Kapitel 28: Hermanos

»Rico, sag doch was.«

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

Tatsächlich hatte er das drängende Bedürfnis, all das hier zu beenden, am besten gestern schon. Dann hätte er nie, niemals dieses Zeug genommen, das ihn so fertig gemacht hatte, dass er sich an den vergangenen Abend nicht einmal erinnern konnte.

Mit hämmerndem Schädel und wackeligen Beinen stand er auf. Mehr aus Reflex als wirklich bewusst nahm er seinen Pullover in die Hand und hatte nur noch vor, so schnell wie möglich hier heraus zu kommen.

»Rico, was ist denn ...«

Er hörte ihn kaum. Die unfreiwillige Bestandsaufnahme seines ramponierten Ichs lief immer noch ohne sein Zutun. Leider offenbarte sie ihm viel zu viel. Die Kopfschmerzen würde er wohl nie los. Und dieses Rotieren in seinem Oberstübchen schlug ihm auch noch permanent auf den Magen. Genau wie auf seine Rippen, die von der Behandlung durch Camilos Schläger immer noch brannten.

Aber was ihn wirklich beunruhigte, waren die Nachwirkungen dessen, was sie in der letzten Nacht getan hatten. Sein Unterleib tat weh. Vielmehr sein unterer Rücken, was letztlich dafür sorgte, dass er weder gerade stehen noch vernünftig sitzen konnte.

Und wirklich fertig machte ihn das Wissen darum, woher dieses Gefühl kam.

Er hatte etwas getan, von dem er bis zur letzten Nacht nicht einmal geträumt hatte, und das auch noch mit dem Typen, der Cornflakes direkt aus der Packung aß und glaubte, sein persönlicher Pfad in die Hölle sei vergleichbar mit dem Stairway to heaven, den er in irgendwelchen Gangsterfilmen gesehen hatte.

Und der ihm in Aussicht gestellt hatte, mit Meth sein Gemüt beruhigen zu können. Dieser Mist hatte alles nur noch schlimmer gemacht.

»Rico, jetzt warte doch mal. Hör mal, ich weiß, das war nicht gerade berauschend, aber das erste Mal ist doch nie gut. Dann kann es doch aber nur besser ...«

»Halt die Klappe!« Rico wirbelte so schnell herum, dass ihm noch während der Drehung schwarz vor den Augen wurde. Das hielt ihn aber nicht davon ab, ihm seinen Frust entgegen zu kotzen. »Du hast versprochen, dass nichts passiert. Dass ich nicht abstürzten würde. Und jetzt sieh dir diese Scheiße an!«

»Beruhig' dich. Es dauert vielleicht einen Tag, manchmal auch zwei, aber dann fällt dir sicher wieder ein, was war.«

Das sollte es besser nicht. Wenn er auch noch vor Augen hätte, was er sich nie im Leben ausmalen wollte, würde er keinen Tag mehr ruhig schlafen können.

Oh Gott, Marvin ...

»Okay, schon gut. Ich verstehe es ja, und es tut mir leid, dass es so gelaufen ist. Aber ... Was ist denn so schlimm daran? Immerhin weiß ich jetzt ... na ja, dass es so ist.«

Während Joe seinen Monolog stammelte, besaß er glücklicherweise den Anstand, sich etwas anzuziehen. Aber was er da sagte, ergab keinen Sinn. Nichts konnte diese Situation beschönigen, das sollte ihm doch wohl klar sein.

»Dank dir weiß ich es. Und das ist doch gut«, versuchte er immer noch ihn zu bequatschen. »Jetzt können wir zusammen sein, Rico. So richtig.«

In diesem Moment konnte er ihn nur anstarren. Sein Herz polterte synchron zu den Schlägen in seinen Schläfen und er wusste nicht, ob er noch gleichmäßig atmete. Wenn er auch die letzte Nacht vergessen hatte, so erinnerte er sich gerade doch sehr genau an diesen Abend vor ein paar Wochen.

Sein Blick fiel dabei auf den Fußboden vor seinem Bett. Dort hatten sie gesessen, sich den zweiten Joint geteilt und Gesprächsthemen aufgegriffen, die sie im wachen Zustand nie angesprochen hätten.

Und an diesem einen Abend hatte Joe zugegeben, dass er bei Cheryl Conrad keinen hoch gekriegt hatte. Rico hatte sich ein hämisches Schmunzeln verkneifen müssen, denn das erklärte ziemlich gut, warum sie ihn letztlich abgeschossen hatte und sein Freund so schlecht auf das Mädchen zu sprechen war.

Natürlich hatte er behauptet, er sei nicht in Stimmung gewesen, aber er hatte sich von ihr einfach nicht angezogen gefühlt. Aber nicht, weil sie sich auf dem Herbstball am Früchtepunsch betrunken oder nicht seinen Erwartungen entsprochen hatte, sondern weil sie ein Mädchen war.
Rico hatte sich geirrt. Sein bester Freund war also schwul.

Im Grunde war das völlig in Ordnung, aber er hatte es nicht so herausfinden wollen. Nicht in Verbindung mit dem Angebot, eine Beziehung anzufangen, die auf einem zugedröhnten Fehltritt aufbauen sollte. Aber das war nur ein zusätzliches Problem, mit dem er sich gerade nicht auch noch beladen konnte.

