Bonus 45: Das Paradies hat geöffnet
Verdammt. Resigniert biss Rico sich auf die Lippe und stieß einen gepressten Seufzer aus, während er sich darüber ärgerte, sein Zimmer nicht abschließen zu können. Timing war definitiv seine größte Schwäche.
Das letzte Mal hatte er so beschämt den Kopf eingezogen, als sie sich zur Arbeit hatte verabschieden wollen, während er gerade masturbiert hatte. Sie hatte ähnlich entsetzt reagiert und sie hatten nie wieder darüber gesprochen.
»Du hast es ihr noch nicht gesagt«, stellte Marvin leise fest.
Aber er wusste, dass das nicht die Lösung war. Soloarbeit war völlig normal für einen Teenager, das war auch seiner Mutter klar. Aber von seiner Orientierung hatte sie so nicht erfahren sollen. Nicht, indem sie ihn mit einem Jungen erwischte und sicher noch nicht einmal geahnt hatte, dass er eben doch nicht so normal war.
Betreten schüttelte er den Kopf. »Es war so viel los und ...«
»Nein, nein. Ich verstehe das, ehrlich. Aber vielleicht sollte ich lieber gehen, damit du mit ihr reden kannst.«
Zwar wusste er, dass Marvin Recht hatte, aber er war gerade nicht sicher, ob sie überhaupt darüber reden könnten. Er wusste nicht, wie seine Mutter dazu stand. Und in diesem Moment hatte er eine Heidenangst davor, dass diese unausgesprochene Tatsache ähnlich bedrückend zwischen ihnen stehen würde wie seine Arbeit für Benito.
»Du rufst mich doch an, oder?«
Das durfte er nicht zulassen. Das schnelle Geld im falschen Milieu war eine vorübergehende Geschichte gewesen, aber seine Beziehung zu Marvin sollte sicher nicht an Heimlichtuereien ersticken. Dafür war sie viel zu kostbar.
Rico atmete tief durch, denn er hatte gerade etwas entschieden. Dann schüttelte er den Kopf und griff nach Marvins Hand.
»Nein. Komm mit.«
»Was, jetzt?«
»Jetzt.«
Noch im Gehen schlang Rico seine Finger fester um Marvins und steuerte mit ungekanntem Elan auf das Wohnzimmer zu, in dem seine Mutter gerade mit Heiterkeit ihre Überraschung zu kaschieren versuchte.
Noch über die Schale mit einem dampfenden Reisgericht gebeugt erhaschte sie einen Blick auf die Händchen haltenden Jungs und presste die Lippen aufeinander, als sie sah, wie blass ihr Sohn gerade wurde.
»Mom.«
Seine Stimme war überraschend fest, zitterte viel weniger als er befürchtet hatte. Davon ermutigt straffte er die Schultern und holte noch einmal tief Luft.
»Marvin ist nicht nur irgendein Freund. Wir sind zusammen. So richtig.«
Jap, das war im Grunde alles, was er zu sagen hatte, aber das hätte durchaus eleganter formuliert werden können. Weil ihm aber einfach nicht einfallen wollte, wie er diese Aussage festigen oder sinnvoll anreichern konnte, stieg ihm die Nervosität zu Kopf.
Er spürte Hitze seinen Hals hinauf und auf seine Wangen kriechen und sicher schwitzte er auch schon. Sein Magen meldete jedenfalls Unwohlsein, das dringend eine Antwort benötigte, um sich zu legen. Allerdings war es nur seine zwölfjährige Schwester, die es ganz deutlich ansprach.
»Du bist schwul?«
Gewagte These, funktionierte aber.
»Celia«, zischte ihre Mutter sie an, sie solle sich zurückhalten.
Da war es wieder, das kleine Großmaul, das der Logik nach gar nicht mit ihm verwandt sein konnte. Was gäbe das noch für Ärger, wenn sie erst einmal ein pubertierender Teenager war. Auch er hätte normalerweise gemahnt, nicht so unhöflich mit der Tür ins Haus zu fallen, aber das war gerade seine Steilvorlage. Und eine andere würde er nicht bekommen.
