Kapitel 32: Zwischen Scham und Stolz
Schon wieder. Schon wieder hing er über der Kloschüssel und krampfte sich bei jedem neuen Würgen zusammen. Und jeder Ruck verstärkte den verdammten Presslufthammer in seinem Kopf. Sein Magen war ein einziges Chaos, dabei hatte er noch immer nichts gegessen, was wieder heraus wollen könnte.
Marcs guten Pullover hatte er vor der letzten Runde ausgezogen, weil seine Haut kribbelte, aber das half kaum und er schwitze unaufhörlich in sein Shirt.
Scheiße, was war das nur? Etwa das Meth? Ein weiterer Grund, dieses Zeug nie wieder auch nur anzusehen.
Völlig erledigt ließ er sich gegen den Wannenrand sinken, aber jetzt war die Klospülung meilenweit weg. Auch das übernahm Marc für ihn, nachdem er ihm einen nassen Lappen zum Abkühlen in die Hand gedrückt hatte.
»Danke.«
Seine Stimme war ein raues Kratzen und kaum hörbar. Er selbst war eine absolut glanzlose Erscheinung, die man besser versteckte. Als er sich den Waschlappen einfach vors Gesicht hielt, kam sein Gastgeber ihm noch einmal entgegen, indem er die Deckenleuchte ausschaltete und dafür das kleine Lämpchen am Spiegelschrank anknipste.
Oh, das war schon viel besser. Aber wenn das so weiterging, würde er hier auf dem Läufer schlafen. In Reichweite der Schüssel.
Marc war derart verständnisvoll, dass er ihm wahrscheinlich auch das noch etwas angenehmer gemacht hätte, selbst wenn er dafür beim Nachbarn aufs Klo gehen müsste.
»Tut mir leid«, murmelte Rico erneut. »Ganz ehrlich. Das muss dich tierisch nerven.«
»Nicht doch.« Er hob nur kurz den Blick von seinem Handy und selbst in der unvorteilhaften Displaybeleuchtung war sein Ausdruck freundlich. »Ich frage mich nur, ob Fasten in deiner Situation das Richtige ist.«
»Ich kriege nichts runter.«
Dafür aber umso schneller wieder raus.
»Abwarten. Wenn sich dein Magen etwas beruhigt hat, versuchen wir mal eine Kleinigkeit. Hm?« Rico nickte, um ihm ein wenig entgegenzukommen, war sich aber längst nicht sicher, ob er das vertragen würde. »Darf ich fragen, was du genommen hast?«
»Eine Menge Gras«, gab er zu. Einen Augenblick später fügte er beschämt hinzu: »Und Crystal.«
»Meth?« Marc war ehrlich überrascht. »Oh, wow. Und warum das?«
Er wollte sich gerade wirklich nicht unterhalten, denn seine Zunge war schwer und irgendwie belegt, aber vor allem deswegen nicht, weil er nicht an gestern denken wollte. Er senkte nur den Blick und Marc verstand.
Weder kommentierte noch bewertete er seine Blödheit, wohl aus reiner Nettigkeit, aber er sah Marc an, dass er dafür kein Verständnis aufbringen konnte. Im Grunde hatte er recht damit und auch Rico wusste, dass es nicht die Lösung war.
Seine Probleme waren immer noch sehr präsent und jetzt noch um ein Vielfaches größer. Sie waren kein bisschen erträglicher geworden, oh nein. Er war doch nicht blöd, er wusste, dass das so nicht funktionierte. Dass es nur ein kurzer Aufschub war. Aber gestern war ihm alle Vernunft abhanden gekommen, nachdem ...
Als er erneut zu weinen anfing, kam Marc zu ihm herüber, setzte sich wortlos neben ihn und legte wieder einen Arm um ihn, um ihn aufzufangen, wenn es nötig wäre.
»Mein Bruder hatte einen Unfall. Ein Auto hat ihn angefahren. Er ist erst sieben.«
»Meine Güte, Rico, das tut mir leid.«
Aber der schüttelte nur den Kopf. »Es war meine Schuld. Ich sollte auf ihn aufpassen.«
Zwischen heftigen Schluchzern erzählte er ihm von dem Streit mit seiner Mutter und wie wütend sie auf ihn war, auch dass sie ihm ebenfalls die Schuld daran gab und dass er vor lauter Angst und Schuldgefühlen weggelaufen war. Und von seinem anschließenden Besuch bei Joe, der ihm das Zeug angeboten hatte. Was in der Nacht geschehen war, verschwieg er.
