Kapitel 31: Frottee und Versprechungen

Er atmete stockend ein und spürte seine Kopfschmerzen wieder deutlich. Ruhig bleiben, sagte er sich und glaubte sich doch selbst kein Wort. Er hatte keine Ahnung, ob seine Mutter ihn überhaupt zu José lassen würde, wenn er es bis dahin schaffte.

Wenn selbst Marc seine Zerstreutheit nicht entging, würde sie erstrecht wissen, wie er seinen Abend verbracht hatte, während sein Bruder noch im OP gewesen war.

Oh Gott verdammte Scheiße, was hatte er nur getan?

Seine hektische Atmung weckte auch seinen Magen wieder aus seiner Lethargie und der stellte gerade angesäuert fest, dass man ihn mit Aspirin gefüttert hatte. Als sein Blick nun auch noch auf den Orangensaft fiel, den er noch gar nicht angerührt hatte, schluckte er mit einem klickenden Geräusch.

Aber er konnte das Sprudelwasser nicht überreden, unten zu bleiben, und bevor Marc noch etwas sagen konnte, hechtete er an ihm vorbei, direkt in sein Bad, und landete mit einem üblen Schlag auf die Knie vor der Toilette.

Und während er sich hustend und wie ein Hund leidend übergab, holte Marc ihm ein Glas Wasser. In seinem Kopf hämmerte es unaufhörlich, aber er spürte auch eine andere Stelle schmerzen. Er war wohl irgendwo angeeckt, denn sein Oberschenkel brannte erneut.

»Hier, spül aus.«

Kaum hatte Rico den Kopf gehoben, fiel Marcs Blick auf den immer größer werdenden Blutfleck, der seine Jeans färbte.

»Cazzo, was ist das?«

Er versuchte abzuwinken, aber er konnte nicht kaschieren, dass es übel war. Er sah selbst, dass sein tolles Pflaster einen Scheiß heilen konnte, und ließ resigniert den Kopf auf die Klobrille fallen. Zum Glück war die ganze Wohnung beinahe klinisch rein.

Marc griff nach einem Handtuch und drückte ihm das arme Stück Frottee aufs Bein, dass Rico erneut schmerzhaft zusammenzuckte. Sein erster Reflex war, ihn davon fern zu halten, seine erste wirkliche Reaktion, nach einem viel zu hohen Jauchzen, war allerdings das Festkrallen an der Keramikschüssel.

»Wie schlimm ist es?«, wollte Marc wissen.

Aber Rico schüttelte nur den Kopf, er hatte keine Ahnung. Sah übel aus, ja, aber er hatte gedacht, das würde sich schon von allein regeln, irgendwann jedenfalls.

Marc verharrte neben ihm, solange bis er wieder etwas ruhiger atmete, und unterließ es freundlicherweise, ihm auch dafür noch eine Schelte zu erteilen. Irgendwann hob er das Handtuch an, um zu prüfen, ob es noch blutete.

Der Fleck war nicht merklich größer geworden, also ließ er allmählich von ihm ab. Die neu gewonnene Freiheit durfte Rico aber nur kurz genießen, denn gleich darauf kam er mit einem kleinen Verbandskasten zu ihm zurück.

Anhand der Größe des Blutflecks nahm Marc Maß für ein neues Pflaster. Dann legte er Tupfer und Desinfektionsmittel bereit und sah ihn erwartungsvoll an.

»Willst du es selbst machen?«

Als ob er sich von ihm anfassen lassen wollte. Nichts da. Mit einem bösartigen Blick griff er nach dem Pflaster, aber dann rührte er sich nicht. Er würde sicher nicht die Hose runter lassen, wenn der Kerl ihm zusah.

»Dürfte ich vielleicht allein sein?«

»Entspann dich, Kleiner.« Sein Ton war beinahe süffisant, aber wenigstens stand er auf. »Kleb' das gut ab, ich sehe mal, ob ich was habe, das dir passt.«

Als die Badezimmertür geschlossen wurde, ahnte Rico bereits, dass er sehr bald zurückkommen würde, um ihm saubere Klamotten zu bringen. In der Zwischenzeit konnte er sich zumindest schon einmal auf den Wannenrand hocken, aber er würde warten.

Es klopfte nur kurze Zeit später, und tatsächlich brachte Marc ihm eine Jogginghose mit elastischem Bund und Schnürung, ein T-Shirt und einen Pullover, der ungeheuer bequem aussah. Außerdem ein frisches Handtuch und einen Waschlappen.

»Die sind dir sicher zwei Nummern zu groß, sollte aber funktionieren. Das Blut solltest du nicht eintrocknen lassen. Das kriegt man nur schwer raus.«

Mit diesen letzten Worten verließ er das Bad wieder und ließ Rico mit mehr Fürsorge zurück, als er verdient hatte. Und während er noch versuchte, möglichst schmerzfrei den Jeansstoff von seiner Schnittwunde zu schälen, überlegte er, was er jetzt tun sollte.

Zwar hatte er vorgehabt, José im Krankenhaus zu besuchen, aber das konnte er sich wohl aus dem Kopf schlagen. Dieser hässliche Schnitt schien ihm entgegenzuquellen. Er verhöhnte ihn mit erneutem Unwohlsein und der gestrichenen Aussicht, bald wieder vernünftig laufen zu können.

