Kapitel 18: Keine Wahl
»Ist das dein Ernst?«
»Kann doch nicht wahr sein ...«
Sie beide waren von dieser Begegnung nicht gerade begeistert. Man sollte meinen, die kürzlich ausgesprochene Drohung hätte Eindruck hinterlassen. Aber Rico hatte weder den Nerv noch die Kraft, sich mit dem Kerl auseinanderzusetzen. Vielleicht konnte er ihn aber umgehen.
»Kannst du dir direkt sparen, ich habe nur mein Rad abgeholt.«
Als er versuchte, an ihm vorbei zu kommen, griff der schlicht nach seinem Arm. Kaum etwas hätte ihn besser stoppen können, denn nach der Behandlung durch Camilos Schläger schrillten alle Alarme, sobald man ihn auch nur antippte.
Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht stützte er sich auf den Lenker und holte angestrengt Luft. Dabei verzog der irre Stalker die kräftigen Brauen und musterte ihn skeptisch.
»Was ist denn mit dir los?«
Als ob ihn das etwas anginge. Die Anstrengung verwandelte sich langsam in Wut, auch wenn er wirklich nicht in der Position war, sich jetzt aufzuspielen, funkelte er ihn böse an. Aber der Kerl ließ sich nicht so leicht beeindrucken wie seine dämlichen Kunden.
»Scheiße, Rico, was ist denn passiert?«
Was zum ...? Woher kannte er seinen Namen, verdammt?
Irritiert wich er vor ihm zurück, was wenig effektiv war, denn er hing immer noch in seinem Klammergriff fest und sein eigenes Fahrrad blockierte ihm den Weg. Sein Fluchtversuch scheiterte kläglich. Scheiße noch mal.
Der Fremde sah ihn prüfend an, wobei sich aber auch Mitleid in seinen Blick mogelte. »Du erinnerst dich wirklich nicht mehr an mich, oder?«
»Hilf mir doch auf die Sprünge.«
»Restaurant Ming. Es war letzten Sommer. Du warst Küchenhilfe. Klingelt da was?«
Nicht wirklich. Der Typ sah nicht aus, als wäre er dort Stammgast gewesen. Das waren eher unscheinbare Gestalten. Aber wie sollte er sonst wissen, dass Rico dort gearbeitet hatte? Mit verzogenen Brauen schüttelte er den Kopf.
»Ich habe da gekellnert. Marc. Hm?«
Im Geiste ging Rico eine bekannte Szene aus dem Laden noch einmal genau durch. Das mies gelaunte Gesicht von Mrs. Ming hatte er deutlich vor Augen, die drei Köche ebenfalls. Auch an die beiden Kellnerinnen mit den viel zu hohen Stimmen konnte er sich erinnern, die waren Zwillinge gewesen, wenn er richtig lag.
Dann sortierte er die restlichen Kellner und dabei fiel ihm ein Portrait besonders auf, aber das hatte, wenn überhaupt, nur Ähnlichkeit mit dem aufdringlichen Kerl vor ihm. Wobei ...
»Ach du Scheiße, der viel zu hübsche Kellner. Ja, da war ja was.«
Dieser Marc verzog die Lippen zu so etwas wie einem Lächeln, denn auch ihm war klar, dass er sich rein optisch ordentlich verändert hatte. Kein Wunder, dass Rico Schwierigkeiten hatte, ihn wiederzuerkennen.
»Und was ist mit dir passiert? Zwischenzeitlich für Men's Health gemodelt?«
Was zynisch wirken sollte, könnte vielleicht seinen baldigen Abgang einleiten, denn der Kerl hörte nicht auf zu lächeln, verzog aber die Brauen noch mehr. Nein, das zog bei ihm nicht. Mist.
»Rico, ernsthaft. Wer hat dir das Veilchen verpasst? Und vor allem, warum?«
»Na, na, du Mittelschicht-Clooney, so gut kennen wir uns dann doch nicht.«
Aber sobald er das gesagt hatte, brannte sich dieser intensive braune Blick in ihn hinein, dass er seine Meinung vielleicht doch noch einmal revidieren musste. Was er neulich noch für düster gehalten hatte, wirkte jetzt eher warm und irgendwie sogar einladend. Und in gewisser Weise besorgt, was ihn skeptisch bleiben ließ.
