Kapitel 19: Ganz unten

Wenn er nicht schon ein sagenhaft dummes Laster hätte, würde Rico sich jetzt in eine Wanne mit Morphium legen. Sein Heimweg war das eine Problem, aber die Treppen in den sechsten Stock waren die verdammte Hölle.

Trotz der Schmerzen hatte es aber kaum zwei Blocks gedauert, bis seine Reue in eine andere Richtung eingeschlagen war. Marc hatte ihm nur all zu deutlich gemacht, was er gerade riskierte. Nicht, dass er das nicht schon wüsste, aber es von jemand anders zu hören, tat noch mehr weh.

Spätestens als er Celia für seinen Vergleich herangezogen hatte, war etwas in seinem Inneren gerissen. Marc hatte ja Recht, aber er hasste ihn dennoch. Beinahe mehr als er sich selbst verabscheute.

Er hatte keine Ahnung, ob er ihm trauen konnte, aber der Typ war seit einer Ewigkeit der einzige, der ihm die Hand reichte, ihm wirklich Hilfe anbot, ohne gleich eine Gegenleistung dafür zu verlangen.

Und er hatte ihn angegriffen. Er war so ein Idiot. Er war am Ende.

Und völlig fertig, als er im sechsten Stock ankam. Bevor er die Tür aufschloss und sich seiner Familie stellte, musste er erst einmal tief durchatmen. Korrektur: Er musste erst einmal flach atmen, alles andere war zu viel.

In der Wohnung begrüßten ihn die bekannten Gerüche und Geräusche. Seine Mutter hatte etwas gekocht, denn die Kleinen würden bald aus der Schule kommen. In der Küche lief neben dem Radio außerdem noch die Waschmaschine, er würde also gleich die Wäsche aufhängen dürfen.
Aber das Telefonat, das er wahrscheinlich nicht hören sollte, war es, das seine Aufmerksamkeit auf seine Mutter lenkte. Die lief aufgebracht durchs Wohnzimmer und meckerte in den Hörer.

Ihr Gesprächspartner hatte sicher Spaß, und offenbar sprach er kein Spanisch, sonst würde sie sicher nicht nur in ihrer Muttersprache fluchen. So wütend sie auch war, sollte der nicht unbedingt wissen, wie sie ihn gerade betitelte.

Rico überlegte kurz. Heute war einer der gestrichenen Tage in der Wäscherei. Klar also, dass sie zu Hause war. Aber ihre aktuelle Stimmung ließ sogar die Pflanzen eingehen, es war also etwas schief gegangen.

Schon wieder.

Er hatte seine Mutter schon oft so streiten hören, also wusste er auch genau, wann sie ihren hitzigen Monolog beendet hatte und den Hörer auf das Telefon schlagen wollte. Sie schimpfte noch ein letztes Mal, dann wirbelte sie herum und er drückte die Gabel für sie herunter.

»¡Por Dios! Rico, hast du mich erschreckt.«

»Hey Mom.«

Sie stutzte, als sie ihn ansah, denn von dem blaue Auge hatte sie ja noch gar nichts gewusst. Nun, auch egal. Das würde er noch eine Weile mit sich herumtragen, so lange konnte er sich kaum vor ihr verstecken.

»Was, um Himmelwillen, ist denn mit dir passiert?«

Und warum fragte ihn das heute wirklich jeder, dem er begegnete? War doch offensichtlich, dass er eins auf die Schnauze gekriegt hatte.

»Sag mir nicht, dass das einer von Benitos obskuren Freunden war. Dem mache ich die Hölle heiß, wenn er dich ...«

Sie hatte das Telefon längst vergessen und hob schon die Hände, um sein zerschlagenes Gesicht genauer zu untersuchen. Wenn sie ihm jetzt noch mit Spucke über die Wange rieb, drehte er wirklich durch.

»Hör auf, Mom. Benito hat nichts damit zu tun. Das war nur ein Streit, ist halb so wild.«
Seine Kurzatmigkeit und offensichtliche Erschöpfung konnte er ihr aber nicht so leicht verkaufen, dafür hätte sie schon blind sein müssen.

»Rico, in was bist du da rein geraten? Das artet aus, Junge.«

Herrgott noch mal, seine Mutter ging ihm gerade nicht weniger auf die Nerven, als Marc es getan hatte. Und sie hörte auch nicht auf, ihn zu maßregeln.

»Ein Streit. Mom. Mehr nicht. Lass es gut sein.« Ihm dröhnte nämlich schon wieder der Schädel als wollte er gleich zerspringen. »Was war denn gerade bei dir los? Und wem wünschst du Gonorrhö?«

Darüber hätte er wahrscheinlich gelacht, wenn ihm nicht zum Kotzen wäre und sie so unwahrscheinlich wütend. Dass ihr diese Verwünschung peinlich war, roch er bis zum Sofa, da musste er sich gar nicht nach ihr umdrehen.

