Kapitel 16: Dominican Tidings

Vor dem heruntergekommenen Haus in Green Point schob er die fahrigen Hände in die Taschen und zog vorsorglich den Kopf ein, um den Shitstorm auszuhalten, den es gleich hageln würde. Er wusste, dass es übel werden würde. Aber je länger er wartete, desto schlimmer krampfte sich sein Magen zusammen.

Dennoch kam es ihm dumm vor, so heimlich durch die Flure zu schleichen, auch wenn er noch die leise Hoffnung hatte, dem Ganzen irgendwie entgehen zu können.

Doch Benito saß nicht in seinem Büro. Wenn er nicht einen Kontrollbesuch im Labor unten machte, stünden seine Chancen schlecht, ihn als Schutzschild benutzen zu können. Auf seiner Unterlippe kauend überlegte er, was er jetzt tun sollte.

»Brauchst du etwas?«

Rico ging beinahe an die Decke, als er Ramon so nah hinter sich hörte. Der hatte sich angeschlichen wie eine Katze, bereit ihre Beute hinterrücks anzuspringen. In seiner derzeitigen Rolle als Maus sah Rico ihn nur mit verkniffenem Blick an.

»Ist Benito unten?«

Ramon schüttelte den Kopf. »Unterwegs. Was willst du hier?«

»Ich muss ihn sprechen.«

»Dann ruf ihn an. Ihr wisst, dass ihr hier nicht herumlungern sollt.«

Oh man, er hatte von Ramon nie viel gehalten. Dem Typen war einfach nicht beizukommen. Aber er war längst nicht so schlimm wie die oberste Etage.

Spätestens am Ende der Woche, wenn nicht sogar früher, würde man ihn hier mit rund sechshundert Dollar Einnahmen erwarten, und die könnte er beim besten Willen nicht aufbringen. Ob er ihm also gleich reinen Wein einschenkte und sich seine Abreibung abholte oder noch ein paar Tagen angstvoll verstreichen ließ, machte kaum einen Unterschied.

»Es gibt ein Problem.«

Vielleicht, dachte er aber, könnte die direkte Beichte das Ruder noch herumreißen. Ramon bot ihm die beste Chance dafür, wenn er schon nicht auf seinen Cousin zurückgreifen konnte.

»Was für ein Problem?«

»Ich ... ich habe den Stoff verkauft, aber ...«

»Aber was? Nicht genug dafür bekommen? Die Differenz streichen wir von deinem Anteil.«
Wenn es nur so einfach wäre. »Ich ... habe nichts mehr.«

Ramon lachte. »Na, wenn das dein einziges Problem ist, gratuliere ich. Alles verkauft, was? Das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Na, dann her mit dem Geld und hol dir ein neues Paket von Juan.«

»Ja, also ...«

Als Ricos Hände nicht einmal in seinen Taschen ruhig blieben, wurde sein Gegenüber bereits ungeduldig. »Rico? Was genau hast du nicht mehr?«

Ja, der Groschen war gefallen und Rico war zu einem Häufchen Scham geschrumpft. Erst als Ramon einen Schritt auf ihn zu machte, kotzte er ihm die Wahrheit vor die Füße.

»Das Geld. Das Geld ist weg. Jedenfalls das meiste. Und der Rest von dem Stoff. Ich wurde erwischt.«

Erst jetzt bemerkte Ramon, dass Rico unbeholfen das Bündel Scheine herausangelte, das er noch aus seinem Zimmer geholt hatte. Das war seine eiserne Reserve, aber vielleicht würden ihn die knapp einhundert Dollar, die er bis heute mit seinen Verkäufen zusammenkratzen konnte, wenigstens ein bisschen beruhigen.

»Mehr habe ich nicht.«

Eine Weile war es still. Nicht nur beunruhigend, sondern bedrohlich still, und er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er eigentlich bescheuert war, sich an diesem Geschäft beteiligen zu lassen.

Seine Zweifel waren offenbar berechtigt, denn Ramon hatte nicht vor, ihn zu trösten und ihm zu sagen, dass alles gut werden würde. Er nahm auch das Geld nicht an, das in Ricos Händen zitterte.

Er stand einfach nur da und starrte ihn an.

