020

Noch immer sind unsere Klamotten ziemlich klamm, als wir ins Auto steigen. Aber darauf zu warten, bis sie in der Sonne komplett getrocknet wären, hätte vermutlich Stunden gedauert.

So gerne ich auch etwas dazu gesagt hätte, dass er mich offenbar schon länger angesehen hat... ich habe mich schlichtweg nicht getraut. Ich habe einfach weiter nach oben gesehen und als er gemerkt hat, dass meine Augen geöffnet sind, hat er schnell weggesehen. Ich will mich wirklich selbst davor schützen, zu viel in alles hineinzuinterpretieren, was zwischen uns passiert, aber mittlerweile fällt mir das wirklich schwer. Die Angst, dass er sich doch wieder verschließt und zurück zieht, wenn ich ihn darauf anspreche, ist viel zu groß.

Direkt nach dem Einsteigen drücke ich ihm meine Handy in die Hand und bitte ihn, sich Musik auszusuchen. Während ich ausparke, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie er durch meine Playlists scrollt. Plötzlich hält er inne, sagt dann "Oooooh mein Gott." Ich sehe ihn an und frage "Was ist passiert?" - "Du bist mir gerade nochmal um einiges sympathischer geworden." grinst er. "Okay?" Ich höre ihn kichern, dann sagt er "Erschreck dich nicht.", dreht die Lautstärke etwas herunter, bevor er auf den Playbutton drückt.

Noch bevor ich mich über den Kommentar wundern kann, verstehe ich, was er damit meint. Breit muss ich grinsen, als die ersten 'Woooohoooo'-Töne vom 'The Greatest Showman'-Soundtrack durchs Auto hallen. "Das überrascht dich?" grinse ich. "Ich bin schwul, Harry. Natürlich liebe ich diesen Film und der Soundtrack ist absolut grandios." stelle ich lachend klar und drehe die Lautstärke wieder auf. Er nickt. "Da stimme ich dir voll und ganz zu." Leise beginnt er, mitzusingen und da ich ihn irgendwie dazu ermutigen will, mehr aus sich herauszukommen, steige ich etwas lauter mit ein. Warum auch immer, ist es mir diesmal weniger unangenehm, vor ihm zu singen. Tatsächlich funktioniert das ganz gut, sodass wir beide nach kurzer Zeit lauthals mitsingen. 

Ich liebe es, wie er aus sich herauskommt, sobald er singt. Die Songs, die als Duett ausgelegt sind, singen wir auch als solches, was dafür sorgt, dass ich vor 'Rewrite the stars' plötzlich nervös werde. Es ist ein verdammter Lovesong, bei dem sich 2 Charaktere gegenseitig ansingen, Angst davor haben, dass ihre Liebe keine Chance hat und... ja, ich habe auch Angst. 

Trotzdem versuche ich, mir nichts anmerken zu lassen und übernehme ohne darüber nachzudenken den männlichen Part. Um irgendwie die Stimmung aufzulockern, gestikuliere ich mit der freien Hand wild herum, was ihn etwas schmunzeln lässt. Beim letzten Part, den er alleine singt, wirkt er allerdings plötzlich so traurig. Als ich den Kopf etwas zu ihm rüber drehe, sehe ich, dass ihm eine Träne über die Wange kullert. Besorgt will ich gerade etwas sagen, doch er wischt sie sich bereits aus dem Gesicht und murmelt "Sorry, irgendwie werde ich immer sentimental bei dem Song..." Ich versuche, darüber nicht allzu sehr nachzudenken und versichere ihm, dass das wirklich nachvollziehbar ist, ich bei dem Lied auch schon oft geweint hätte (was der Wahrheit entspricht).

Wieder am Unigelände angekommen dreht er etwas nachdenklich den Kopf zu mir und fragt nach kurzem Zögern leise "Darf ich noch mit zu dir kommen? I-Ich hab jetzt irgendwie Lust, den Film zu gucken..." Sofort nicke ich. "Klar, gerne. Hab ihn auch lange nicht gesehen. Du..." ich schlucke kurz, bevor ich fortfahre. "...du kannst auch bei mir schlafen, wenn du magst. Dann musst du nicht danach noch nach Hause... und außerdem ist mein Bett besser als deins, hast du selbst zugegeben." Etwas schüchtern erwidert er mein breites Grinsen, nickt dann aber und sagt "Lass mich noch eben ein paar Sachen holen..." Ich halte vor dem Wohnheim und begleite ihn mit nach oben.