»Lenk jetzt nicht vom Thema ab, Rico. Erklär mir mal, warum ein harmloser Streit ein blaues Auge verursacht.«

Na, von harmlos hatte er nichts gesagt. Das wäre gelogen. Und sie hatte ihm doch beigebracht, er solle nicht lügen.

»Sorry, Mom, das ist meine Sache. Aber dieses Telefonat geht uns wahrscheinlich alle etwas an, oder?«

Von ihr hatte er auch gelernt hartnäckig zu bleiben, wenn er an etwas Wichtigem dran war. Und nachdem er es geschafft hatte, ohne verbale Wertung seines Zustands auf die Couch zu sinken, hatte er sich wohl eine Antwort verdient. Oder zumindest ausgehandelt.

Es war schon einige Jahre her, dass sie beide diese Abmachung getroffen hatten. Wenn beide ein Problem hatten, über das sie nicht reden wollten, dann hieß es deins gegen meins. Einer fing an und der andere musste nachgeben und ebenfalls plaudern.

Auf diesen Deal versuchte sie wohl gerade anzuspielen, denn sie sah ihn an wie damals, als er mit vier Jahren Grandmas Blumentopf von der Veranda gewischt und aus Angst vor Schelte die Scherben im Gartenhaus versteckt hatte.

»Um es kurz zu machen«, kündigte sie an, »meine Schichten werden nicht nur gekürzt. Die Wäscherei ist pleite und jetzt setzen sie uns alle vor die Tür. Die Kürzung war nur ein Versuch, das Unvermeidbare hinauszuzögern.«

Scheiße, das war zunächst alles, was er dazu sagen und denken konnte. Scheiße, weil sie wieder einen Job verlor, der zumindest fast die Miete begleichen konnte. Scheiße, weil ihm langsam der Magen knurrte und er wusste, dass der Keramiktopf auf dem Küchenregal leer war. Scheiße, weil er sich jetzt erst recht reinhängen musste, um das auszugleichen, bis sie hoffentlich eine Alternative gefunden hatte.

Wie dieser Ausgleich aussehen würde, wusste er jetzt schon, und er hasste allein den Gedanken.

»Das kann doch nicht sein ...«

Auf eine weitere Rüge hatte sie gut verzichten können. »Als ob ich etwas dafür könnte.«

»So habe ich das nicht gemeint.«

Das beruhigte seine Mutter nur mäßig. Sie schnaufte ihren Ärger heraus und stützte dann die Hände in die Hüften, denn anscheinend hatte sie gerade etwas entschieden.

»Nun, die Miete für diesen Monat ist beglichen. Den Rest schaffen wir auch. Aber wenn ich nicht bald einen neuen Job finde ...«

»Was dann?«

»Vielleicht müssen wir dann für eine Weile zu Grandma ziehen.«

»Nein!«

Er sprang nur so von der Couch, und hätte im nächsten Moment kotzen können.

»Nur vorübergehend, Rico.«

»Nein! Das hier sollte schon vorübergehend sein. Wir können doch nicht vorübergehend aus der vorübergehenden Wohnung ausziehen. Und dann noch zu Grandma? In dem Haus wohnen sechs Leute! Vergiss es, da mache ich nicht mit.«

»Rico, krieg' dich wieder ein.«

Als ob er das könnte. Seine Grandma war dreiundsiebzig, super lieb, aber echt schusselig, weswegen auch seine Tante Alba mit ihrer ganzen Familie dort eingezogen war. Angeblich um sie zu unterstützen, aber ihr Mann war praktisch nie da und die Kinder waren schlichtweg die Pest.

Grandma mochte das Gewusel und es war gut, dass sie nicht allein in dem Haus war, aber den Geruch von sechs Menschen bekam man einfach nicht mehr aus den Klamotten.

Da wohnen mit zehn Leuten in drei Schlafzimmern? Und José und Celia traumatisieren? Nur über seine Leiche.

»Niemals.«

»Alles klar, Wunderknabe, dann schlag doch mal etwas vor. Ich bin schon gespannt. Was darf es denn sein für den Herrn, das Hilton oder vielleicht Ritz-Carlton? Wir sind pleite, Schlauberger. Das hier ist das Beste, das wir uns noch leisten konnten.«

»Nein, sind wir nicht.«

Das war kein bloßer Wunschtraum, wie sie wahrscheinlich annahm. Er hätte immerhin noch eine Möglichkeit, auch wenn ihm die genauso wenig schmeckte wie ihr.

»Mach die Augen auf, Rico. Wir sind ganz unten angekommen.«

»Nein, sind wir nicht!« Scheiß auf gute Manieren. »Keiner wird schon wieder umziehen.«

»Ach Schätzchen, du tust ja beinahe so als wäre das das Ende der Welt.«

»Es war schon das Ende meiner Welt.«

Sein Blick drückte pure Verzweiflung aus und die mischte sich gerade mit Wut und einem Vorwurf, der seiner Mutter das Herz brechen würde. Aber seit neun Monaten war er schon auf dem Weg nach unten.