»Ich kann das Geld besorgen«, versprach er plötzlich, ohne auch nur zu ahnen, wie er das anstellen sollte. »Ich verzichte auf meinen Anteil und ... und ... in ein paar Wochen habe ich es zusammen. Ich gehe arbeiten und ... Joe. Von Joe kriege ich noch was zurück. Ich schaffe das, ich verspreche es! Ich brauche nur ...«

Ramon unterbrach sein Stammeln, indem er ihm das Geld aus der Hand riss. »Raus.«

Raus? Hatte er sich gerade verhört? Sollte das etwa bedeuten, er könnte an einem Tag gleich zweimal den Kopf aus der Schlinge ziehen? Er wollte sich schon bei ihm bedanken.

Von wegen. Ramon packte ihn am Arm und zog ihn hinter sich her den Flur hinunter. Ricos Blick huschte über die abgenutzten Wände und die zerkratzen Türen, die aussahen als hätte ein Tiger versucht, sich zu befreien.

Am Ende bogen sie links ab und Rico verlor den Überblick. Am anderen Ende lag die Kellertreppe, die zum Labor hinunter führte, aber hier war er noch nie gewesen. Das war verbotenes Terrain, denn das hier war die Chefetage in dem einstöckigen Gemäuer.

Jetzt bekam er richtig Angst.

Ramon nutzte seine reine körperliche Überlegenheit, um ihn herumzuschupsen wie ein Kind eine Puppe über den Boden schleifen ließ, und stieß ihn in einen winzigen Raum hinein. Mit einem hallenden Klicken warf die nackte Glühbirne einen Kegel grellen Lichts auf einen einsamen Stuhl.

Das sah verdächtig nach Horrorfilm aus.

Als hinter ihm die Tür ins Schloss fiel, fuhr er vor Schreck zusammen. Das war nicht sein Ernst. Das durfte nicht wahr sein ...

Hektisch sah Rico sich um. Die Fenster waren von außen mit Brettern beschlagen worden, innen hingen noch uralte Vorhänge, die das Ambiente auch nicht verbesserten. Ein nackter Raum, die höhnische Glühbirne und die schaurige Sitzgelegenheit als einzige Einrichtung, und auch hier hatte ein Tiger gewütet. Ihm schien, als rückten die verdammten Wände sofort näher.

Seine einzige Chance war also die Tür. Aber vor der wich er nun zurück. Was auch immer nun auf ihn zukommen sollte, es würde durch diese Tür treten.
  


In seiner derzeitigen Wahrnehmung waren bereits Stunden vergangen, als er Stimmen im Flur hörte. In Wirklichkeit hatte man ihn gerade einmal acht Minuten warten lassen. Sein erster Impuls war es, nach ihnen zu rufen, in der Hoffnung, sie ließen ihn hier heraus.

Dem widerstand er glücklicherweise. Denn hier hatte er eigentlich nichts zu suchen, und wer hierher kam, hatte eine weit höhere Stellung als er und wäre nicht einmal annähernd so nett, wie er es gerade gebrauchen könnte.

Er schickte ein Stoßgebet gen Himmel und rügte sich selbst für die Anbetung des Weihnachtsmannes, wenn er doch gerade jetzt den Segen Marias brauchte. Aber sie hatte sich eindeutig von ihm abgewandt und schickte ihm die Rechnung. Anwalt, Richter und Henker in einem.

Camilo.

Der Neffe des guten Onkels Eddie glich ihm in keiner Weise. Während Eduardo Ruiz ein geselliger und in vielerlei Hinsicht liebenswerter Mensch war, hatte die nächste Generation nach ihm diese Eigenschaften ins Gegenteil verkehrt.

Camilos tiefdunkle Augen hatten nichts Liebenswertes an sich, in ihnen versank man wie in einem eisigen Tümpel bei Nacht. Und seine deutlich dunklere Haut schien einen Schatten auf Rico zu werfen.

Auch wenn Ramon und Benito ihm rein körperlich locker gewachsen wären, hatte Camilo etwas Verrücktes an sich, das ihn weit gefährlicher machte als seinen Aufräumtrupp.

Der gebürtige Dominikaner war erst nach Eddies Diagnose nach New York gekommen und vielen kam es noch immer so vor, als hätte er etwas Böses mitgebracht. Niemand wagte es, ihn auch nur direkt anzusehen, schon gar nicht, ihm zu widersprechen.