Im Zimmer angekommen hebt Niall, der auf seinem Bett sitzt und gerade eine Tüte Chips vernichtet, während er irgendwas auf seinem Laptop guckt, den Kopf und mustert uns neugierig. "Was habt Ihr denn gemacht?" fragt er belustigt, als er unsere feuchten Klamotten sieht. "Im Regen getanzt." antworte ich, als wäre das selbstverständlich. "Klar, warum frage ich überhaupt." sagt er sarkastisch und beginnt zu lachen. 

Harry ist im Bad verschwunden, nachdem er angekündigt hat, dass er kurz duschen und sich umziehen möchte und ich merke Nialls prüfenden Blick auf mir, während ich, auf Harrys Bett sitzend, warte. "Ihr tanzt also neuerdings zusammen durch den Regen?" Ich wusste er kann seine Neugier nicht zurückhalten. "Was seid Ihr, Gay-Twilight?" Mit den Augen rollend sehe ich ihn an. "Nialler, dein Ernst?" Er legt die Chipstüte zur Seite und richtet sich auf. 

Wow, es scheint ihm tatsächlich ernst zu sein. 

"Ja, Louis. Wie lange willst du mir noch erzählen, dass da nichts läuft?" Seufzend lasse ich das Handy in meinen Schoß sinken. "Können sich neuerdings zwei Männer nicht mehr gut verstehen, ohne dass man direkt denkt, da läuft was, oder wie?" Sein Blick bleibt ernst. "Nicht, wenn mindestens einer von ihnen schwul ist." sagt er trocken. "Was soll denn bitte 'mindestens einer von ihnen' bedeuten?" schnaube ich. "Das soll bedeuten, dass mir niemand erzählen kann, dass er jahrelang der beste Freund von Grace Adams war und nie was von ihr wollte. Das klappt nur, wenn man nicht so viel für Frauen übrig hat, meiner Meinung nach..." Ich seufze erneut. 

Erst Tessa und jetzt sogar er? 

"Ernsthaft? Das alte Thema? Freundschaft zwischen Mann und Frau?" Er nickt. "Louis, ich verstehe, dass du das als Klischee abtust aber... du kanntest Grace nicht. Sie war nicht bloß unfassbar hübsch, sie... sie war charakterlich der schönste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Es war nahezu unmöglich, sich nicht in sie zu verlieben."

Ich lasse den Kopf sinken. "Ich weiß." Er zieht die Augenbrauen zusammen. "Wir haben vorhin über sie geredet." erkläre ich. Mit großen Augen sieht er mich an. "Ihr-... du hast mit ihm über Grace geredet? Heute? Wie... wie hast du das denn geschafft?" Ich zucke mit den Schultern. "Ich meinte, er soll mir mal erzählen, was sie für ein Mensch ist - und ihn dabei gebeten, nicht in der Vergangenheit zu reden. Er hat zwar viel geweint, aber noch mehr gelacht." Ein kleines, ehrliches Lächeln huscht über Nialls Lippen. "Und hinterher meinte ich, dass ich mir vorstellen kann, dass sie nicht wollen würde, dass er heute traurig ist. Ich glaube, sie würde wollen, dass er glücklich ist." Nickend lässt er den Kopf senken. "Das würde sie. Niemand war ihr je so wichtig, wie Harry..." flüstert er.

Ich schaue in Richtung Bad, aus der ich noch immer die Dusche hören kann, bevor ich tief Luft hole und mich traue, etwas zu fragen, was mir seit einer halben Ewigkeit auf der Seele brennt.

"Niall?" Er hebt den Kopf. "Sei bitte ehrlich zu mir, okay? Weißt du, was damals passiert ist?" flüstere ich. Er schluckt schwer, schüttelt dann aber den Kopf. "Ich hab ihm oft angeboten, dass er mit mir reden kann, wenn er will, aber was das angeht... keine Chance." Nachdenklich nicke ich. "Aber du bist dir sicher, dass er es weiß, oder?" - "Ja." sagt er sofort. Er atmet tief durch, bevor er fortfährt. "Ich will wirklich keine Gerüchte streuen, aber ich habe das Gefühl, dass du verstehen könntest wie ich das meine... ich will ihm nicht zu nahe treten, jeder verarbeite Dinge anders, aber... es ist über ein Jahr her und er... hat es nicht ansatzweise verarbeitet, weißt du? Ich hab irgendwie das Gefühl, dass-... ich weiß auch nicht, dass er mehr damit verbindet, als... nur eine geliebte Person verloren zu haben..."