»Das klingt für mich nach einem Unfall. Deine Mutter weiß das, aber natürlich hat sie das mitgenommen«, fasste Marc kurz für ihn zusammen. »Wie geht es deinem Bruder jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Gestern hat sie sich nicht mehr gemeldet und heute Morgen habe ich mein Handy bei Joe vergessen.«
Sein Trostpflaster verkniff sich die Korrektur der Tageszeit, denn begegnet waren sie sich lange nach dem Mittag. Aber was er wirklich alarmierend fand, musste er einfach ansprechen.
»Deine Mutter hat keine Ahnung, wo du warst oder wo du jetzt bist?« Als Rico den Kopf schüttelte, stand Marc auf und griff nach der Box Kosmetiktücher, die auf der Ablage stand. »Hier, putz dir die Nase. Und dann räumen wir auf.«
Rico tat, was er verlangte, sah ihn dann aber fragend an. »Was meinst du damit?«
»Als erstes rufst du deine Mutter an und sagst ihr, wo du bist.« Marc reichte ihm schon sein Handy. »Sie wird sich Sorgen machen. Nimm ihr die. Und dann erkundige dich nach deinem Bruder. Damit wären schon zwei Fragen beantwortet. Und dann kümmern wir uns um alles weitere. Einverstanden?«
Als er das angebotene Handy in die Hand nahm, erwartete er einen düsteren Ausdruck in Marcs Gesicht, doch der lächelte ihn sogar aufmunternd an.
»Meine Mutter wäre durchgedreht, wenn ich nicht nach Hause gekommen wäre. Na los, sag ihr, dass du noch lebst.«
»Okay. Ja, das mache ich.«
Trotz seiner Zusage war er nun verunsichert. Er fragte sich angestrengt, wie sie wohl reagieren würde, nachdem er einen ganzen Tag lang verschwunden war, ohne einen Hinweis auf Aufenthaltsort oder Zustand.
Mist, Marc hatte schon wieder recht. Seine Mutter überlegte wahrscheinlich schon, auf welche Weise sie ihm den Arsch aufreißen sollte, wenn er nach Hause kam. Vielleicht war die Kontaktaufnahme per Telefon da doch die bessere Alternative.
Er musste gar nicht überlegen, wie ihre Nummer war, die hatte er schon als kleiner Junge gelernt. Aber es dauerte, bis seine zitternden Finger das Ding ans Ohr halten konnten. Marc hatte ihn derweil allein gelassen.
Ein Segen, auch diesmal.
Beim dritten Klingeln nahm seine Mutter mit fragendem Ausdruck in der Stimme den Anruf entgegen.
»Mom, ich bin's.«
Er erwartete bereits ein Donnerwetter, das ihn sich wünschen ließe, er verstünde kein Spanisch, und tatsächlich machte sie sich Luft, weil er einfach abgehauen war. Natürlich, das hatte er verdiente.
Aber sobald dieser Druck raus war, stellte sie zu viele Fragen. Wo er war, wie es ihm ginge, wann er nach Hause käme. Sie wusste, dass sie ihn nicht diktieren konnte, und versuchte es gar nicht erst. Das erledigte die Sorge in ihrer Stimme.
Als er plötzlich doch in Erklärungsnot geriet, blickte er zur Badezimmertür. Marc würde ihm raten, ehrlich zu ihr zu sein. Das würde zwar Ärger bedeuten, aber verschwieg er ihr die Details, wäre sie längst nicht beruhigt.
Also erzählte er ihr ganz langsam und mit sehr vorsichtig gewählten Worten, dass er heute Nacht einen Absturz hatte und nun bei Marc ausnüchterte. Sie beide wussten, dass er ihr gerade keine Unterstützung, sondern eher ein weiteres Hilfsprojekt wäre, und er war froh, dass sie seine Erklärung so hinnahm.
Zwar versicherte er ihr, dass es ihm gut ging, aber wer Marc war, konnte er nicht so einfach definieren. Also lenkte er von sich ab und fragte nach José.
Auch an dieser Front gab es gute Neuigkeiten, die ihn erleichtert den Atem ausstoßen ließen. Der Bruch in seinem Bein war zwar übel, konnte aber gut gerichtet werden. Er trug nun einen knallroten Gips, für mindestens sechs Wochen.
Die Kopfverletzung war nur oberflächlich und konnte gut versorgt werden, allerdings hatte er eine Gehirnerschütterung. Die Ärzte wollten ihn aber zur Beobachtung noch mindestens eine Nacht dort behalten.
Das bedeutete, ihre Mutter würde an seinem Bett sitzen, während Celia bei Tante Estelle untergebracht war. Und das hieß dann wohl, die beiden hatten ihren Streit beigelegt.
Aber das wichtigste war, dass José wieder gesund werden würde. Dem Himmel sei Dank ...
Auch wenn Rico kein sehr religiöser Mensch war, murmelte er gerade ein Dankgebet an die heilige Jungfrau Maria.