»Guten Tag«, grüßte er ihn beinahe tonlos, und Rico hätte schwören können, er hatte sich gerade eingepisst. »Nun, so gut läuft der für dich gar nicht, hm, Rico?«

Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte seine Stimme den Rückzug angetreten, bevor er auch nur eine Entschuldigung formulieren konnte. Die krächzenden Laute, die aus seinem staubtrockenen Mund kamen, überging sein Boss aber gepflegt.

»Wie ich hörte, hast du mein Geld verloren. Das ist schlimm. Für dich und für mich. Denn jetzt muss ich meine Zeit mit dir verschwenden.«

Der tiefe Ton vibrierte nur so durch den leeren Raum und bescherte Rico das nagende Gefühl von Schuld, obwohl er doch nichts angestellt hatte, und Angst, gleich zu Futter für die Fische im East River verarbeitet zu werden.

»Und die ist kostbarer als das Paket, das an dich verloren gegangen ist. Also, warum setzt du dich nicht und erzählst mir ganz ausführlich, wie du mein Geld verloren hast.«

Eine Falle, das würde Rico auch noch bewusstlos erkennen. Der Sarkasmus in seiner Aussage war eine weitere sehr effektive Drohung, jetzt bloß nichts Falsches zu sagen. Aber anstatt sich darauf vorzubereiten, zu Kreuze zu kriechen, hatte er die Wartezeit damit verbracht, in Panik auszubrechen.

»Rico. Ich habe dir doch noch gar nichts getan, deine Zunge kannst du also noch nicht verschluckt haben. Rede.«

Die blitzweißen Zähne in dem dunklen Gesicht wirkten wie eine schaurige Maske, und sie grinste wissenden Wahnsinn in die Welt. Er sollte wirklich anfangen zu reden, sonst würde er sich als nächstes übergeben.

»Es tut mir wahnsinnig leid«, fing er seine Erklärung an und sah sofort, dass er genau das nicht hören wollte. »Ich war draußen. Habe für dich verkauft. Es ... Ich war vorsichtig, ehrlich. Aber dann ...«

»Wer kam dann? Eine andere Gang oder die Polizei?«

»So ein Typ ...«

»Was für ein Typ?«

Rico konnte nicht ausmachen, ob Camilo Katz und Maus mit ihm spielte oder langsam die Geduld verlor. Der Ausdruck in seinem Gesicht verriet lediglich eine Stinkwut.

Während er beteuerte, dass er den Fremden nicht kannte und nicht wusste, warum er so angepisst war oder warum er ihm alles abgenommen hatte, ohne ihn zu verpfeifen, sprach er immer schneller. Seine Stimme lief so schnell sie konnte, obwohl sie mit ihm zusammen hier festsaß.

»Ich mache es wieder gut, ich verspreche es«, wiederholte er sich nun. »Ich werde dein Geld auftreiben ...«

»Aber natürlich wirst du das. Die volle Summe. Und deinen Anteil daran behalte ich als Entschädigung für die Mühen, die du verursacht hast. Das ist ein großzügiges Angebot, das sollte dir klar sein.«

»Ja, natürlich.«

Sein Murmeln war kaum zu hören, aber er wollte zeigen, dass er mit allem einverstanden war, was diese Situation bereinigen würde. Rico hatte den Blick längst auf den Boden getackert, er wagte kaum, zu nicken, als Camilo ihm auftrug, ein neues Paket zu verteilen.

Da er trotz des vermasselten Abschlusses gut verkaufen konnte, würde er davon absehen, ihn aus dem Rennen zu nehmen, wie er sagte. Er könne sich jetzt beweisen, und wenn er sich nicht wieder so dämlich anstellte, würde er vielleicht sogar mal einen Anteil dafür bekommen.

Das war nicht fair, aber Rico traute sich nicht einmal, das Gesicht zu verziehen. Er wusste, dass er dabei kein Mitspracherecht hatte, also hielt er die Klappe und nahm hin, was ihm noch wie ein Glücksfall erscheinen sollte.

»Ach und Rico«, machte Camilo noch einmal auf sich aufmerksam. »Nur, dass du es nicht vergisst.«

Damit ging er endgültig. Und Rico blieb verwirrt zurück. Zumindest bis zwei andere Kerle den bedrückenden Raum betraten und ihn damit noch kleiner machten. Er kannte die beiden nicht, aber ihm war sofort klar, dass sie ihn nicht freundlich zur Tür begleiten würden.

Jetzt verstand er.

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