Einen Moment mustere ich ihn. "Du... du meinst, er hatte was damit zutun?" flüstere ich. "Das will ich nicht behaupten, also zumindest nicht in den Sinne, das er... sagen wir 'Schuld ist'. Aber mich lässt das schreckliche Gefühl nicht los, dass er... dabei war... oder so?" Zittrig atme ich ein. "Niemand weiß ja genau, wann sie gestorben ist, es in den Semesterferien passiert. Er war wochenlang danach wie traumatisiert, weißt du. Und-" Das Wasser im Bad wird abgestellt.

Nein, er soll ausreden!

Schnell setze ich mich rüber zu ihm. "Und was?" flüstere ich. Leise atmet er durch, blickt kurz Richtung Bad, bevor er sich mit einem Finger unterm rechten Augen entlang fährt. "Die hat er vor den Ferien auch noch nicht gehabt."

Verdammt. Ich hatte immer gehofft, dass er mir einfach irgendwann erzählt, es wäre eine Narbe aus der Kindheit oder so. Der Gedanke, sie könnte etwas mit dem Tod seiner besten Freundin zu tun haben, dass er wirklich in dem Moment bei ihr war, es vielleicht sogar mit ansehen musste... Er sieht die Narbe jedes Mal, wenn er in den Spiegel sieht...

Ich will nicht darüber nachdenken, aber nachdem was Niall gerade gesagt hat... fällt es mir schwer, es nicht zu tun.

"Bitte sprich ihn da niemals drauf an, okay?" flüstert Niall und dreht meinen Kopf zu sich. Sofort schüttle ich ihn, soweit mir das mit seinen Händen an meinen Wangen möglich ist. "Das würde ich niemals tun, Niall." Er nickt. "Ich will ja selbst, dass er irgendwann mal darüber redet, weil... ich glaube, es ist auf Dauer überhaupt nicht gut, wenn er das in sich reinfrisst und ich habe irgendwie die Hoffnung, dass er dir irgendwann dafür genug vertrauen könnte, aber-..." Er schluckt schwer. "Ich würde ihn niemals dazu zwingen, Niall. Natürlich höre ich ihm zu, wenn er darüber reden möchte, aber... er entscheidet, wann und ob das überhaupt jemals passieren wird." versichere ich ihm.

Nachdem er meine Gesicht wieder losgelassen hat, setze ich mich zurück auf Harrys Bett. Etwas nachdenklich sieht Niall mich an. "Du tust ihm wirklich unfassbar gut, weißt du das eigentlich?" Trotz der gruseligen Gedanken, die gerade noch durch meinen Kopf gegeistert sind, muss ich etwas grinsen. "Das sagtest du schon mal, ja." Er erwidert mein Lächeln. "Er hat zwar immer noch Momente, wo er sehr ruhig ist und sich etwas zurück zieht, aber... seit Ihr so viel Zeit miteinander verbringt, ist er viel öfter wieder der alte Harry. Danke."  Ich schmunzle leise. "Uhm... gerne?" Er beginnt zu lachen. "Du weißt wie ich das meine."

Die Badezimmertür knackt und Harry tritt in Jogginghose, allerdings Oberkörperfrei, wieder ins Zimmer. Obwohl er sich seine Klamotten vor die Brust hält, muss ich kurz schlucken. "I-Ich hab den H-Hoodie vergessen..." murmelt er, zeigt neben mich aufs Bett. Ich rutsche ein Stück zur Seite, da ich auf dem Ärmel sitze, sodass er ihn hochnimmt und, uns den Rücken zugedreht, schnell hinein schlüpft. Dann greift er nach einer Tasche und stopft ein paar Sachen herein, bevor er sagt "Also von mir aus können wir." Niall, der sich inzwischen wieder seiner Serie gewidmet hatte, sieht neugierig auf. "Ach, schläfst du bei Louis?" fragt er, schafft es dabei tatsächlich, seine Gedanken, die vermutlich wie immer in die falsche Richtung abdriften, zu verstecken.

