Kapitel 29: No Más

Auch wenn er es geschafft hatte, ohne Zusammenbruch aus dieser Wohnung zu verschwinden, konnte er sich kaum über diesen kleinen Triumph freuen. Selbst im eher trüben Licht des Tages wurden die Kopfschmerzen stärker.

Der dumpfe allumfassende Druck beeinträchtigte sein Sehvermögen und das blitzartig auftretende Stechen ließ ihn auf den eigenen Beinen wanken. Er war sich sicher, dass sein Schädel bald explodieren würde, wenn er nicht einen ruhigen, dunklen Ort fand, an dem er sich verkriechen konnte.

Doch nachdem er seine Mutter so heillos enttäuscht hatte und nicht weniger tief von seinem angeblich besten Freund enttäuscht worden war, gab es für ihn keine Zuflucht mehr.

Hatte er noch gedacht, verprügelt worden zu sein, hätte ihn an sein Limit gebracht, erkannte er selbst in diesem Zustand noch, dass er nun wirklich am Ende war.

Er war allein.

Gefickt und allein.

Und während er mit aller Kraft versuchte, diese Tatsache auszublenden, hatte er keinen Blick mehr für seine Umgebung. Er stieß gegen Straßenschilder und Parkuhren, rempelte vorbeiziehende Menschen an, die er nicht einmal wirklich wahrnahm.

Er wusste nicht einmal, wo er war, aber er konnte weder anhalten noch zurückgehen. Also lief er weiter, so gut er konnte.

»Hey, pass doch auf!«

Dass er gerade in einen Typen hinein gerannt war, bei dem Versuch, einer Frau mit zwei Hunden auszuweichen, war auch so etwas, das sein Hirn normalerweise mit einer Entschuldigung abgegolten hätte.

Doch das war gerade viel mehr damit beschäftigt, die Änderung der Perspektive zu verarbeiten, die sein Sehnerv meldete. Die völlige Überforderung seines Nervensystems wurde mit erneutem Stechen in den Schläfen quittiert.

An irgendeiner Hauswand hielt er an. Er stützte sich vorsorglich ab, während er versuchte, den Schmerz mit etwas Gegendruck zu lindern. Als er an sich herab sah, stellte er außerdem fest, dass er nicht einmal seine Jacke trug.

Scheiße und gerade heute war es so verdammt kalt.

Aber Schuhe hatte er an. Keine Socken, aber immerhin Schuhe. Okay.

Er musste sich zusammenreißen, irgendwohin, wo er eine Weile verschnaufen konnte, um von dem Mist herunterzukommen. Dann würde er hoffentlich eine Lösung erkennen, die längst vor ihm lag. Ja, so musste es sein. Irgendwie.

Leider waren seine nächsten Schritte auch nicht sicherer als die vorherigen und so taumelte er erneut über den Gehweg, bedrohlich auf die Straße zu. Er hörte lautes Hupen und bösartige Rufe von Fremden und dann spürte er einen Ruck.

»Hey! Rico, was ... hey!«

Hey-Rico schreckte zurück, immer noch schwammig, aber überraschend sicher stand er plötzlich da. Und hob den verwirrten Blick in ein bekanntes Gesicht, das er nie wieder zu sehen gehofft hatte.

Die dunklen Brauen waren angestrengt über die braunen Augen gesenkt, die markanten Züge wirkten genauso streng wie der Typ war, denen sie gehörten. Und dem er erst vor kurzem einen fiesen Tackle zum Abschied gegeben hatte.

Marc. Oh nein ...

Nein, nicht schon wieder. Nicht auch noch jetzt.

»Um Himmelswillen, Rico, wie siehst du denn aus?«

Die Frage konnte er sich doch wohl selbst beantworten. Beschissen. Wie durchgekaut und ausgespuckt, genau so sah er aus und so fühlte er sich auch. Da brauchte er sicher keine Wertung von außen, schon gar nicht von ihm.

Und warum grabschte der Kerl, der im Vergleich zu ihm immer viel zu gut aussah, ihn eigentlich ständig an, wenn er neben ihm spawnte wie NPCs in einem schlechten Online-Videospiel?

»Zu viel Sonne wahrscheinlich«, murrte er in seine Richtung und versuchte, sich von ihm los zu machen. Vergebens. »Alter, was stimmt denn nicht mit dir? Du bist echt überall, das grenzt an Stalking.«

Diesmal lächelte Marc nicht. Er sah ihn immer noch so intensiv an, so durchdringend, dass Rico sich seltsam schutzlos vorkam. Gott, er hasste diesen Blick, der sich in ihn hinein brannte, der gruselig wäre, wenn er nicht so warm wirken würde.