»Ja. Ja, bin ich. Und, Mom, ich mag ihn wirklich sehr.«
Es war ihm wichtig, das zu betonen, denn diese Beziehung war von zu großer Bedeutung, als sie nicht auch mit selbiger zu behandeln. Neben sich hörte er Marvin leise seufzen und spürte sogleich, wie er seine Hand drückte, um ihm zu zeigen, dass er gerührt war und stolz und dass er hinter ihm stand.
Doch sein flehender Blick war weiterhin auf seine Mutter gerichtet.
Die klemmte sich nun eine lose Strähne ihrer locker gebundenen Frisur hinters Ohr und strich ihre Bluse glatt, ehe sie auf die beiden zuging. Und sie lächelte.
»Na dann. Marvin.«
Während sie ihm die Hand reichte, war Rico so gespannt wie Stacheldraht, doch Marvin kam dieser Geste scheinbar ganz ohne bewusstes Zutun entgegen. Aber das war keine förmliche Begrüßung, wie er schnell feststellte. Seine Mutter schloss immer noch lächelnd beide Hände um seine und schien mindestens so nervös zu sein wie ihr Sohn.
»Wir feiern gerade die vielen guten Neuigkeiten der letzten Tage mit traditionellen puertoricanischen Köstlichkeiten. Möchtest du zum Essen bleiben?«
Damit hatte Marvin sicher nicht gerechnet und so sah er sie gerade auch an. Doch der offene und fröhliche Junge ließ sich nur all zu schnell vom Angebot seiner Mutter überzeugen.
Er strahlte sie mit diesem umwerfenden Lächeln an. »Ja. Ja, sehr gerne.«
»Setz dich doch schon mal.« Mom nickte in Richtung Couch, vor der schon alles für eine sehr entspannte Mahlzeit angerichtet war. »Ich hole noch einen Teller.«
Marvin verbuchte das grinsend als Sieg, als er den komplett überforderten Rico ansah. Der nickte ihm zu, benannte schnell seine Geschwister und überließ ihn ihrer kritischen Obhut, um seiner Mutter nachzueilen.
In der Küche stellte er sie. »Mom? Ist alles okay?«
Offenbar handelte er heute schneller, als er denken konnte, denn seine Frage war etwa so aussagekräftig wie Toastbrot und seine Stimme dafür ziemlich dünn. Er musste genauso hilflos auf sie wirken wie er sich fühlte.
Erneut überrascht wirbelte sie zu ihm herum und kam schnurstracks auf ihn zu.
»Ja. Ja, natürlich.«
Trotz ihrer Bestätigung legte er innerlich die Ohren an, als sie mit beiden Händen sein Gesicht umfasste und ein Lächeln hervorpresste, das er einfach nicht deuten konnte.
»Es ist alles in bester Ordnung.«
Erst ihre zittrige Stimme verriet, dass sie nur mit Mühe die Tränen zurückhielt. Seine winzig kleine Hoffnung, sie würde wirklich akzeptieren können, was er ihr eben gestanden hatte, war sofort wieder verschwunden.
Doch während er an dieser Unsicherheit zu ersticken drohte, schlang sie plötzlich die Arme um ihn.
»Natürlich, mein Liebling. Natürlich ist es das.«
Sie drückte ihn so fest an sich, dass er sich kaum rühren konnte. Er spürte überdeutlich die Liebe in ihrer herzlichen Umklammerung, ließ sich von dieser sanften Befürwortung einlullen und klammerte sich Halt suchend an seine Mutter.
Er fühlte die Wärme ihres Körpers, roch ihr Shampoo und den natürlichen Duft ihrer Haut und hoffte, dass die losen Strähnen, die ihn an der Nase kitzelten, dafür sorgten, dass er niesen statt weinen musste.
»Ach Mijo, ich bin so stolz auf dich. Du hast endlich aufgehört, die Luft anzuhalten.«
»Mamá«
Und während sie ihn hielt, ließ er endlich einmal los. Er hielt die Tränen nicht länger zurück, die ihn von allem befreiten, was er sich selbst auferlegte hatte. Fort war die Angst, nicht gut genug zu sein.