Harry nickt, sagt dann "Ja, wir wollten noch einen Film gucken und... uhm..." Er sieht etwas nervös aus, weshalb ich schnell für ihr weiterrede. "...und ich lasse ihn abends im Dunkeln nicht alleine nach Hause laufen, du erinnerst dich?" Mit wissendem Blick nickt der Ire vor uns bevor er sich grinsend eine weitere Hand voll Chips in den Mund schiebt. "Dann Euch noch einen schönen Abend!"

In der WG angekommen, rufe ich einmal Liams Namen durch die Wohnung, wie wir es immer tun, wenn einer von uns nach Hause kommt. Als ich keine Antwort bekomme, freue ich mich innerlich. Auch wenn Harry sich mittlerweile in der Nähe meines Mitbewohners einigermaßen wohl zu fühlen scheint, bin ich immer froh, wenn außer mir niemand da ist. Ich habe oft das Gefühl, dass er erst dann so richtig er selbst sein kann.

Um ebenfalls endlich aus den immer noch etwas feuchten Klamotten zu kommen, verschwinde ich wie Harry vorhin kurz unter der Dusche. Auf dem Weg zurück in meine Zimmer bringe ich direkt eine Kanne Tee der Sorte mit, die ihm beim letzten Mal am besten geschmeckt hat, weshalb er begeistert von seinem Notizbuch aufsieht, als der Duft sich im Raum verteilt. Schnell lässt er es in seiner Tasche verschwinden und nimmt mir das Tablett ab.

Eventuell etwas zu nervös dreht er sich weg, als er meinen nackten Oberkörper sieht. Weil ich nicht will, dass ihm das unangenehm ist, ziehe ich mir schnell ein T-Shirt über und hole dann mein Macbook vom Schreibtisch. Er hat sich währenddessen bereits wieder ins Bett gesetzt und uns etwas von dem Tee eingegossen, an dem er nun vorsichtig nippt.

Ich suche bei Netflix den Film heraus und setze mich mit der Tasse in der Hand neben ihn ins Bett. Beim Vorspann flüstere ich leise "Ich warne dich vor: Ich werde vermutlich den halben Film lang heulen und die andere Hälfe mitsingen." Ich höre ihn leise schmunzeln, bevor er mir versichert, dass das kein Problem für ihn darstellt und es ihm vermutlich ähnlich gehen wird. Tatsächlich höre ich ihn ab und an leise schniefen, sodass ich mich nicht ganz so peinlich fühle.

Beim Abspann merke ich, wie etwas an meinem Arm immer schwer wird. Als ich nachschaue, stelle ich fest, dass Harry neben mir offenbar kurz davor ist einzuschlafen. Langsam rutsch sein Kopf immer tiefer in das Kissen, das an meinem Arm lehnt.

Ich versuche, den Laptop zur Seite zu räumen, ohne ihn zu wecken, doch leider muss ich mich strecken, um ihn auf dem Boden abzustellen. Harry Kopf rutscht von meinem Arm und er grummelt leise vor sich hin. "Sorry..." flüstere ich und schiebe ihm schnell das Kissen unter den Kopf. Ich rutsche ebenfalls etwas weiter nach unten und suche eine bequeme Position, als der Junge neben mir sanft seinen Kopf an meine Schulter reibt, ihn dann dort liegen lässt und leise schnarchend weiterschläft.

Okay, dann habe ich wohl meine Schlafposition gefunden...

Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung und vergrabe mein Gesicht etwas in seinen Locken, sodass ich kurz darauf mit einem Duft nach frischen Äpfeln um die Nase ebenfalls einschlafe.

Noch bevor mein Wecker klingelt, werde ich allerdings unsanft wieder geweckt. Etwas... tritt nach mir? Schläfrig öffne ich die Augen und versuche mich an die Dunkelheit zu gewöhnen, als ich ein leises Wimmern höre. Ich richte mich auf und merke, das Harry neben mir unruhig hin und her zuckt. Er scheint einen Albtraum zu haben. 

Oder vielleicht...?