»Nein. Joe, nein. Das ...«

»Hey, ist okay. Wir müssen das ja nicht an die große Glocke hängen. Ich will auch nicht, dass mein Alter das mitkriegt.«

»Nein! Du kapierst das nicht, ich ...« Auch das hätte unter anderen Umständen gesagt werden sollen. »Ich bin mit Marvin zusammen.«

Der eben noch so optimistische, wenn nicht sogar verständnisvolle Ausdruck in Joes Gesicht versank gerade in einem tiefen Sumpf aus Wut und Schmerz. Es war nicht zu leugnen, dass seine Eifersucht nach und nach in Hass umschlug. Sein Blick wurde eiskalt.

»Marvin? Verarschst du mich?«

»Nein. Wir sind ein Paar. Seit letzter Woche. Und das hier ... Das ist einfach nicht ...«

»Marvin war dir aber letzte Nacht total egal, als wir ...«

»Hör auf!«, unterbrach er ihn in seiner schieren Verzweiflung. »Das hier hätte nie passieren dürfen! Das hätte ich nie getan, wenn ...«

»Wenn was?«

»Wenn du mir dieses Zeug nicht gegeben hättest.«

»Alter, jetzt hör aber selber auf. Das war deine Entscheidung. Du wolltest es nehmen. Genauso wie du mich wolltest.«

»Nein.« Seine Stimme brach. »Du hast versprochen, auf mich aufzupassen. Das hast du nicht. Ich habe dir vertraut und du hast ...«

Scham kroch ihm den Nacken hinauf, packte ihn mit kalter Hand und schnürte ihm die Kehle zu. Dabei spürte er schon den bitteren Geschmack von Erbrochenem, der ihm gleich den Rest geben wollte.

»Ich fasse es nicht.« Joaquin stieß ein scharfes Lachen aus. »Marvin? Oh man, du bist doch nicht wirklich so naiv.«

»Was soll das heißen?«

Die in die Hüften gestemmten Hände ließen ihn genau so arrogant wirken, wie er sich in diesem Augenblick geben wollte. Aber wie er ihn ansah, so mitleidig, beinahe vorwurfsvoll, das versetzte Rico wirklich einen Stich.

»Mein Gott, Rico, sieh dir doch mal an, wo wir sind. Wir sitzen im beschissenen Queens fest, yo. Und nicht einmal im guten Teil von Queens mit den chicen Einfamilienhäusern wie dein toller Marvin. Wir sind hier.«

Joe ließ ihm einen Moment, um selbst darauf zu kommen, was er sehr genau wusste, aber offenbar zu ignorieren versuchte. Nämlich, dass dieser Junge in einer ganz anderen Welt lebte als sie beide.

»Du hast die Schule geschmissen, um Drogendealer zu werden. Weiß er das? Und was sagen seine Eltern dazu, dass du statt für Chemie zu pauken lieber im Selbstversuch herausfindest, wie gut sich THC anfühlt?«

»Hör auf.« Ricos Stimme war mittlerweile düster und so leise, dass sie beinahe bedrohlich wirkte. »Marvin weiß, dass ich nicht in Geld schwimme. Und dass ich arbeite, statt zur Schule zu gehen. Er weiß das und er mag mich trotzdem. Er mag mich so wie ich bin.«

»High?«, lachte Joe ungläubig und sah ihn an, als würde er versuchen, Sterne mit bloßen Händen zu fangen. Und wirklich glaubte, er könnte einen erwischen.
»Wir können träumen, Rico, aber am Ende des Tages sitzen wir hier. Wo wird dein toller Typ in zwei oder drei Jahren sein, hm? Auf'm College, irgendwo an der Westküste. Und du?«

»Bist du so eifersüchtig, dass du ihn hypothetisch ans andere Ende des Landes schicken musst, damit er für dich keine Gefahr ist und es mir damit beschissen geht?«

Das war es doch, was hier passierte, nicht wahr? Sein angeblicher Freund suchte mit einer ungekannten Leidenschaft nach Fehlern in seiner Rechnung, nach Unterschieden und unüberwindbaren Hindernissen, die einer Beziehung mit Marvin im Weg standen, damit Rico das Interesse an ihm verlor. Damit er sich schämte, ihm nicht das Wasser reichen zu können, und aufhörte, sich etwas mit ihm zu wünschen, das Joe ihm gerade ebenfalls in Aussicht gestellt hatte.

Joe mochte ihn für einen Träumer halten, aber er hatte nicht vor, in Queens zu versauern. Auch wenn der sich mit dem Wunsch nach einer Männer-WG mit ihrer Situation abgefunden hatte, Rico hatte noch Hoffnung.

»Sieh es ein, Rico. Wir sind der Bodensatz der Gesellschaft. Wir gehören nicht dazu. Wach auf und akzeptiere, wo du bist und wo du hingehörst. Du und Marvin? Das kannst du vergessen.«

Aber Rico empfand auch Wut. Er hatte geahnt, dass Joe ihn hinhängen würde, sollte es nur zu seinem Vorteil gereichen, weil er nicht einmal mit ihm wirklich ehrlich umging. Dabei hatte er gedacht, sie seien Brüder.

Diese Befürchtung bestätigt zu wissen, machte ihn unwahrscheinlich wütend. Und dieses Gefühl drängte sogar den Ekel zurück, den er für sich selbst empfand.

»Das hier habe ich nicht gewollt. Und ich will auch nicht mit dir zusammen sein. Im Moment will ich dich nicht einmal sehen.«

Als er sah, dass Joaquin unter diesem Schlag ins Taumeln geriet, ergriff er die Flucht. In wenigen Sekunden hatte er sein Zimmer, den Flur und die Wohnungstür hinter sich gelassen. Er stolperte die Stufen des vernachlässigten Treppenhauses hinunter, den Blick auf das Licht gerichtet, das im Erdgeschoss durchs Fenster fiel.

Hauptsache raus hier.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top