❖ 30 ❖

Jeno:

Es ist wieder einmal mitten in der Nacht, als ich mich endlich auf den Heimweg mache.
Der Freund von Renjun war heute wieder ein paar Stunden bei mir, aber wir sind nicht wirklich weiter gekommen. Diese Zusammenarbeit ist unglaublich anstrengend, und dass der vorlaute, eingebildete Junge mit dem Kaffeebecher plötzlich seinen Mund nicht mehr aufbekommt ist auch nicht gerade hilfreich. Von Musik scheint er nicht wirklich viel Ahnung zu haben, was zu erwarten war, aber wenigstens seine Stimme ist akzeptabel.

Ich glaube ich wäre verzweifelt, wenn der Junge noch nicht einmal singen könnte. Generell erschließt sich es mir noch nicht so wirklich, was Renjun an ihm findet. Eigentlich dachte ich immer, dass der Junge Geschmack hat, aber dieses langweilige Kpop-Sternchen, von dessen Art es im Moment viel zu viele gibt, ist definitiv nicht das, was man unter gutem Geschmack versteht. Diese 0815 Menschen haben keine eigene Persönlichkeit, sie sind wie Marionetten ihres Entertainments, eingebildet bis zum geht nicht mehr und langweilig. Manipulativ. Ignorant.

Dieser Jaemin unterscheidet sich kein Stück von Millionen anderen, talentlosen Sängern.
Ich richte mich gedanklich schonmal darauf ein, sein tolles Lied alleine zu schreiben und nach der Vorstellung des kleinen Prinzen umzuschreiben. Wie ich meinen Job doch liebe.

Seufzend setze ich den Blinker und fahre den Feldweg zu unserem Haus hinunter.
Die Rollanden sind offen, aber die Fenster liegen stockdunkel vor mir, Chenle schläft vermutlich schon lange und hat vergessen, die Läden zu schließen.
Auf dem Weg in mein Bett schlafe ich fast ein, möchte nur kurz aus Gewohnheit einen Blick ins Zimmer meines besten Freundes werfen, als ich mit einem Mal wieder hellwach bin. Denn das Bett vor mir ist leer.

Ich versuche, Ruhe zu bewahren, und greife erstmal nach meinem Handy, um Chenle anzurufen, aber er geht nicht dran. Während ich die Treppe runter renne versuche ich es erneut, aber auch dieser Anruf geht ins Leere.

Im Erdgeschoss ist ebenfalls keine Spur von ihm.
Als ich zum Nachbarhaus renne, mache ich mir nicht die Mühe, meine Schuhe vorher wieder anzuziehen. Die kalten, feuchten Kieselsteine piksen unter meinen Füßen, aber das ist mir in diesem Moment vollkommen egal.

Gedanklich entschuldige ich mich schonmal bei meinen Nachbarn, bevor ich auf den Klingelknopf drücke. Ein melodisches Läuten ertönt, aber nichts regt sich in dem dunklen Haus. Erneut drücke ich auf die Klingel, presse hektisch mehrmals hintereinander den Knopf nach unten und bin schon dabei, Kuns Kontakt rauszusuchen, als die Tür endlich aufgeht und ich einen verschlafenen Jungen in der Tür stehen sehe. Er ist ein wenig größer als ich, seine dunkelbraunen Haare stehen ihm verwuschelt vom Kopf ab und seine Augen sind noch halb zu.

"Was?", fragt er müde und sofort erkundige ich mich nach Chenle, woraufhin eine Welle der Erkenntnis über sein müdes Gesicht zieht.

"Jeno denke ich? Ja, er ist hier, aber er schläft noch", ein kräftiges Gähnen, dann schiebt er grummelig hinterher: "Ein Wunder bei deinem Krach."

"Es tut mir echt leid, kann ich ihn sehen?", frage ich.

