehnte mich zurück und musterte ihn kurz. „Also, was wolltest du gestern eigentlich von mir?"
Genya sah nervös aus. „Ich... wollte mich entschuldigen. Wegen des Kusses. Und wegen allem anderen."
„Mhm", machte ich und verschränkte die Arme. „Das hast du ja heute Morgen schon gesagt. Aber was genau wolltest du damit erreichen? Einfach nur entschuldigen?"
Er schluckte und wich meinem Blick aus. „Ich weiß nicht... vielleicht... wollte ich, dass du mich verstehst."
„Verstehen?" Ich zog eine Augenbraue hoch. „Verstehen, dass du mich einfach so küsst, ohne zu fragen?"
Yuichiro kicherte leise, ohne von seinem Handy aufzusehen. „Harte Nummer, Genya. Wirklich. Du hast dir echt den falschen Engel ausgesucht."
Ich ignorierte ihn. Genya sah aus, als würde er am liebsten im Boden versinken.
„Es tut mir wirklich leid", sagte er schließlich und sah mich endlich wieder an. „Ich... ich hab's vermasselt. Aber ich hab dich nie vergessen, Muichiro. Nie."
Seine Worte trafen mich irgendwie. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Stattdessen blickte ich in seine braunen Augen, die einen Hauch von Traurigkeit und Verzweiflung hatten.
„Du bist echt stur, weißt du das?" sagte ich schließlich und schüttelte leicht den Kopf.
„Ich weiß", murmelte er und lächelte schwach. „Aber... ich meine es ernst. Ich hab's wirklich vermasselt. Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich—"
„Okay, Stopp!" rief Yuichiro plötzlich und hielt sein Handy wie eine Kamera in unsere Richtung. „Wenn das hier in Richtung Liebesgeständnis geht, dann will ich das festhalten. Für die Nachwelt. Oder für TikTok."
„YUICHIRO!" Ich schrie ihn an und schnappte mir das nächstbeste, was ich fand – einen kleinen Ast –, und warf es nach ihm.
„Hey, hey, hey! War doch nur Spaß!" rief er und duckte sich, das Handy schützend vor sich haltend. „Aber ernsthaft, Muichiro, der Typ ist Hals über Kopf in dich verknallt. Denkst du, das merkt man nicht?"
Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg, und drehte mich abrupt wieder zu Genya um, der aussah, als wollte er sich direkt vom Sportplatz stürzen.
„Sag nichts", knurrte ich Yuichiro zu, bevor ich mich wieder Genya zuwandte. „Und du... du solltest besser wissen, worauf du dich einlässt. Ich bin nicht einfach."
Genya nickte eifrig. „Ich weiß, aber... ich will's versuchen. Ich geb nicht auf."
„Das klingt nach einem Problem", murmelte ich und sah ihn mit einem leichten Lächeln an. „Aber gut. Ich werd's mir überlegen."
Yuichiro stieß einen lauten Lacher aus. „Das hier wird mein neues Lieblingsdrama. Ich liebe es."
Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Mein Bruder war wirklich unmöglich. Und Genya? Na ja... vielleicht war er wirklich stur genug, um es zu schaffen.
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