02
Genya POV:
In der Mittagspause saß ich im Park neben der Schule, mein Mittagessen in der Hand, und beobachtete die Umgebung. Ich hatte immer noch diesen Gedanken im Kopf – dieses Mädchen mit ihrer Ohrfeige. Der Abdruck war zwar längst verschwunden, aber der Stolz? Der saß noch tief. Ich wollte es ihr unbedingt heimzahlen. Was bildete sie sich ein?
Da sah ich sie. Sie saß allein auf einer Bank unter einem Baum, das Licht fiel durch die Blätter und tanzte auf ihrem Gesicht. Sie hielt ein Buch in der Hand, ein Notizbuch vielleicht, und kritzelte etwas hinein. Kein Lachen, keine Freundinnen, kein typisches Mädchengeklimper um sie herum. Ich hielt kurz inne. Warum saß sie allein? Normalerweise waren Mädchen doch immer in Grüppchen unterwegs, quatschten, lachten oder kicherten – irgendwas halt. Aber sie... sie saß da, als würde sie die ganze Welt ignorieren.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Jetzt oder nie, Genya, dachte ich. Also stand ich auf und ging langsam auf sie zu, meine Schuhe knirschten leise auf dem Kiesweg. Doch als ich näher kam und sie aufsah, blieb ich wie angewurzelt stehen.
Ihre Augen. Diese cyanblauen Augen. Groß, klar und... fast traurig. Ich schluckte. Diese Augen kamen mir seltsam bekannt vor. Nicht nur ihre Augen – irgendetwas an ihr erinnerte mich an jemanden. Jemanden, den ich vor Jahren kannte. Einen Freund. Nein, einen besten Freund.
„Muichiro...?" entfuhr es mir, bevor ich es stoppen konnte.
Das Mädchen – nein, der Junge – blinzelte mich an, runzelte dann die Stirn und schob sein Buch zu. „Ja, das bin ich. Und wer bist du?" fragte er, und seine Stimme klang kühl, beinahe distanziert.
Mein Herz setzte aus. Es war wirklich er. Der Junge, mit dem ich früher jeden Tag verbracht hatte. Der Junge, mit dem ich damals alles geteilt hatte. Der Junge, der mein bester Freund gewesen war, bevor wir den Kontakt verloren hatten. Wie konnte ich ihn nicht sofort erkannt haben? Aber wie sollte ich auch? Er sah so anders aus, so viel reifer, aber gleichzeitig so zerbrechlich.
„Ich... ich bin Genya," brachte ich schließlich hervor, und meine Stimme klang leiser, als ich wollte. „Genya Shinazugawa. Erinnerst du dich nicht an mich?"
Er starrte mich an, seine Stirn immer noch leicht gerunzelt. Dann zog er die Augenbrauen zusammen, als würde er angestrengt nachdenken. „Genya...? Der Genya?" fragte er langsam, aber in seiner Stimme lag keinerlei Freude, kein Anflug von Wiedererkennen.
„Ja, genau der!" Ich versuchte zu lächeln, auch wenn sich mein Magen vor Nervosität zusammenzog. „Wir waren doch... damals, als wir klein waren, beste Freunde, weißt du noch? Wir haben immer zusammen gespielt und..."
„Ach so", unterbrach er mich, und mein Herz sackte in die Tiefe. Seine Stimme war kühl und emotionslos. „Ja, ich erinnere mich vage. Du warst der Junge, der immer von seinem großen Bruder erzählt hat, oder?"
Ich nickte langsam. „Ja, das war ich."
„Hm." Mehr kam nicht von ihm. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich an, als wäre ich irgendein Fremder, der ihn gerade angesprochen hatte. „Und was willst du jetzt von mir?"
Seine Worte trafen mich härter als ich erwartet hatte. War das alles? War ich ihm wirklich so egal geworden? Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und zwang mich, ruhig zu bleiben.
„Ich... ich hab dich einfach gesehen und dachte, ich sag mal Hallo," sagte ich schließlich und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. „Es ist schon so lange her, weißt du? Ich dachte, wir könnten vielleicht reden oder... so."
Muichiro zuckte mit den Schultern. „Wir haben nichts mehr gemeinsam, Genya", sagte er schlicht. „Das war vor Jahren. Die Vergangenheit ist vorbei."
„Aber..." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Kopf war leer, und mein Herz schmerzte bei jedem seiner Worte. „Wir waren doch... Freunde."
„Freunde kommen und gehen." Er sagte das so nüchtern, als wäre es eine einfache Tatsache.
Ich wollte protestieren, wollte ihn fragen, warum er so kalt war, aber ich konnte nicht. Etwas an seinem Blick, an seiner Haltung, ließ mich innehalten. Ich wusste nicht, was er in den Jahren, in denen wir uns nicht gesehen hatten, durchgemacht hatte, aber irgendetwas war passiert. Irgendetwas hatte ihn verändert.
„Hör zu", sagte er schließlich und stand auf. „Ich weiß nicht, was du von mir erwartest, aber ich bin nicht mehr der, den du damals kanntest. Wenn du denkst, dass wir da weitermachen können, wo wir aufgehört haben, dann täuschst du dich."
Er ging an mir vorbei, ohne noch einmal zurückzublicken. Ich blieb wie versteinert stehen und starrte ihm nach, bis er verschwunden war.
Mein Herz fühlte sich an, als wäre es in tausend Stücke zerbrochen. Ich hatte gehofft, ihn wiederzufinden, gehofft, dass wir wieder Freunde werden könnten. Aber das war wohl nur ein dummer Traum gewesen.