Um ehrlich zu sein ist es mir scheiß egal, dass ich den Jungen vor mir gerade aus dem Bett geklingelt habe. Alles was für mich gerade zählt ist mein Baby und ich möchte erst sicher sein, dass es ihm gut geht, bevor ich wieder gehe.

"Ihm geht es gut, okay? Lass ihn doch einfach schlafen und mich bitte auch", versucht er abzuwehren, aber ich schüttele nur den Kopf. Mein ganzer Körper steht immer noch unter Strom und ich weiß genau, dass ich mich erst beruhigen kann, wenn ich Chenle gesehen habe. Gesund.

"Bitte", sage ich leise und mein armer Nachbar seufzt nur, bevor er mich ins Innere des Hauses winkt.

Er lässt mich vorlaufen und beobachtet jede einzelne meiner Bewegungen mit müden Argusaugen, aber gut, ich würde vermutlich genauso handeln, wenn mitten in der Nacht ein Fremder bei mir klingeln und ins Haus wollen würde. Wahrscheinlich hätte ich ihn gar nicht reingelassen, deshalb bin ich meinem Nachbar doch irgendwie unheimlich dankbar.

Wir laufen die Treppe hoch und er deutet auf das Zimmer auf der rechten Seite. Die Tür ist nur angelehnt und ich eile in den Raum, laufe auf das große Bett zu und finde meinen besten Freund tief und fest schlafend in die Decke gekuschelt.

Ein riesiger Haufen Steine fällt mir vom Herzen und ich sacke erschöpft auf der Bettkante zusammen, greife nach Chenles Hand und drücke sie fest. Ich kann nicht verhindern, dass eine einzelne Träne über meine Wange läuft und ich presse meine Hand auf den Mund, um mein Schluchzen zu unterdrücken.

Die Panik, die von meinem Körper Besitz ergriffen hat, fällt langsam ab und ich kann wieder besser atmen.

Eigentlich dachte ich, dass ich das endlich wieder im Griff habe, diese Panik. Chenle hatte bereits ein Probegespräch bei seinem Therapeuten und hat zum Glück gleich einen Platz bekommen, er hat offen mit mir darüber geredet und war zuversichtlich. Es geht ihm schon viel besser und von dem Stalker gibt es auch nichts neues, Kun und seine persönlichen Ermittler gehen davon aus, dass Chenle und ich sicher sind.

Eigentlich ist also alles gut. Alles ist okay. Chenle ist sicher und gesund und es wird ihm nichts passieren.

Wenn ich das doch nur in meinen Kopf bekommen könnte.

"Hey, alles okay?", erklingt die leise Stimme des Jungen, verdammt Chenle hat mir seinen Namen bestimmt schon hundertmal gesagt und ich habe ihn mir nicht gemerkt.

Ich nicke nur und wische mir übers Gesicht, bevor ich mich zu meinem besten Freund runter beuge und ihm einen sanften Kuss auf die Stirn gebe.

Dann verlasse ich leise das Zimmer und schließe die Tür hinter mir und meinem Nachbarn.

"Tut mir echt leid." Dieses Mal meine ich es sogar, im dunklen Flurlicht sieht man die deutliche Erschöpfung auf seinem Gesicht noch viel stärker.

"Was ist denn passiert? Ist Lele irgdndwie... in Gefahr oder so?"

Klar, bei dem Aufstand, den ich gemacht habe, ist diese Vermutung berechtigt. Und ich hätte mir denken müssen, dass Chenle ihm nichts erzählt hat. Was jetzt?

"Nein. Alles gut." Stimmt ja auch, er ist nicht mehr in Gefahr.

"Ich hab mir nur Sorgen gemacht, weil er nicht da war. Mitten in der Nacht. Er ist nicht ans Handy. Und ich bin... mega fertig von der Arbeit, mein Kopf konnte nicht mehr klar denken. Aber wie gesagt, alles okay."

Es ist alles okay Jeno!

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top