011

Fuck. 

Ich wusste es. Ich wusste, dass das hier passieren würde. Ich hätte es vermutlich nicht verhindern können, aber ich kann eventuell jetzt dafür sorgen, dass es nicht schlimmer wird, als es schon ist.

Seine Augen starren glasig und emotionslos ins Leere, die Lider flattern gefährlich. Ich hocke mich vor ihn und versuche mich zu konzentrieren.

Ok, Panikattacke. Du kennst das, Louis. Daniel hatte das öfter, als Mum damals ins Krankhaus gekommen ist. Wie war das noch? Reden. Du musst mit ihm reden, ihn beruhigen. Sicher stellen, dass sein Kreislauf aufrecht bleibt.

"Harry?" Deutlich, aber ruhig spreche ich seinen Namen aus. "Harry, kannst du mich hören? Ich bin hier, hörst du? Konzentrier dich auf deine Atmung. Hörst du mich, Harry?" Doch er konzentriert sich nicht, eher wird sein Atmung immer unregelmäßiger und ich versuche zu verhindern, dass meine es ebenfalls wird.

Reiß dich zusammen, Louis. Du musst jetzt stark sein, denk nicht zu viel nach, sondern konzentrier dich auf ihn. 

Für ihn.

Ich hocke mich direkt in sein Sichtfeld und flüstere "Sieh mich an Harry, Ich bin hier. Es ist alles gut, konzentrier dich auf deine Atmung." Seine Augen zucken zu meinen hoch, sie füllen sich langsam aber sicher mit Tränen. "Lou-Loui-Louis..." stammelt er meinen Namen und ich nicke sanft. Er scheint noch mitzubekommen, was um ihn herum passiert, gutes Zeichen. "Ich bin hier, Harry, ich bin hier. Aber versuch bitte ruhig zu atmen. Versuch es mit mir zusammen." sage ich und atme gleichmäßig tief ein und aus, in der Hoffnung, er konzentriert sich darauf und passt sich dem an.

Stattdessen schüttelt er allerdings hektisch mit dem Kopf. "Ich k-k-kann..." bevor er den Satz zu Ende bringt, zeigt er schwach auf seinen Rucksack, der geöffnet ein paar Meter neben uns liegt. Ich ziehe ihn herüber und bevor ich darin suchen kann, was er meinen könnte, kullert schon ein Asthmaspray heraus. 

Direkt greife ich danach, schüttle es und sehe ihm tief in die Augen. "Soll ich?" frage ich leise, woraufhin er zittrig nickt. Vorsichtig halte ich ihm das Spray vor den Mund, er schließt kurz verkrampft die Augen und zwingt sich, einmal tief, aber zittrig auszuatmen, bevor er seine Hand um meine legt und sich 2 kurz aufeinanderfolgende Stöße in seine Lunge gibt. Wenige Sekunden hält er die Luft an, bevor er ein weiteres Mal schwer ausatmet. Seine Atmung ist noch immer hektisch, aber deutlich weniger flach, als er seine Hand von meiner nimmt und sinken lässt. Das Zittern ist noch deutlich schlimmer geworden, als vorhin.  

Ich werfe das Spray zurück in den Rucksack und will ihm meine Hand gerade beruhigend an die Wange legen, halte allerdings kurz vorher inne. "Darf ich dich berühren?" frage ich vorsichtig. Kurz habe ich Angst, ich könnte es damit wieder schlimmer machen, deshalb will ich mich vorher vergewissern, dass es für ihn okay ist. Kaum sichtbar nickt er allerdings, weshalb ich die letzten Zentimeter zu seinem Wangenknochen überwinde und vorsichtig mit meinen Fingerspitzen darüber fahre, bevor ich ihm die ganze Hand behutsam an die glühende Wange lege. Zaghaft streichle ich mit meinem Daumen darüber und fange eine Träne ab, die sich gerade aus seinem Augenwinkel stehlen wollte. "Shhh, Harry. Es ist okay." flüstere ich. "Es ist okay."

Immer wieder wiederhole ich beruhigend meine Worte und lasse meine Hand an seiner Wange liegen, woraufhin er sich langsam immer mehr zu beruhigen scheint. Die ganze Zeit über hat er die Augen geschlossen und scheint sich auf seine Atmung zu konzentrieren. Als er irgendwann den Kopf sinken lässt frage ich vorsichtig "Besser?" woraufhin er nur nickt. Ich nehme meine Hand zurück und setze mich neben ihn vor den Container, nachdem ich ein paar Scherben beiseite geschoben habe. Als ich zu ihm rüber sehe, wird mir bewusst, wie angespannt er aussieht. Nicht, weil er gerade eine ziemlich heftige Panikattacke hinter sich hat. Eher sieht er aus, als würde er verzweifelt nach einer Erklärung dafür suchen.