»Du hast keine Ahnung, wie das für mich gewesen ist. Meine Klamotten in Plastiksäcken aus dem Haus zu schleppen, während sie uns anstarren, als würden wir in der Gosse verschwinden. Ich habe seitdem keinen meiner alten Freunde gesehen. Und diese neue Schule. Mitten im Jahr.«

»Du weißt genau, dass wir keine andere Möglichkeit hatten. Zu Grandma willst du ja nicht, und mehr als das hier war nicht drin. Eine neue Schule ist nicht ...«

»Hast du gewusst, dass ich sofort zu der Latino-Randgruppe geschoben wurde, weil sie ‚den gleichen kulturellen Hintergrund' haben? Einen, der sie für sämtliche Schikanen freigibt, die man sich nur ausdenken kann. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass man vor denen sicher ist. Im Gegenteil, du hast keine Ahnung, wie viele von denen ein Klappmesser dabei hatten. Zum Teil aus Trotz, aber auch um sich vor den anderen zu schützen. Oder selbst jemanden aufzumischen.«

Der entrüstete Blick seiner Mutter war fest auf ihn gerichtet. »Warum hast du mir das nicht gesagt? Ich hätte doch ...«

»Du hättest gar nichts tun können. Ich bin keine fünf mehr, es reicht nicht, den Eltern der anderen Kinder was über Rassismus zu erzählen und dann spielen alle brav miteinander! Du weißt genau, wie hart das sein kann. Vielleicht hätte ich es dir erzählen können, aber dafür hättest du überhaupt mal da sein müssen.«

Allmählich wurde auch seine Mutter wütend, das sah er genau. Nicht genug damit, dass er sich plötzlich für ihre Herkunft zu schämen schien, auf die er lieber hätte stolz sein sollen. Sie als unfähig und vielleicht noch als schlechte Mutter hinzustellen, ließ ihre Stimme nun an Lautstärke gewinnen.

»Du wirfst mir vor, nicht für euch da zu sein? Wie kannst du nur? Ich habe alles für uns getan! Seit Monaten hatte ich keinen Tag mehr frei, damit ihr versorgt seid. Meinst du, mir gefällt es, mit drei Jobs zu jonglieren, während du dich da draußen herumtreibst und Gott weiß was mit dir anstellen lässt? Du bist sechzehn, Rico, sechzehn!«

Er konnte es nicht mehr hören. Jedes Mal kam sie mit diesem Mist um die Ecke, wenn sie sich nicht mit ihm und seinen Sorgen auseinandersetzen wollte. Als sie wieder mit diesem verhassten Thema anfing, verlor er ebenfalls die Kontrolle.

»Ich gehe nicht wieder dort hin!«, brüllte er sie an. »Ich war da ganz allein. Monatelang. Deinetwegen. Weil du unbedingt hierher ziehen wolltest. Ich habe versucht, das zu schlucken, aber mir reicht's, Mom. Ich kann nicht mehr.«

Er wusste, dass er ihr damit wehtat, aber in diesem Augenblick war ihm das völlig egal. Vielleicht war es sogar seine Absicht gewesen, sie genau so zu kränken wie sie ihn vor einigen Monaten. Und damit platzte ihr der Kragen.

»Schluss damit, Rico! Du gibst mir nicht die Schuld dafür, dass du geschmissen hast. Der Abbruch war deine saublöde Idee. Du willst den Erwachsenen spielen? Dann hör auf zu quengeln und beiß dich durch den Mist, den du verbockt hast! Und wenn ein Umzug nötig wird, packst du gefälligst mit an.«

»Nein, Mom, vergiss es! Eher geh ich auf den Strich, als dass die beiden die gleiche Scheiße durchmachen!«

Es ging so schnell. Rico wusste kaum, wie ihm geschah, als sich sein Blickfeld um neunzig Grad drehte. Er spürte nur Entsetzen und das Brennen auf seiner Wange. Sie hatte ihn geschlagen. Zum ersten Mal im Leben.

»Mamá?«

Sein Herz blieb beinahe stehen, als die zittrige Stimme seines kleinen Bruders vom Flur aus zu ihm herüber drang. Das hätte er nicht sehen dürfen. Und nichts davon hätte er hören dürfen.
Nein, nicht José.

Sein entrückter Blick huschte von Rico zu ihrer Mutter, die selbst nicht fassen konnte, was sie gerade getan hatte, und wieder zurück zu seinem geschundenen Gesicht. Als hätte er Medusa persönlich in die Augen gesehen, erstarrte der kleine Junge angsterfüllt.

»José«

Als ihm Tränen über die Wangen liefen, streckte ihre Mutter die Hände nach ihm aus. Das löste ihn aus seiner Starre. Vor Schreck ließ er seinen Rucksack fallen und lief so schnell er konnte in sein Zimmer. Die Tür schloss sich mit einem hölzernen Knall und ließ sie mit vor den Mund geschlagenen Händen zurück.

Das hatten sie gehörig versaut.

Als seine Mutter zitternd Luft holte, wusste er, dass sie jetzt keine Hilfe für den Jungen war. Er würde das richten müssen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top