Trotzdem konnte ich ihn nicht vergessen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir eines: Ich hatte mich in ihn verliebt. In den kalten, distanzierten, unerreichbaren Muichiro Tokito. Und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.
Muichiro POV:
Ich sah Genya eiskalt an, obwohl mein Herz einen Moment lang schmerzte. Seine Augen suchten verzweifelt nach etwas – vielleicht nach einem Funken der alten Vertrautheit, die wir einst geteilt hatten. Aber ich konnte mich nicht erweichen lassen. Nicht nach all den Jahren. Nicht nach allem, was passiert war.
Mit einer ruhigen Bewegung klappte ich mein Notizbuch zu, packte es in meine Tasche und stand auf. „Wir haben nichts mehr zu besprechen, Genya," sagte ich kühl, meine Stimme fest, aber leise. Ohne auf seine Reaktion zu warten, drehte ich mich um und ging.
Doch kaum hatte ich ein paar Schritte gemacht, spürte ich, wie meine Augen sich mit Tränen füllten. Ich biss mir auf die Lippe, um das Zittern zu unterdrücken, aber es war zwecklos. Eine einzelne Träne rann meine Wange hinunter, dann eine zweite. Ich konnte nichts dagegen tun. Warum jetzt? Warum musste er ausgerechnet jetzt wieder auftauchen?
Ich habe dir Briefe geschrieben, Genya. Täglich. Jeden Tag nach dem Umzug habe ich dir geschrieben. Ich habe dir angerufen. Ich habe Nachrichten geschickt. Aber du hast nie geantwortet. Kein einziges Mal.
Die Gedanken wirbelten in meinem Kopf, während ich schneller ging, als könnte ich vor den Erinnerungen davonlaufen. Doch plötzlich spürte ich Arme, die mich von hinten umschlangen, und ich blieb wie angewurzelt stehen.
„Warte!" rief Genya, seine Stimme rau und voller Dringlichkeit. „Lass mich nicht einfach so stehen, Muichiro! Ich... ich kann das nicht so stehen lassen!"
Ich stockte, aber nur für einen Moment. Dann begann ich mich zu wehren. „Lass mich los!" zischte ich und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. „Was fällt dir ein? Was willst du von mir?!"
Aber er hielt mich fest, ließ mich nicht los, egal wie sehr ich mich wand. „Ich will mit dir reden!" rief er, seine Stimme zitterte, aber sein Griff blieb fest. „Bitte, hör mir zu! Ich... ich wusste nicht, was ich tun sollte, als du weg warst! Ich war ein verdammter Idiot, okay?! Aber jetzt bist du hier, und ich will nicht, dass es wieder so endet!"
„Du hast mich ignoriert!" schrie ich, meine Stimme brach vor Wut und Schmerz. „Ich habe dir geschrieben, Genya! Jeden verdammten Tag! Ich habe dich angerufen! Aber du hast mich vergessen, als wäre ich dir egal! Also warum solltest du jetzt plötzlich Interesse haben?!"
Er schwieg für einen Moment, und ich spürte, wie seine Hände ein wenig zitterten. Dann sprach er leise, fast flehend: „Ich habe die Briefe nie bekommen, Muichiro..."
Seine Worte ließen mich innehalten. „Was?" flüsterte ich, mein Atem ging flach.
„Meine Mutter... sie hat sie weggeworfen," sagte er mit gebrochener Stimme. „Jedes Mal, wenn ein Brief ankam, hat sie ihn weggeworfen, weil sie dachte, es wäre besser so. Sie wollte nicht, dass ich an dir hänge, weil sie dachte, ich sollte lernen, alleine klarzukommen. Ich wusste nichts davon, bis es zu spät war."
Ich drehte mich langsam zu ihm um, meine Augen suchten seine, während ich nach Worten rang. Seine Hände ruhten immer noch auf meinen Schultern, aber sein Griff war jetzt sanfter.
„Du... hast sie nie gelesen?" fragte ich leise, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Er schüttelte den Kopf. „Nie. Aber ich hätte kämpfen sollen. Ich hätte nach dir suchen sollen, hätte... hätte mehr tun sollen." Seine Stimme brach, und er sah mich an, seine Augen voller Reue. „Es tut mir leid, Muichiro. Ich habe einen Fehler gemacht. Einen riesigen Fehler."
Ich wollte ihm nicht glauben. Ich wollte ihn anschreien, ihn wegstoßen und ihn nie wieder sehen. Aber sein Blick... Es war, als würde ich wieder den Jungen sehen, der damals mein bester Freund war. Der Junge, der mich zum Lachen gebracht hatte, der immer für mich da war.
„Es ist nicht so einfach, Genya," sagte ich schließlich, meine Stimme zitterte, aber ich hielt seinen Blick stand. „Du kannst nicht einfach auftauchen und erwarten, dass alles wieder wie früher ist."
„Das tue ich auch nicht," sagte er leise. „Ich weiß, dass ich das nicht verdiene. Aber ich will es wieder gutmachen. Egal wie lange es dauert."
Ich sah ihn lange an, unsicher, was ich fühlen sollte. Dann wandte ich mich ab und wischte mir die Tränen von den Wangen. „Wir werden sehen," murmelte ich. „Aber erwarte nicht zu viel."
Er nickte, und ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. „Mehr will ich nicht, Muichiro. Nur eine Chance."
Ich ging davon, mein Herz schwer, aber ein kleiner Teil von mir fühlte sich leichter. Vielleicht... vielleicht war es noch nicht zu spät.
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