Ich habe mich die letzten Wochen, seitdem ich von Harrys Depressionen weiß, viel informiert. Ich weiß zwar von ihm, dass er die bereits seit Kindheitstagen hat, aber ich habe gelesen, dass ein traumatisches Erlebnis sowas noch deutlich verschlimmern kann, was mich nach Nialls Erzählungen gestern auf einmal ziemlich besorgt macht. Ich habe Artikel über Panik- oder Angstattacken im Schlaf gefunden, in denen die Person dieses Erlebnis noch einmal durchlebt und oftmals stundenlang nicht daraus aufwachen kann - außer es weckt sie jemand bewusst. 

Ich verstehe ihn zwar kaum, aber er murmelt irgendwas vor sich hin. Sein Gesicht ist schmerzlich verzogen und jeder Muskel an seinem Körper scheint angespannt zu sein. Das kann kein normaler Albtraum sein, er ist schweißgebadet und sein ganzer Körper strahlt puren Stress aus. Laut und deutlich, wie bei seiner letzten Panikattacke, aus der ich ihm helfen musste, sage ich mehrmals seinen Namen, doch er scheint mich nicht zu hören. Auch auf meine leichten Berührungen reagiert er nicht. 

Ich hatte gehofft, ich könnte es verhindern, aber mir bleibt nichts anderes übrig, ich muss ihn irgendwie wach bekommen. Ich greife nach seinen Schultern und halte ihn fest, damit das Zittern aufhört. "Harry!" Er wirft panisch den Kopf hin und her, versucht sich aus meinem Griff zu winden, doch ich lasse nicht los. Leise wimmert er nun meinen Namen. "Harry, wach auf! Ich bin hier, sieh mich an!" rufe ich, muss meine Worte ein paar Mal wiederholen, bis er flackernd die Augen öffnet.

"Harry? Hörst du mich?" Er atmet flach und unruhig, die pure Panik sticht ihm aus den Augen. "Es ist alles gut, ich bin da." flüstere ich, als seine Augen über mein Gesicht zucken. "Sssh, Hazza. Beruhig dich, okay?" Zitternd greift er nach meiner Hand, die auf seiner Wange liegt. "K-Kann-Kannst du mi-mich... f-f-festhalten?" schluchzt er tränenüberströmt. Sofort ziehe ich ihn in meine Arme, streichle ihm sanft über den Kopf und drücke ihn fest an meine Brust.

"Nein, nein...nein, I-Ich kann nicht... ich kann nicht mehr..." wimmert er und klammert sich um meine Taille.

Oh nein. 

Ich versuche die Gedanken zu verdrängen, aber sie sind zu präsent. Das hier ist zu ähnlich. Es sind die gleichen Worte, die er damals gesagt hat, als ich ihn davon abgehalten habe, zu springen.

Das gleiche verzweifelte Klammern.

Der gleiche panische Blick in seinen Augen.

Das gleiche herzzerreißende Schluchzen.

Das gleiche unkontrollierte Zittern.

Der gleiche unerträgliche Schmerz in meiner Brust.

Aber ich bin gerade nicht die Person, die Hilfe braucht. Ich schlucke die Tränen herunter und versuche weiter, ihn zu beruhigen, denn wenn er ruhiger wird, kann bestimmt auch ich wieder klarer denken. 

"Es war nur ein Albtraum, Hazza. Es ist alles gut, ich bin da." flüstere ich. "Ich bin da, Harry. Ich bin da." wiederhole ich meine Worte immer wieder, in der Hoffnung, dass sein viel zu schneller Herzschlag sich etwas normalisiert. "Konzentrier dich auf deine Atmung, Love. Hör meiner zu, komm wir machen das zusammen." Er scheint sich wirklich Mühe zu geben, sich meiner Atmung anzupassen, aber wirklich ruhig wird sie trotzdem nicht. Also frage ich, ob er sein Asthmaspray haben möchte, doch er krallt sich in meinem T-Shirt fest und wispert "N-Nicht weggehen, b-bitte. Lass mich nicht a-alleine." Schnell drücke ich ihn erneut an mich. "Alles gut, ich lasse dich nicht alleine, Harry. Niemals. Wie versprochen, erinnerst du dich? Ich bin da." versichere ich ihm, während ich ihm über den Rücken streichle und spüre ihn an meiner Halsbeuge ganz leicht nicken.

Es dauert einige Zeit, doch irgendwann löst sich die Anspannung aus seinem Körper und auch seine Atmung ist wieder deutlich ruhiger. Warm spüre ich sie an meinem Schlüsselbein, an das seinen Kopf mittlerweile gerutscht ist. Ich habe mich etwas auf den Rücken gedreht, sodass er auf meiner Brust liegen kann. Meine Arme immer noch fest um ihn geschlungen, streichle ich liebevoll über seinen Arm, den er angewinkelt auf mir abgelegt hat. 