"Du musst nichts erklären, Harry." sage ich daher leise. Unsicher dreht er den Kopf zu mir rüber, meidet dabei allerdings meinen Blick. "Es geht mich nichts an, was das ausgelöst hat, aber sollte unser Gespräch von vorhin mit daran Schuld sein, dann tut mir das Leid. Ich will und wollte dich nie mit irgendwas überfordern oder verunsichern. Falls du nicht damit klarkommst, dass ich schwul bin, dann ist das okay. Sehr schade... aber okay. Ich muss das so hinnehmen und halte mich fern von dir, wenn du das möchtest." Ich ignoriere den Schmerz, der sich in mir breitmacht, während ich diesen Satz ausspreche. "So traurig es ist, aber ich habe schon viel zu viele Menschen dadurch verloren. Nur, weil ich nicht einer vermeintlichen Norm entspreche, die einer Weltanschauung aus der Steinzeit entspricht. Aber... was ich eigentlich nur sagen will..." Ich schlucke kurz meine Angst herunter. "Der Verlust würde mir bei dir mehr wehtun, als bei den anderen." flüstere ich, bereue diesen Satz im gleichen Moment aber direkt wieder.

 Klingt das wie ein Vorwurf? Setze ich ihn damit unter Druck? Eigentlich drückt es ja nur meine Gefühle aus... Findet er das vielleicht übertrieben, so wenig wie wir uns doch eigentlich kennen? 

Unsicher sehe ich zu ihm rüber, weshalb seine Augen einen kurzen Moment auf meine treffen. Bilde ich mir das ein, oder sehe ich darin tatsächlich einen Funken Schmerz bei der Vorstellung, ich wäre nicht mehr da?

Wenige Sekunden verliere ich mich in diesem traurigen Waldgrün, bevor er den Blick unruhig wieder losreißt. Tief atme ich ein und wieder aus, bevor ich meinen nächsten Satz beginne. "Ich wollte dir aber auch noch was Anderes sagen." Ein Stück dreht er seinen Kopf wieder zu mir, allerdings ohne seinen Blick vom Boden zwischen uns zu erheben.

"Ich habe mich nie wirklich bei dir entschuldigt, Harry." Verwirrt zieht er die Augenbrauen zusammen. "Ich habe einen Fehler gemacht. Nein, ich habe mehrere Fehler gemacht und das tut mir Leid. Du lagst richtig, ich habe dir die Entscheidung über dein eigenes Leben abgenommen und mir das Recht herausgenommen, dir meine Hilfe aufzwingen zu wollen. Das war falsch. Ich kann und will dich zu nichts zwingen, du musst mit mir über nichts reden und dich auch nicht öffnen, wenn du das nicht möchtest. Aber wenn du es irgendwann möchtest, bin ich da. Das habe ich dir versprochen und das werde ich auch halten. Ich weiß, wie oft ich das schon gesagt habe, aber ich wollte es irgendwie noch einmal... kurz festhalten. Selbst wenn du mich weiter zurückweist, ich nehme dieses Versprechen nicht zurück. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, mir ist klar, dass du nicht von einem Tag auf den anderen einfach so irgendeinem dahergelaufenen Vollidioten wie mir dein Herz ausschüttest. Du kennst mich genauso wenig, wie ich dich, das ist mir natürlich auch bewusst. Aber trotzdem sage ich dir gerne noch einmal das Gleiche wie Freitagnacht, falls du dich nicht mehr erinnern können solltest: Ich gebe dich nicht auf, Harry. Niemals."

Die Stille, nachdem ich meine kleine Ansprache beendet habe, ist unerträglich. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie er sich in Gedanken versunken auf der Lippe herumbeißt. "Wenn... wenn du mich wirklich nicht in deinem Leben haben willst, dann muss ich das akzeptieren. Aber wenn doch..." Nervös fummle ich an meinem Ringfinger herum. "Du... weißt, wo du mich findest." Wieder ist es still, doch ich kann sehen wie er ganz leicht nickt. Sein Gesicht kann ich dabei absolut nicht deuten.