Warum sollte sich der Kerl für ihn interessieren? Sie hatten nichts miteinander zu tun, und wenn er nicht ständig in seinem Vertriebsgebiet herumrannte, würde sich das auch nicht ändern. Und ein blaues Auge machte noch keinen Sommer, so ähnlich ging dieses Sprichwort doch.
Marc ließ ihn endlich los, aber noch lange nicht gehen. Stattdessen stützte er einen Arm auf seinen Lenker, damit er ja nicht einfach davon düsen konnte.
»Weißt du, ich erinnere mich an einen aufgeweckten Jungen, der ständig Unfug getrieben hat. Der Glückskekse von den Tabletts gemopst und Schokoladenpudding in der Kühlkammer gelöffelt hat, bis die alte Ming ihm den ganzen Abwasch aufgedrückt hatte. Und selbst dabei hat er gelächelt und weiter Blödsinn gemacht.«
Die wenig charmante, wenn auch zutreffende Beschreibung seines alten Ichs schürte wieder diese altbekannte Wut, die auch im letzten Gespräch mit seiner Mutter für eine inakzeptable Reaktion gesorgt hatte.
Rico biss sich auf die Lippe, um Marc keinen neuen Grund zu geben, ihn gleich am Kragen hochzuheben. Dass seine Finger aber ungeduldig auf dem Lenker trommelten, konnte er nicht verhindern.
»Dieser Junge hatte keine Sorgen, sondern einfach nur Spaß. Wo ist der hin, hm?«
»Tot. Die Beerdigung war im Mai. Beileidskarten gern per Post.«
Er sollte fester zubeißen, damit er aufhörte, auch noch blöde Antworten zu geben. Vielleicht käme er dann schneller von hier und von dem Blödmann weg.
»Rico, Schluss damit. Ich konnte dich damals gut leiden und ich glaube nicht, dass das nur gespielt war.«
Okay, sein Ton wurde strenger, war aber immer noch irgendwie versöhnlich und das passte einfach nicht zu dieser skurrilen Situation, die ähnlich begonnen hatte wie ihre letzte Begegnung. Und bei der hatte er den Grund für sein Veilchen geliefert. Das grollte er ihm immer noch.
»Du warst mal sehr viel besser drauf und ich frage mich ernsthaft, was mit dir passiert ist, dass du jetzt diesen Schrott an Kinder verkaufst. Zumal du selbst noch eins bist.«
»Ich bin sechzehn.« Als würde ihn das als Erwachsenen ausweisen. »Und was ich tue, geht dich echt nichts an.«
»Das sehe ich anders.«
Zuerst wirkte es, als wollte Marc ihn mit der freien Hand packen, doch als er schon ausweichen wollte, zeigte der lediglich in Richtung Schule.
»Meine kleine Schwester ist gerade im Abschlussjahr. Sie ist klug, hat wirklich Potential und ist im Begriff, nächstes Jahr aufs College zu gehen. Aber im Moment hat sie so eine nervende Partyphase. Wenn hier also Gras und Schlimmeres vertickt wird und das ihr Weiterkommen behindert, geht mich das sehr wohl etwas an.«
Okay, das war also der Grund dafür, dass er hier herumlungerte, er stalkte seine eigene Schwester? Jetzt war Rico sicher, dass der Typ wenigstens ein bisschen irre war, und das verstärkte seinen Wunsch, ganz schnell zu verschwinden.
»Ich habe dich davonkommen lassen, weil ich nicht glaube, dass das wirklich du bist. Aber ich werde nicht zulassen, dass du dieses Zeug in ihre Nähe bringst. Haben wir uns verstanden?«
Er wusste, dass er jetzt einfach Ja sagen und abhauen sollte. Genauso wusste er auch, dass Dreistigkeit längst nicht immer siegte. Aber leider war ihm auch klar, dass er richtig gefickt war, wenn er das Zeug nicht loswurde, denn dann würde Camilo ihn loswerden.
Zwar schienen Messerattacken nicht die bevorzugte Form der Bestrafung zu sein, aber er konnte sich einfach nicht darauf verlassen, dass Benito ihn noch einmal rettete. Er war auf sich allein gestellt, wie seit Monaten schon.