Er schaffte es dennoch, ihn möglichst sauber zu verschließen. Bevor er in die frische Kleidung schlüpfte, sollte er sich aber selbst auch vom Schutz des letzten Tages befreien. Zu gern hätte er jetzt eine heiße Dusche genommen, aber sein blödes Bein hatte ihm ja schon die Flucht versaut.

Einigermaßen erfrischt und in Marcs Sachen gehüllt, schlich er unterwürfig zu ihm ins Wohnzimmer. Der hatte inzwischen eine Bettdecke und ein richtiges Kissen für ihn bezogen. Sollte das bedeuten ...

»Ich mache dir einen Vorschlag. Du bleibst über Nacht hier und ruhst dich aus«, hörte er ihn sagen. »Und morgen früh bringe ich dich nach Hause. Da kannst du versuchen, dieses Gift aus deinem Körper zu kriegen.«

Er schüttelte ihm noch das Kopfkissen auf, dann sah er ihn beinahe resigniert an.

»Oder was auch immer.«

»Was auch immer?«

Marc seufzte und machte sich daran, das Wohnzimmer noch etwas gemütlicher für ihn herzurichten. Er zog die Vorhänge zu, schaltete eine warme Standleuchte in der Ecke ein und ging an ihm vorbei in die Küche.

Währenddessen erklärte er: »Ich habe dir wiederholt meine Hilfe angeboten. Die willst du ja offensichtlich nicht. Also kann ich nur hoffen, du schaffst es selbst von dem Zeug runter und kriegst dein Leben wieder in den Griff.«

Er kramte ein paar Salzcracker aus dem einen Schrank, ein Glas aus dem anderen und griff nach einer frischen Flasche Wasser. Alles zusammen stellte er ihm nun auf den Sofatisch und seufzte erneut.

»Du hast gesagt, du willst das nicht tun. Also finde selbst eine Lösung. Dann erfüllt sich vielleicht dein Wunsch und wir beide sehen uns nie wieder.«

Rico stand wie versteinert in der Tür, die Arme um sich selbst geschlungen, als könnte ihn das zusammenhalten, während Marc sich praktisch schon von ihm verabschiedete. Das versetzte ihm einen herben Stich, denn es fühlte sich an, als würde auch Marc ihn nun fallen lassen.

Er war so dämlich. Er hatte doch so auf diese Unterstützung gehofft, sie aber gleichermaßen abgelehnt wie ein bockiges Kind. Kein Wunder, dass er auch hier nicht mehr willkommen war.

»Aber ich warne dich. Erwische ich dich noch einmal in der Nähe meiner Schwester, dann nehme ich dich auseinander. Dann wird das«, abschätzig zeigte er auf Ricos geschundenen Körper, »nicht das Schlimmste sein, was dir je passiert ist.«

Darauf antwortete er nicht, nicht einmal mit einem Nicken. Seine Unterlippe bebte, aber diesmal nicht vor Wut. Er war tatsächlich traurig, verzweifelt und schämte sich furchtbar für sein Verhalten.

Schon bei ihrem ersten Treffen hatte er gewusst, dass er diesen Typen nicht ausstehen konnte. Er war arrogant, viel zu aufdringlich, höchst provokant und sah viel zu gut aus. Das alles zusammen mit dieser charismatischen Stimme und dem beinahe schon einladenden Lächeln reichte aus, um ihn zu hassen.

Und jedes Mal, wenn sie einander begegnet waren, hatte er in Rico etwas ausgelöst, das man schon Übermut nennen konnte. Er war übellaunig und frech und vergaß all seine guten Manieren, wenn er ihm damit nur Kontra geben konnte.

Und er hatte keine Ahnung, warum. Aber er hatte das Gefühl, dass er genau das musste. Vielleicht, um neben ihm weniger mickrig zu wirken. Vielleicht auch, um ihm diese Arroganz auszutreiben.

Ein heilloses Unterfangen, ohne Aussicht auf Erfolg. Und dennoch. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass auch Marc von ihm enttäuscht war.

Als der ihn aufgrund der fehlenden Erwiderung allein lassen wollte, hob Rico reflexartig die Hand. Er berührte nur ganz sanft seinen Arm, aber Marc hielt gleich an. Zitternd holte Rico Luft.

»Es tut mir leid. Ehrlich.« Eine Träne lief über seine Wange und er schämte sich noch mehr dafür. Aber er traf mit brüchiger Stimme tatsächlich eine Wahl. »Ich ... schaff das nicht allein. Bitte ... Bitte hilf mir.«

»Hey, ist schon gut. Komm her.«

Als Marc behutsam eine Hand auf seine Schultern legte, sank Rico in eine unwahrscheinlich liebevolle Umarmung. Er klammerte sich mit aller Kraft an diesen Fremden, der ihm dennoch so vertraut schien. Und der mit ganz einfachen Gesten und stärkenden Worten eine gewaltige Last mit ihm teilte.

»Mach dir keine Sorgen mehr. Ich bin für dich da. Wir kriegen das schon wieder hin.«

Und endlich, nach all den Fehlschlägen, war da keine blinde Hoffnung mehr, sondern eine echte Chance. Und die hielt er fest.

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