Kapitel 11: Nur zwölf Sekunden
Seine gerade noch gelebte Heiterkeit bekam einen Dämpfer, sobald er den Umschlagsplatz in Greenpoint erreichte. Der anhaltende Nieselregen hatte seine Fahrt hierher nicht gerade verschönert, aber erst, als er Joaquin an der bröckeligen zwei Meter hohen Grundstücksmauer stehen sah, rutschte ihm gewaltig etwas auf den Magen.
Wie gewöhnlich stieg Rico vor dem Tor ab und schon dabei sahen sich die Freunde so abschätzend an, als könnte einer von ihnen gleich eine Waffe ziehen. Skeptisch lehnte Rico sein Fahrrad so an die Mauer, dass es von außen nicht zu sehen war, und legte das Zahlenschloss an.
»Was machst du denn hier?«
»Arbeiten«, erwiderte Joe beinahe tonlos und zog an seiner Zigarette.
»Wie, arbeiten? Wie ist das passiert?«
»Was? Willst du meine Bewerbung sehen? Ich habe jemanden angerufen und ein Freund hat mich zu Benito gebracht.«
Benito hatte keine Freunde, nur Familie und Kunden. Wie dieser Kontakt zustande gekommen war, konnte Rico sich lebhaft vorstellen. Der Kerl war doch echt unglaublich. Er hatte gute Gründe, um Joaquin von dieser Gegend fernzuhalten.
Das hier war einfach nicht seine Liga und er hatte keine Ahnung, was er möglicherweise angestoßen hatte. Mit Sicherheit hatte er mit seinem Telefonterror jeden Kleinkriminellen aus Queens auf sich aufmerksam gemacht.
So ein Idiot.
Aber Rico hatte jetzt keine Zeit, um sich über ihn zu ärgern. Er musste herausfinden, was Benito eigentlich von ihm wollte und was Frank vielleicht zu beanstanden hatte.
Ohne Umschweife ging er an Joe vorbei zum Hintereingang des alten Hauses. Dass der ihm folgte, war allerdings noch beunruhigender als seine bloße Anwesenheit hier. Nun, wenn er selbst zu Benito gegangen war, würde er hier höchstens als Packer angestellt sein. Also klein geschnittene Mengen Gras und abgezählte Pillen in kleine Plastiktütchen füllen und verschließen.
Wenn er dabei nicht die Hälfte in seine eigene Tasche fallen ließ, und Rico hoffte inständig, er wäre nicht so sagenhaft dämlich, dann würde ihm hier so schnell nichts passieren. Und vielleicht, nur ganz vielleicht machte er seinen Hilfsjob hier gut genug, dass er sich einen gewissen Schutz davon versprechen konnte.
Das zumindest suggerierte Benitos bullige Gestalt, selbst noch, wenn der wie jetzt mit dem düsteren Ausdruck und einer geradezu unterirdischen Laune von seinem winzigen Schreibtisch aufblickte. Kein Wunder eigentlich. Benito gehörte immer noch zum Aufräumtrupp, aus gutem Grund.
Aber auch wenn es aussah, als würde er ihn gleich in Stücke reißen, war Rico vor ihm sicher.
Familie.
Auf diese Verbindung konnte er immer vertrauen, um nicht hektisch zu werden. Denn in derselben unsicheren Situation vor Camilo zu stehen, hätte ihn augenblicklich umgehauen.
»Hallo«, grüßte er ihn einigermaßen ruhig. »Entschuldige, dass ich eben so kurz angebunden war. Ich war nicht allein.«
Benito nickt knapp. »Verstehe ich. Publikum ist in unserer Branche nicht hilfreich, das weißt du ja.«
Dieser Tonfall war allerdings ungewöhnlich. Er hatte etwas Mahnendes. Ganz ähnlich verhielt sich seine Mutter, wenn sie ihn überführt hatte, mal wieder nicht nach ihren Regeln gespielt zu haben. Sie wusste längst, was er aus ihrer Sicht falsch gemacht hatte, wollte ihn aber mit solchen Andeutungen ins Schwitzen bringen.
Das war eine hinterlistige Art, auf ein Problem aufmerksam zu machen. Stattdessen könnte man doch einfach die Karten auf den Tisch legen. Da Rico dieses Verhalten nicht fremd war, löste es schon lange keine Furcht mehr in ihm aus.
»Warum wolltest du mich sprechen?«, lenkte er das Thema wieder in die relevante Richtung. »Und das nicht allein, wie ich angenommen hatte.«
Joaquin schnaufte missmutig angesichts der Nachfrage nach seinem Aufenthalt hier, aber damit würde er sich später beschäftigen. Wollte er eben noch Karten auf einem Tisch sehen, schob Benito ihm nun sein Smartphone entgegen.
»Kommt dir das bekannt vor?«
Rico prüfte das Standbild des Videos, das er ihm da vorlegte, und kam sich im gleichen Moment überrumpelt vor. Es zeigte ihn und Joaquin vor dem Hintereingang von El Solet Contracting, wobei man Joe praktisch nicht erkannte.
Als Benito das Video abspielte, war allerdings deutlich sein eigenes Gesicht zu sehen, und dazu das fette Paket Marihuana, das er aus seinem Rucksack zog.
Scheiße.
Oh verdammte Scheiße ...