"Ich bin so müde..." murmelt er irgendwann in mein T-Shirt. "Dann schlaf noch ein bisschen, ruh dich aus." sage ich ruhig, doch ich höre ihn leise schluchzen. "Ich will nicht zurück..." wimmert er und kurz bin ich mir nicht mal sicher, ob er überhaupt wirklich mitbekommt, was um ihn rum passiert. Er wirkt irgendwie immer noch so... weggetreten. "Es tut so weh, ich halte das nicht mehr aus..." murmelt er weiter vor sich hin, weshalb ich ihn wieder etwas näher an mich ziehe. "Harry? Hörst du mich?" Er grummelt nur leise. "Hey, Hazza... hör mir zu, ich bin da." Ganz leicht hebt er den Kopf. Keine Ahnung, ob er es bewusst wahrnimmt, dass ich mit ihm rede, aber zumindest reagiert er in irgendeiner Form auf meine Stimme.

"Ich bin da, okay? Dir kann nichts passieren, ich halte dich ganz fest. Wenn es wehtut, hole ich dich da sofort wieder raus, wie gerade, versprochen. Ich passe auf dich auf." Ich höre ihn leise schniefen. "Ich hasse das so sehr." Ich streichle ihm durch die Haare und gebe ihm ein Küsschen darauf. "Ich weiß, Sweetheart. Aber versuch, den Hass loszulassen, okay? Denk an gestern, wie wir singend zusammen durch den Regen getanzt sind. Wenn du ganz fest daran denkst, dann bist du wieder da. Und ich bin bei dir und singe mit." Zustimmend gibt er ein zufriedenes Brummen von sich, dann schlingt er seinen Arm um meine Taille und kuschelt sich an meine Brust, bevor seine Atmung wieder ruhiger wird.

Ich hoffe so sehr, dass ich Recht habe und er im Traum dorthin zurückkehren kann... 

Wie versprochen bleibe ich wach, während er langsam wieder in den Schlaf findet. Obwohl auch ich immer noch extrem müde bin, traue ich mich nicht, bewusst wieder die Augen zu schließen. Aber irgendwann bringt mich seine ruhige Atmung und sein Geruch, der es immer schafft, dass ich mich wohl fühle, dazu, dass meine Augen von alleine zufallen. Ich kämpfe dagegen an, sodass ich schaffe, sie immer wieder zu öffnen, egal wie schwer es mir mittlerweile fällt. Ich habe einfach so Angst, dass er eine zweite Attacke hat und ich es nicht früh genug mitbekomme, wenn ich schlafe.

Als ich gerade dabei bin, gegen die Müdigkeit zu verlieren, höre ich ein leises Knirschen, dass mich doch noch einmal hochschrecken lässt. Ich blinzle ein paar Mal und merke dann, dass Harrys ganzer Kiefer angespannt ist, er scheint mit den Zähnen zu knirschen. Eine klassische Stressreaktion. Vorsichtig hebe ich meine Hand von seinem Rücken und lege sie an seine Wange, streichle ihm mit dem Daumen darüber. Und widererwartend funktioniert das sogar ziemlich gut. Er entspannt sich wieder, schmatzt ein paar Mal leise vor sich hin, bevor er kurz schnauft und dann ruhig weiter schnarcht.

Knapp eine halbe Stunde schaffe ich es laut meiner Uhr auf dem Nachttischchen noch, wach zu bleiben, doch dann gewinnt die Müdigkeit doch. Durch den festen Griff, den ich um ihn habe, werde ich trotzdem kurz wach, als er sich irgendwann bewegt. Anders als vorhin, scheint er aber bloß die Schlafposition wechseln zu wollen, denn er dreht sich in meinen Armen um und drückt sein Gesicht wieder in sein Kissen, kuschelt sich dann trotzdem wieder dicht mit seinem Rücken an meine Brust und zieht mich am Arm noch etwas näher.

Ich merke noch, wie sich ein glückliches Grinsen auf mein Gesicht schleicht, bevor ich meine Nase in seine Locken grabe und ebenfalls wieder einschlafe.

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3575 Words

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