»Rico?«
Mehr als ein Schnaufen hatte er gerade nicht für ihn, denn in ihm brodelte es gefährlich. Marc hatte keine Ahnung, in welcher Scheiße er saß, der konnte gar nicht nachvollziehen, wie schwer es für ihn war oder was er zu tun bereit wäre, um sein altes Leben zurückzukriegen.
Was würde er darum geben, den Kalender einfach ein paar Monate zurückblättern zu können. Aber das konnte er nicht. Und genauso wenig konnte er einfach woanders verkaufen. Er kannte doch niemanden, der ihm den Stoff abnehmen würde und wenigstens einigermaßen vertrauenswürdig war.
»Antworte, Rico.«
»Glaubst du, ich mach das zum Spaß?«, fuhr er ihn nun an. »Ich will das nicht machen, aber ich habe keine Wahl! Ich habe auch Familie und die braucht das Geld.«
»Und weiß deine Mutter, woher das kommt? Sie ist wohl kaum damit einverstanden, dass ihr Sohn auf der Straße dealt. Du bringst dich und andere damit in Gefahr.«
Jetzt kochte seine Wut wirklich über. Der Arsch ging eindeutig zu weit. »Wag es nicht, meine Mutter da rein zu ziehen.«
Aber auch diese Drohung juckte ihn kein bisschen. Oder aber genug, um noch einmal nachzulegen.
»Von uns beiden bin ich der einzige, der überhaupt an sie denkt, oder? Glaubst du, sie will dich im Knast besuchen oder dich von der Straße kratzen, wenn du an die falschen Typen gerätst?«
Rico wandte sich ab, als ein Muskel in seiner Wange zu zucken begann. Das war kein gutes Zeichen und wieder brannten die aufsteigenden Tränen schon in seinem Hals. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er implodierte.
»Und hast du nicht auch eine kleine Schwester? Wie würdest du es finden, wenn sie diesen Mist nehmen würde?«
Das war's. Vorbei, Schluss, er konnte sich auch gleich auflösen. Als der Damm brach, machte ihn seine Unfähigkeit, wenigstens vor einem Fremden die Fassung zu bewahren, nur noch wütender. Aber Marc verwechselte seine Tränen mit Verzweiflung und Traurigkeit.
»Ich habe keine Wahl ...«
»Man hat immer eine Wahl, Rico. Du kannst dich zum Beispiel dazu durchringen, mich dir helfen zu lassen. Oder du bleibst auf deinem Weg und lässt weiter so mit dir umgehen.«
Marc trat einen Schritt zurück und deutete auf seine lädierte Erscheinung, wohl um ihm noch einmal zu verdeutlichen, was er sich selbst antat, wenn er blieb. Er hatte es doch schon versucht, er wollte gehen, und dann war dieses Video aufgetaucht und hatte ihn noch weiter hineingezogen.
»Das hast du nicht verdient.«
Das wusste er selbst. Niemand verdiente es, auf seinem Weg aus dem Sumpf gepackt und wieder runter gezogen zu werden. Er hasste einfach alles daran. Er erstickte an dem Scheiß.
Während Marc weiter irgendwelche beruhigenden Worte murmelte, wischte Rico mit dem Ärmel über seine Wangen.
»Wir finden schon einen Weg.«
Das würde er. Definitiv. Aber allein.
Als Marc seine Tränen bemerkt hatte, hatte er auch seine Deckung fallen gelassen. Und obwohl es höllisch wehtat, legte Rico alles in diesen einen Stoß. Er holte Schwung und warf sich ihm praktisch gegen die Brust, dass Marc ins Taumeln geriet. Dann gab er sich selbst einen Ruck, sprang auf sein Rad und trat so fest er nur konnte in die Pedalen.
Seinen Bodycheck bereute er nur Sekunden später, seine linke Seite heulte auf. Trotzdem hielt er nicht an. Nicht, als Marc ihm hinterher rief. Nicht, als seine Schnittwunde wieder zu bluten anfing. Und auch nicht, als er vor der vielleicht einzigen Chance davonfuhr, die er bekommen konnte.
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