Wie hatte er denn die Kamera nicht sehen können? Er achtete doch sonst so gründlich auf seine Umgebung, selbst die Herstellernamen der alten Baumaschinen auf dem Firmengelände hatte er noch im Kopf.
»Wenn das in die falschen Hände gerät, könnte das massive Probleme verursachen. In erster Linie für dich, versteht sich. Aber auf uns würde das auch ein schlechtes Licht werfen. Unsere Kuriere sollten ihrer Arbeit sorgsamer nachgehen.«
Rico wurde umgehend schwindelig, denn die Drohung seines Cousins hallte nicht nur in seinem Oberstübchen wider. Sie ließ ihn sich auch furchtbare Szenarien ausdenken, denen er zum Opfer fallen könnte.
Wenn bekannt würde, wen er da beliefert hatte, würden ihre Kunden es sich wohl zweimal überlegen, ob sie sich dem Risiko aussetzen wollten. Weniger Kunden bedeuteten weniger Einnahmen und das würde man ihm nicht verzeihen.
Aber viel schlimmer wäre es, wenn sein Name heraus käme. Es würde nicht lange dauern, bis er auf einer Polizeiwache sitzen würde. Er war zu jung für den Knast, für die Typen dort wäre er ein gefundenes Fressen. Das würde er nicht überleben.
Seine Festnahme würde sicher bei ihm zu Hause stattfinden, in seinem persönlichen Fuchsbau, vor den Augen seiner Mutter und seiner Geschwister.
Oh Gott, seine Mutter ... Was würde sie davon halten, über ihn denken? Wie sollte er ihr das erklären? Sie wäre bitter enttäuscht von ihm, egal aus welchen Gründen er es getan hatte.
Würde sie ihm das je verzeihen? Oder wäre er der ausgestoßene Sohn, vor dem sie ihre anderen Kinder beschützen wollte?
Der Schwindel wurde immer stärker. Außerdem roch es hier so verbrannt wie vergessener Toast, dass ihm beinahe schlecht wurde.
Himmel, was sollte er jetzt tun?
Über seine Verzweiflung hinweg überhörte er beinahe, dass Benito mit ihm sprach, wäre da nicht dieser versöhnliche Ton in seiner Stimme. Obwohl er dem nicht gleich traute, sah er zu seinem hünenhaften Cousin auf.
»Rico, das hier«, er wedelte mit dem Smartphone vor ihm herum, »muss nicht das Ende sein. Die Firma kann das für dich klären.«
Überrascht blinzelte er ihn an. »Wirklich? Wie?«
»Darum kümmere ich mich schon. Wir sorgen dafür, dass das hier unter Verschluss bleibt. Aber ich will ehrlich zu dir sein, das wird nicht leicht werden.«
Rico rechnete schon beinahe damit, untertauchen zu müssen. Wäre es in der Stadt noch sicher für ihn, wohin sollte er gehen?
»Für unsere Hilfe erwarten wir allerdings auch etwas von dir.«
»Was kann ich denn tun?«
Mit einer ungewohnten Eleganz schritt Benito um seinen Schreibtisch herum und nahm in dem kleinen, quietschenden Bürostuhl Platz. Dabei faltete er die Hände und machte allein mit seinem Blick klar, dass er kein Nein gelten ließ.
»Mir passt das selbst auch nicht, aber bei unseren Abnehmern kann ich dich nicht mehr einsetzen. Zumindest für eine Weile. Ich finde schon einen Ersatz, aber du wirst woanders gebraucht.«
Oh bitte nicht ...
»Du bist jung, unscheinbar, leicht zu übersehen.«
Angesichts dieser zweifelhaften Komplimente kam er sich noch mickriger vor als üblich, aber seine Bewertung gereichte ihnen nun zum Vorteil.
»Wir haben da eine Klientel, für die du der perfekte Ansprechpartner bist. Genau deine Altersgruppe.«
»Was?«
»Die Kids bekommen ihren Stoff auf der Straße, aus verunreinigten Quellen, gestreckt mit billigem Pulver und was weiß ich für einer Scheiße. Unsere Produktion garantiert saubere Ware und davon profitieren unsere Kunden. Und du wirst dafür sorgen, dass diese Kids unseren Kundenstamm ergänzen.«
Nur langsam erkannte er seine neue Rolle in der Szene und mit jeder Sekunde, in der diese Erkenntnis wuchs, verlor er ein weiteres Stück von sich selbst. Ein klein wenig mehr Freiheit, ein weiteres Stück seiner Zukunft.
»Deine erste Charge wartet bereits. Du fängst gleich morgen an.«
In seinem Kopf hallte es dumpf, so als sei sein ganzer Körper hohl. Das kam ihm so unwirklich vor. Hier stand er nun und sollte Ja und Amen sagen, wenn ihn doch beim bloßen Gedanken daran die Panik überkam.
»Vergiss nicht, was auf dem Spiel steht, Rico.«
Als könnte er das. Seine Existenz, die Gnade und der Ruf seiner Mutter und einige Jahre Haft waren der Einsatz, den er bringen musste. Eine Niederlage konnte er sich jetzt nicht leisten. Nie wieder.
Erst viel später würde er mit Verbitterung feststellen, dass dieses belastende Video gerade einmal zwölf Sekunden lang war.
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