»Er hat nach dir gefragt, Rico. Komm bald nach Hause, er vermisst dich. Und ich auch.«
»Ich euch genauso«, gab er zu. »Morgen, okay? Und ich will versuchen ... aufzuhören, du weißt schon. Also ...«
Er hörte ein Seufzen am anderen Ende der Leitung. Glücklicherweise verkniff sich seine Mutter eine Standpauke darüber, dass immer erst etwas passieren musste.
»Ich bin stolz auf dich, Rico. Und ich weiß, du schaffst das.«
»Mom.«
»Ja, wirklich. Du hast längst bewiesen, wie stark du bist, in all der Zeit. Du kannst das, das weiß ich.«
»Mom, hör auf, sonst ...«
Er konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Stolz ausgedrückt hatte. Dafür hatte er ihr lange Zeit auch keinen Grund gegeben. Jetzt brannten ihm neuerliche Tränen einer anderen Kategorie im Hals.
Auch seine Mutter atmete etwas schwerer, und wenn seine Mom weinte, dann dauerte es nicht lange, bis auch er damit anfing.
»Okay, ich muss jetzt Schluss machen.« Er zog die Nase hoch und wischte sich die Wangen mit dem Handrücken ab, dann holte er noch einmal zittrig Luft. »Ich hab dich lieb.«
»Ich hab dich auch lieb, mein Schatz. Bis morgen.«
Als er das Telefonat beendet hatte, wusste er nicht, wohin mit sich und all den Gefühlen, die sich ihm gerade aufdrängten. Also blieb er einfach dort sitzen, auf dem Badezimmerboden, und rieb sich die immer noch seltsam kribbelnde Haut.
Aber eine dieser Empfindungen, eine andere als Scham und Unsicherheit, hatte sich gerade in seine Brust gepflanzt wie ein kleiner Keim. Dort saß er nun und wuchs an den liebevollen Worten seiner Mutter.
Stolz.
Wenn er recht überlegte, hatte er den immer gewollt, von seiner Mutter, aber auch für sich selbst. Bislang hatte er nur versucht, über die Runden zu kommen, ihr unter die Arme zu greifen, aber er hatte dabei immer so kurzsichtig gehandelt.
Immer nur für das Jetzt, weniger für das Morgen geplant. Sein Vorsatz, mit dem Kiffen und allem anderen aufzuhören, was der Szene angehörte, das war sein erster Plan überhaupt für dieses Morgen. Das, das anbrach, wenn er diesen düsteren Schatten abgeschüttelt hatte.
Dieses Vorhaben war ein Gewinn für ihn, auch für seine Sicherheit. Es machte seine Mutter stolz, dass er sich dafür entschieden hatte, und ihn, weil er ihr damit etwas bieten konnte. Nämlich einen gesunden, glücklichen und gesetzeskonformen Sohn.
Ja, Stolz.
An diesem Gefühl hielt er fest, während er dort saß. Als Marc vorsichtig durch die angelehnte Tür linste und sah, dass er sich immer noch Tränen wegwischte, klopfte er an den Türrahmen, um seinen Blick zu heben.
»Wie lief es?«
Da nickte Rico und lächelte vor sich hin. »Du hattest recht.«
»Mhm, na endlich hat er es verstanden.« Lächelnd faltete Marc die Hände und blickte theatralisch gen Zimmerdecke, dann nickte er ihm zu. »Merk dir das gut. Also, versuchen wir es mal mit einem kleinen Abendessen? Oder Mitternachtssnack.«
Rico horchte in sich hinein. Dieses unerwartet gute Gespräch mit seiner Mutter hatte ihn mehr beruhigt als er angenommen hatte, wenn er auch noch diesen leichten Hall spürte, ging es ihm jetzt wirklich besser. Und auch sein Magen schien ihn vorerst nicht mehr quälen zu wollen. Also nickte er erneut.
»Was hättest du gern?«
»Ach, ist ganz egal.«
»Nur keine Scheu. Wünsch dir, was du willst«, bot er ihm fröhlich an. »Ich koche, und du hast Glück, denn darin bin ich gar nicht so schlecht. Also, was isst du gern?«
Zumindest in dieser Hinsicht wollte er sich unkompliziert geben und ihm nichts zu Aufwändiges zumuten, aber Marc lächelte nur weiter.
»Kennst du Pastasotto? Immer wenn ich krank war, hat meine Mom das gekocht. Mit so einer ganz besonderen Sorte Wurst.«
»Chorizo?«
»Das sagt dir was?«
»Schon. Genau die habe ich leider nicht, aber eine Alternative.« In Gedanken schien er schon seine Vorratskammer zu durchstöbern. »Zucchini dazu?«
Rico biss sich auf die Lippe. »Ja, gern.«
»Komm, du kannst mir helfen.«
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