Einen kurzen Moment bleibe ich noch sitzen, in der Hoffnung, er bittet mich, zu bleiben. Als er das nicht tut, richte ich mich auf und klopfe mir den Dreck von der Hose. Er sieht zu mir hoch. Die Panikattacke hat er mittlerweile ziemlich gut überwunden, weshalb ich verantworten kann, ihn allein zu lassen. "Meld' dich... wenn du willst." flüstere ich nahezu tonlos, bevor ich mich umdrehe und gehe.

Einfach alles nicht so sehr an dich heran lassen, ja genau. Das klappt ja ganz fantastisch, Louis. 

Anstatt ihm einfach ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, wie ich es eigentlich gestern noch geplant hatte, habe ich ihm stattdessen noch einen ganzen Haufen mehr Dinge um die Ohren gehauen, über die er nachdenken muss und ihn im schlimmsten Fall auch noch unter Druck setzen. Bravo, Tommo. Hast du super hinbekommen. 

Stoßartig lasse ich Luft aus meinen Lungen und überlege kurz, noch einmal zurück zu gehen, doch als ich mich umdrehe ist er bereits verschwunden. "Fuck." murmle ich, senke gefrustet den Kopf und mache mich dann stattdessen nun doch schnellen Schrittes auf den Weg nach Hause.

Erst als ich in unserer Wohnung hereinkomme und meine Jacke aufhängen will, fällt mir wieder ein, weshalb ich eigentlich beim Wohnheim war. Das ist nicht meine Jacke, die ich da gerade an die Garderobe hängen will, sondern Nialls. Mist. Ich hole mein Handy heraus und mache ihm eine Sprachnachricht. "Hey, uhm... sorry, ich war irgendwie so in Gedanken gerade, dass ich deine Jacke einfach mit nach Hause genommen habe. Ist es okay, wenn ich sie dir morgen mitbringe? Ich bin ziemlich kaputt und hab noch nichts gegessen heute... bin ein Idiot, sorry." Ich gehe in die Küche und durchsuche den Kühlschrank nach Etwas essbarem, als er mir bereits antwortet. 

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Niall, 05:09pm

»Ach alles gut, ich komme sowieso gleich noch bei Euch vorbei, Liam wollte ne Runde zocken. Und ich bringe was von KFC mit, also ist dein Hungerproblem auch behoben haha«

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Ich lasse die Kühlschranktür schwungvoll wieder zufallen und freue mich über die spontane Essenslieferung, bevor ich sie wieder öffne und kurz darauf mit zwei Dosen Bier ins Wohnzimmer gehe, in dem Liam bereits vor seiner Playstation sitzt.

"Hey." sagt er, als ich schnell durchs Bild husche. "Oh... harter Tag?" fragt er dann, als ich die Dosen auf den Tisch stelle. "Frag besser nicht." lache ich und versuche, die Verzweiflung darin zu verstecken. Er pausiert sein Spiel und greift nach einer der Dosen, um sie zu öffnen. "Na dann, Prost." grinst er breit, als er sie gegen die ebenfalls bereits geöffnete Dose in meiner Hand stößt.

Knapp  1 1/2 Stunden später sitze ich, belustigt die Fifa-Partie kommentierend, neben Niall und Liam auf dem Sofa und habe durch die Ablenkung tatsächlich etwas auf andere Gedanken kommen können. Als Liam gerade im Torjubel aufgeht, klingelt es plötzlich an der Tür. "Erwartest du noch jemanden?" unterbricht er sich selbst und sieht zu mir rüber. Ich schüttle mit zuckenden Schultern den Kopf. "Vielleicht will Danielle jetzt eine Runde mit dir spielen?" grinst Niall vielsagend. Liam wirft ihm einen spöttischen Blick zu, steht allerdings dann trotzdem schnell auf, um die Tür zu öffnen. Beide müssen wir lachen. Er ist dieser Frau so verfallen, es ist echt niedlich.

"Oh... Hey." höre ich Liams verwunderte Stimme dumpf aus dem Flur. "Äh, nein, alles gut... Ja... klar, komm doch rein." Anders als vermutet kommt er allerdings nicht mit breitem 'Ich-habe-gleich-Spaß'-Grinsen zurück ins Wohnzimmer, sondern mit eher ernstem Gesichtsausdruck. "Louis? Ich glaube, das ist für dich." sagt er zu meiner Überraschung, bevor er zurück aufs Sofa kommt und so die Sicht in den Flur freilegt. 

Im Türrahmen steht nicht Danielle - sondern Harry.

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1842 Words

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