Kapitel 25: Crystal Sky
Das war jetzt schon der dritte Joint an diesem Abend und es ging ihm immer noch beschissen. Er war immer noch kurz davor, in Tränen auszubrechen oder etwas kaputt zu schlagen. Seine Haut war klamm und ihm gerade viel zu eng, und diese hämmernden Kopfschmerzen wollten einfach nicht nachlassen.
Da half auch Eddies Anbau nicht.
Immer noch starrte er auf sein Handy, in der Hoffnung, seine Mutter würde anrufen oder ihm wenigstens eine SMS schicken, um ihm mitzuteilen, dass José aus dem OP gekommen und auf dem Weg der Besserung war.
Seit er hier war, hatte er sich so viele mögliche Ausgänge ausgedacht, die dieser Abend nehmen konnte, und das war der beste, den er sich wünschen konnte. Leider hatte sein wirres Hirn aber auch einige andere Szenarien gesponnen.
Was wäre, wenn er nicht mehr aufwachte, weil seine Kopfverletzung doch zu schwer war? Oder wenn er bleibende Schäden zurückbehalten würde? Dann würde er jeden Tag in jeder Situation daran erinnert werden, was Rico ihm angetan hatte.
Vielleicht meldete sich seine Mutter deshalb nicht, weil man ihr schlechte Nachrichten überbracht hatte. Um Himmelswillen, lebte sein Bruder überhaupt noch?
Rico ließ den Kopf hängen, genau in dem Moment, in dem Joe ihn noch einmal in den Arm nehmen wollte, und gerade jetzt konnte er das wirklich gebrauchen. Er sackte beinahe in sich zusammen, klammerte sich an seinen Freund und konnte einfach nicht anders als den Tränen freien Lauf zu lassen.
Sobald er das erste Schluchzen von sich gab, zog Joe ihn noch fester an sich und löste damit die letzten Barrieren, die sein mickriges Ich zusammen hielten.
Keiner von ihnen sagte ein Wort. Joe gab ihm einen Ort und eine Zeit, um seinen Frust und seine Angst herauszulassen, und fing ihn auf, als er auf dem Boden aufzuschlagen drohte. Obwohl er das verdient hätte.
Das anhaltende Heulen hatte seine Kopfschmerzen nur noch verschlimmert und der Druck in seinem Schädel war beinahe nicht mehr auszuhalten. Ihm war so elend, als er sich in fetaler Haltung auf Joes Schoß wiederfand, und hatte doch nicht den Elan, sich aufzuraffen.
»Geht es dir besser?«
»Nein.«
Und trotzdem rollte er sich von Joe herunter, um sich noch einmal an seinem Vorrat an Marihuana zu bedienen.
»Denkst du, das wird dir helfen?«
»Nein. Aber was anderes habe ich nicht.«
Scheiße, er hatte angenommen, seine Nerven müssten sich mittlerweile etwas beruhigt haben, aber er schaffte es kaum, diese verdammte Tüte zu drehen. Ständig fiel ihm das Gras aus dem Papier oder es klumpte total zusammen, wenn er zu viel auf einmal einrollen wollte.
Völlig verzweifelt zerdrückte er diesen lächerlichen Versuch und ließ alles fallen. Stattdessen fuhren seine zittrigen Hände in sein Haar und zogen wie von selbst daran, was das Pochen in seinen Schläfen nur noch verstärkte.
»Gott, ich kann nicht mehr ...«
Hinter ihm seufzte Joaquin mitleidig. Allein dafür hätte er ihm jetzt eine reinhauen können. Und auch das war völlig falsch, stellte er gerade selbst noch fest, denn sein Freund war heute Abend der einzige gewesen, der niemandem die Schuld für irgendetwas gegeben hatte.
»Rico«, begann er zögerlich. »Ich hätte vielleicht etwas, das dir helfen könnte. Wenn du bereit bist, einen Schritt weiter zu gehen.«
»Was meinst du damit?«
Joaquin antwortete, indem er an seinen Schreibtisch trat. In der oberen Schublade, unter einem Notizbuch mit Telefonnummern und Initialen von Kunden und solchen, die es einmal werden sollten, holte er ein kleines Tütchen hervor, das etwas anderes beinhaltete als das altbekannte Grün.
Ricos Blick fiel auf die kleinen weißen Kristalle unterschiedlicher Größe. Die kleinsten waren nicht größer als Schotter, die meisten maßen aber fast zwei Zentimeter Länge. Ihr Anblick hatte eine beinahe hypnotische Wirkung auf ihn, so klar und weiß wie Eis.
»Was ist das?«
Aber die Frage war überflüssig. Obwohl er nie Meth genommen hatte, wusste er, wie das Zeug aussah. Unter all dem Stoff, den man auf der Straße bekommen konnte, wirkte Crystal wie sein Name klang. Rein und in gewisser Weise erhaben gegenüber den dreckigen kleinen Klumpen, die man als Crack verkaufte, den bunten Pillen, denen man eine trügerische Wirkung nachsagte, und so viel eleganter als Gras.
Als Joe eine kleine Pfeife aus derselben Schublade holte, verengte Rico die Augen. Das Glas hatte schon mehr als ein Sturmfeuerzeug gesehen, es war von außen verkohlt, auch wenn Joe das Ding wohl schon mehrfach gereinigt hatte.
»Wie lange nimmst du das schon?«
Joaquin gab sich unbeeindruckt, als er den niedrigen Tisch an sein Bett heranzog und ein paar der kleinen Splitter in die Pfeife umfüllte.