Als die Sorge zusammen mit all der Last der letzen Wochen von ihm abfiel, vergaß er seinen falschen Stolz. Vergaß er seine Bedenken. Vergaß die Welt um sie herum. Er schmiegte sich in die Arme seiner liebenden Mutter, die nur darauf gewartet hatte, dass er zu sich selbst fand.
Wenn auch alles andere in die Brüche ging, sie war immer sein Anker gewesen. Sie hatte ihn schon immer so gehalten. Wie hatte er das vergessen können?
»Aber«, holte sie ihn ganz unvermittelt wieder ins Jetzt. »Du musst mir alles noch mal ganz genau erzählen. Ich will alles wissen, ja?«
Rico zog die Nase hoch und blinzelte mit den immer noch tränenfeuchten Augen, während Kopf und Nacken Probleme damit hatten, nicht an diesen furchtbaren roboterhaften Tanzstil der 80er erinnernd ein Nicken hervorzubringen.
»Der ist süß.«
Das Keuchen, das er ausstieß wäre ein Lachen geworden, würde er nicht immer noch zu viel Flüssigkeit produzieren. Aber dieses Geräusch erzeugte sie stellvertretend für ihn, während sie in typisch mütterlicher Manier über seine Wangen wischte.
»Alles gut?«
»Warte kurz.« Er rieb sich selbst noch einmal mit dem Ärmel seines Pullovers die letzten Spuren aus dem Gesicht und versuchte, ein Lächeln anzudeuten. »Okay, ja.«
In vertrautem Einklang und mit einem zusätzlichen Set Geschirr ausgerüstet gesellten sie sich wieder zu der illusteren Szene im Wohnzimmer. José platzte beinahe vor Lachen, während Celia nur schweigend den Kopf schüttelte.
Marvin hatte sich schnell mit den Geschwistern arrangiert und wollte es sich nicht nehmen lassen, dem kleinen Bruder ein besonderes Kunstwerk auf seinen Gips zu zaubern. Wenn die kleine Kichererbse das schon vorgeschlagen hatte, würde er sich die größte Mühe geben.
»Was machst du denn da?«, gluckste der Kleine. »Was soll das denn sein?«
Ein wenig beleidigt sah Marvin ihn nun an. »Das ist ein Fuchs.«
Während José über seine Bemühungen lachte, ließ Celia ihn gänzlich auflaufen.
»Das sieht aus wie ein Stinktier.«
»Was? Nein, nein. Fuchs, eindeutig.«
Mit gespielter Entrüstung zeigte er auf das Gekrakel und hielt die Belustigung des Kleinen aufrecht, während ihre Mutter den Tisch eindeckte und Rico sich neben ihm auf die Couch fallen ließ.
»Was meinst du?«
Rico biss sich auf die Lippe, als er das arme Tier begutachtete, das anscheinend gerade noch überfahren wurde. Er tauschte einen skeptischen Blick mit seinem Bruder, der gespannt die Luft an- und das Lachen zurückhielt, bis er seine Meinung sagte. Leider war er nicht auf Marvins Seite.
»Das ist das schönste Stinktier überhaupt.«
»Ach, komm schon. 1A Fuchs, sag ich dir!«
Als auch Rico nun losprustete und einen Arm um seinen Freund legte, entging ihm der berührte Blick seiner Mutter, die zum wiederholten Male ein Tränchen wegdrücken musste. Sie wusste nicht, wann sie ihren Sohn zum letzten Mal hatte lachen sehen.
Ja, dieser Junge ließ nicht nur sein Herz schneller schlagen. Er brachte auch wieder ehrliche Freude und zarte Farben in sein Leben.
Rico genoss den Klang der ausgelassenen Stimmung, das Gefühl, endlich komplett zu sein und bedachte Marvin mit einem seidenweichen Blick. Als der diesen selig lächelnd erwiderte, konnte und wollte Rico sich nicht mehr zurückhalten. Nie wieder.
Langsam lehnte er sich zu ihm herüber und hauchte ihm einen liebevollen Kuss auf die Lippen. Zum ersten Mal war er sich sicher, dass alles gut werden würde.
ENDE
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