Aber darauf konnte Rico sich nicht lange konzentrieren, denn dieser Druck hinter seinen Augen winkte wieder so beschissen fröhlich, dass ihm die Sicht verschwamm. Marc bemerkte seine verstrahlte Ausrichtung ebenfalls und half ihm, sich an eine Ziegelsteinmauer zu lehnen.

Dabei rückte der Kerl einen großen Stoffbeutel zurecht, den er sich über die Schulter gehängt hatte. Da ragte irgendetwas Grünes oben heraus. Rico versuchte, auf das Grünzeug zu schauen. Frisches Gemüse war ein reizvollerer Anblick als dieser inzwischen mitleidige Blick.

Verdammt, wie kam er hier wieder heraus? Einen Moment überlegte er, ob er um Hilfe rufen sollte, vielleicht würde ja ein netter Passant ein wenig Zivilcourage beweisen und ihn aus seiner misslichen, sockenlosen Lage retten.

Trotz der fehlenden Jacke wurde ihm gerade ziemlich warm, denn die neuerliche Wut, die sich gerade breit machte, heizte ihn von innen auf.

War das eigentlich Zufall oder Absicht, dass der Kerl ihn immer wieder gegen eine Wand oder sonstiges Hindernis drückte, um ihn an der Flucht zu hindern? Er engte ihn ein. Aber leider musste Rico zugeben, dass er sehr wahrscheinlich auf den Beton klatschen würde, sollte Marc seine Schultern loslassen.

»Ganz ruhig. Versuch einfach zu atmen. Keine Angst.«

Keine Angst.

Der letzte, der das zu ihm gesagt hatte, hatte ihm eine neue Sorte Gift dargeboten und ihn benutzt wie eine 10-Dollar-Nutte. Die Hitze in seinem Inneren entfaltete jetzt einen ganz eigenen Druck, der seinen Atem beschleunigte, sein Zittern verstärkte und seinen Magen aufs Neue aufforderte, sich ein wenig Platz zu verschaffen.

Es war keine Angst, die er spürte, als er sich von Marc los riss und in die Seitenstraße wankte. Vielmehr schnürte ihm Panik die Kehle zu und entließ nur ein angestrengtes Würgen, bis sein Magen dieser Einladung folgte und herauf beförderte, was er zu bieten hatte.

Das war Flüssigkeit. Er hatte seit Stunden nichts gegessen, dafür brannte die Magensäure in seiner Speiseröhre wie schwelende Glut. Vornüber gebeugt ergab er sich seinem Schicksal. Als bliebe ihm etwas anderes übrig.

Die hektischen Kontraktionen seiner Innereien verstärkten jede Form von Schmerz, die der Rest seines Körpers auf Lager hatte. In seinem Bauch zog sich alles zusammen. Seine linke Seite jaulte mit den blauen Flecken. Sein angeritzter Oberschenkel schien zu platzen und seinem Kopf gleich Gesellschaft auf der Straße zu leisten.

Aber da war noch etwas. Er spürte etwas Warmes, Unterstützendes, das einfach nicht zu seinen sonstigen Empfindungen passen wollte. Marc hatte ihm die Hand auf den Rücken gelegt und rieb in trägem Rhythmus über seine viel zu verspannte Muskulatur.

Er wollte sich dagegen wehren, ihn zurückstoßen, um sich selbst zu schützen. Denn nur das war in dieser Situation richtig. Und doch war da wieder das Gefühl, er würde ihm nichts tun.

Als sich sein Körper ein wenig beruhigt hatte oder einfach nur zu fertig war, um ihm noch mehr zuzumuten, ließ er sich gegen die kalte Ziegelmauer fallen. Erst jetzt konnte er Marcs Vorschlag berücksichtigen und ließ eisige Oktoberluft in seine Lungen.

Vorsichtig atmen, sagte er sich, denn sonst würde er gleiche eine Zugabe parat haben.

Ein paar Minuten musste er wohl schon hier stehen. Die Kälte seiner Umgebung zog allmählich durch seine Klamotten und drang bis unter seine Haut. Sie nagelte ihn regelrecht fest, dabei sollte er die Beine in die Hand nehmen und verschwinden.

Aber dafür müsste er ein weiteres Hindernis überwinden. Marc stand immer noch neben ihm und wartete offenbar auf die Bestätigung, dass er es allein schaffen würde, damit er selbst nach Hause gehen konnte.

»Und wie läuft es so damit, selbst einen Weg zu finden?«

Ach, halt doch die Klappe ...

Er wollte ihn nicht ansehen und tat es doch. Irgendetwas lockte ihn schon wieder so verschwörerisch. Vielleicht war es diese Selbstgefälligkeit, die ihn so an dem Kerl nervte. Vielleicht auch der höhnische Ton, den er da hörte.

»Lässt du mich dir jetzt helfen?«

Aber vielleicht war es auch die kleine, stille Hoffnung, er würde ihm noch einmal die Hand reichen.

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