»Weißt du noch, als mein Dad mit dieser blondierten Hure nach Hause kam? Die, die ihre abgewetzten Stiefel mit Edding bekritzelt hatte.«
Rico nickte trüb. Joe hatte das zwar erwähnt, war aber nie ins Detail gegangen.
»Morgens kam sie in die Küche, als ich gerade abhauen wollte, und hat ... mir 'was Ähnliches angeboten. Ich war froh, als mein Alter rein kam.«
Sein Blick ging ins Leere, als er sich an das Gesicht dieser Frau erinnerte, an die zerzausten Haare und den viel zu tiefen Ausschnitt. Und an das, was sein Vater mit ihr angestellt hatte.
»Ich dachte, er schmeißt sie nur raus. Ich meine, die war zwar eklig, aber keine Bedrohung. Trotzdem hat er sie gepackt und mit dem Kopf gegen den Kühlschrank geschlagen. Erst dann hat er sie halb nackt aus der Wohnung geworfen.«
Dem Armen war anzusehen, wie sehr ihn das damals mitgenommen hatte, und Rico litt gerade mit ihm. Er erinnerte sich, dass Joes Mutter ihm erst kurz zuvor angeboten hatte, bei ihr zu wohnen, irgendwo drüben in Connecticut. Joe hatte es vorgezogen, in New York zu bleiben, und damit bei seinem Vater.
Bis dahin war der nie gewalttätig gewesen, zumindest nicht dass Rico das wüsste. Besonders überrascht war er dennoch nicht, denn der alte Miles war schon immer aufbrausend gewesen. Er konnte nur vermuten, was in dem Mann vorging.
Joe ballte immer wieder die fahrigen Hände zu Fäusten, rieb die Knöchel über den rauen Jeansstoff und schüttelte schließlich den Kopf.
»Ein paar Tage später hatte er die gleiche Frau wieder mitgebracht«, schloss er seine Geschichte ab. »Wenn Gras also nicht mehr reicht, dann kommt das hier zum Einsatz. Das beruhigt tatsächlich.«
»Ernsthaft?«
Rico vermied es, auf seine Erzählung einzugehen. Was er ihm gerade mitgeteilt hatte, war weit mehr als er erwartet hätte. Selbst unter besten Freunden gab es Dinge, die lieber unausgesprochen blieben.
»Crystal zum Wachsein, Gras zum Herunterkommen, so macht man es normalerweise. Aber wenn du beides nimmst, kommt das Gras viel intensiver und die Wirkung hält länger an.«
Rico wäre gerade froh, wenn das Marihuana überhaupt anschlagen würde. Er war zwar nicht mehr so heillos zerstört wie bei seiner Ankunft, aber auch längst noch nicht wieder auf einem angenehmen Level.
»Also, wenn du nicht willst, okay. Aber ich werde mir was davon genehmigen. Was ich da vorhin gesehen habe ...« Wieder schüttelte er den Kopf, als könnte er damit die grauenvollen Bilder vertreiben. Dann öffnete er das Fenster einen Spalt breit und ließ die kleinen Kristalle in der Pfeife kreisen. »Sei froh, dass du das nicht sehen musstest.«
Das hätte er nicht sagen dürfen, denn nun hatte auch Rico wieder diese Szene vor Augen, kurz bevor der Krankenwagen eingetroffen war und José seinen Namen gehaucht hatte. Dann waren ihm die Augen zugefallen.
Das Blubbern der Pfeife übertönte das flehende Flüstern und lenkte seinen Blick auf Joe. Rico beobachtete ihn genau. Er hatte die Brauen hochgezogen, beinahe so als sei er selbst überrascht, und zum ersten Mal entspannt die Augen geschlossen.
Schon während er den dichten weißen Rauch ausstieß, schien eine wahnsinnige Last von ihm zu fallen.
»Gib mir auch was.«
Sein Freund nickte und winkte ihn zu sich herüber. Ricos Unsicherheit sank, als Joe ihm wie ein alter Profi erklärte, wie er die Pfeife in die Flamme halten und gleichzeitig daran ziehen musste.
»Wie wird das sein?«
Der Blick, mit dem sein Freund ihm nun begegnete, war gleichermaßen hellwach wie auch außergewöhnlich eindringlich, fast schon beruhigend.
Joe grinste. »Es kratzt ein bisschen im Hals und es gibt so einen bitteren Geschmack im Rachen. Aber das geht vorbei. Und dann wird man ganz klar. Alles scheint möglich zu sein.«
Die beiden sahen sich an in dem Wissen, dass Rico gleich eine Grenze überschreiten würde, die er nicht einmal für möglich gehalten hatte. Aber so wie Joe es erklärte, schien es ganz simpel zu sein, nicht mehr fühlen zu müssen, was er jetzt fühlte. Diesen Druck und den Schmerz in seinem Inneren irgendwie dämpfen zu können.
»Dein Herz schlägt schneller, aber keine Sorge, das merkst du gar nicht mehr, wenn dieses Hoch einsetzt. Dann geht es dir direkt besser. Und das hält Stunden an, du schwebst nur so.« Joe grinste noch immer und nickte ihm zu. »Es ist geil. Und keine Angst, ich passe auf, dass du nicht abstürzt.«
So neu und unbehaglich das alles auch war, gab ihm dieses Versprechen tatsächlich ein wenig Sicherheit. Rico nickte, nahm ihm die Pfeife ab und sah sich noch einmal dieses klare kleine Stück Himmel an, von dem er nun kosten würde.
Und läutete damit seinen ganz persönlichen Horror ein.
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