Unerbittliche Ehrlichkeit

»Laura hat übrigens einen Hund, Ana«, sagt Sophie und nippt an ihrem Cappuccino.

Ich wende mich an Laura und mache große Augen. »Ist nicht wahr! Als hätte ich noch einen Grund gebraucht, um dich zu mögen! Welche Rasse, wie alt? Ich wette er ist genauso süß wie du, nun erzähl schon.«

Laura blickt Sophie tadelnd an. »Kind, wie oft habe ich dir gesagt, dass es sich nicht gehört, mit den Lorbeeren anderer zu prahlen, als wären es die eigenen? Tse, tse.« Doch dann grinst sie schelmisch. »Bruno ist mein größter Schatz, er ist ein Berner Sennenhund und schon elf Jahre alt, aber das hält ihn nicht davon ab, meine Uni-Hausaufgaben zu fressen«, sagt sie und zwinkert mir zu.

Ich muss lachen, denn vor meinem inneren Auge formt sich das Bild eines großen, haarigen Hundes, der genüsslich auf einem Blatt Papier herumkaut. Als Laura dann ihr Handy aus der Tasche holt und mir ein Foto von Bruno zeigt, einem sanften Riesen mit ebenso viel Schalk wie Liebe in den treuen Augen, wird mir ganz warm ums Herz.

Es war immer Leons Traum gewesen, eines Tages mehr Hunde zu haben, als er auf einmal führen konnte. Er war vernarrt in ihre Loyalität und Intelligenz. Schon als kleiner Junge, er war nicht älter als sieben oder acht, ging er jeden Tag nach der Schule im Tierheim vorbei und verteilte Leckerchen und Streicheleinheiten. Als Jugendlicher trat er dann einer Tierschutzorganisation bei, und während jedes Familienbesuchs in Portugal verbrachte er mehr Zeit mit den Straßenhunden als mit unseren Verwandten.

Ich erinnere mich, wie ich ihn als kleines Kind fragte, wieso wir keinen eigenen Hund haben durften. »Was denkst du über das Fell von Hunden, Ana?«, kam seine Gegenfrage. »Es ist weich und warm und riecht gut«, hatte ich geantwortet. Er nickte. »Du hast Recht, mir gefällt es auch. Aber weißt du, Mama muss von dem weichen, warmen Fell ganz furchtbar niesen und sie fühlt sich krank, wenn ein Hund in ihrer Nähe ist. Deshalb dürfen wir keinen Hund haben, denn wir wollen ja nicht, dass es Mama schlecht geht, oder?« Daraufhin hatte ich wild mit dem Kopf geschüttelt, obwohl ich doch etwas enttäuscht war. »Sei nicht traurig, Süße, denn weißt du, wir haben großes Glück, dass wir keinen eigenen Hund haben.« Das konnte ich nicht verstehen und fragte ihn: »Wieso?« Und er sagte: »Weil wir jeden Hund liebhaben dürfen, dem wir begegnen, und nicht nur den, der uns gehört. Es gibt so viele Hunde auf der Welt, und jeder von ihnen kann dein Freund sein, wenn du es möchtest.«

Es sind Momente wie diese, in denen mich Erinnerungen an meinen Bruder einholen, die mich seine Weitsicht und seine unendliche Freundlichkeit am meisten vermissen lassen.

Eine Stimme holt mich aus meinen Gedanken, und noch bevor ich registriere, dass sie weder von Sophie oder Nic, noch von Laura kommt, liegt eine Hand auf meiner linken Schulter.

»Mensch, Ana, was für ein Zufall! Schön dich zu sehen.«

Ich drehe mich um, verfolge mit den Augen den Verlauf des Arms, der zu der Person gehört, die gerade gesprochen hat. Ich kann es nicht fassen. Ben.

Er steht schräg hinter mir, die linke Hand zu einem Gruß erhoben und ein ekelhaft falsches Lächeln auf den Lippen. Mein Blick trifft seinen und sein Gesicht wird aschfahl.

Oh, schön. Dann steht mir der Zorn also ins Gesicht geschrieben.

Ich spüre ein leises Kribbeln in meinen Zehenspitzen, das sich seinen Weg über meine Füße durch meine Beine bis in meinen Bauch hinein und höher bahnt. Der Donnerschlag meines Herzens übertönt die sanfte Musik des Restaurants, Hitze pulsiert hinter meinen Wangen und mir bleibt für eine Sekunde die Luft weg.

Ich. Bin. So. Stocksauer.

»Ben, richtig?«, höre ich Sophies Stimme wie durch einen Nebel von Watte und Wut. »Setz dich doch zu uns.«

Entgeistert sehe ich sie an, doch sie zuckt nur mit den Schultern und deutet dann, an Ben gewandt, auf einen Nachbartisch. »Ich bin sicher, du kannst dir einen leeren Stuhl heranholen.«

Ben reißt sich von meinem Zornesblick los und setzt erneut sein Zahnpastalächeln auf. »Oh, vielen Dank für das Angebot, aber ich kann leider nicht lange bleiben. Ich möchte ja auch nicht stören«, sagt er.

Fast will ich glauben, was er sagt, und bereue meinen Ärger auf ihn beinahe, doch gerade, als sich mein Körper etwas entspannen will, spüre ich, wie sich der Druck seiner Hand auf meiner Schulter verstärkt.

»Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich Ana allerdings gern für einen Moment entführen - mir ist etwas sehr Wichtiges eingefallen, das ich mit ihr besprechen muss«, fährt er fort.

Das ist jetzt nicht dein Ernst.

Ich werfe einen kurzen Blick in die Runde und bin erleichtert; niemand kauft ihm seine Lüge ab. Und doch entscheide ich mich dafür, nicht nur meine Freunde, sondern auch ihn zu verblüffen.

Ich bin auch nicht auf den Kopf gefallen, mein Lieber.

»Ich glaube, ich weiß, um was es geht. Es wird nicht lange dauern, versprochen. Wir müssen nur kurz etwas besprechen, es geht um eine Sache, bei der wir uns uneinig sind - ein Uniprojekt, und die Abgabe ist nächsten Freitag«, sage ich und stehe auf, schüttle dabei so unauffällig, aber effektiv wie möglich Bens Hand von meiner Schulter.

Laura sieht überfordert aus, Sophie zieht die Augenbrauen in die Höhe und Nic runzelt die Stirn.

»Ich bin so bald wie möglich wieder da, in Ordnung? Schreibt mir einfach eine Nachricht, wenn ihr das Restaurant verlasst, dann komme ich zu euch. Laura, es war toll, dich kennenzulernen, ich hoffe, Sophie vergrault dich nicht allzu bald wieder.« Ich lächle ihr zu und sie strahlt mich an.

»Gleichfalls, Ana.«

Dann umrunde ich den Tisch, umarme zuerst Sophie und dann Nic. Er scheint meine Fassungslosigkeit von vorher bemerkt zu haben, denn er flüstert: »Ist alles in Ordnung? Ich kann mich um ihn kümmern, wenn du willst«. Ich schüttle nur den Kopf und wispere ein »Danke, aber ich schaffe das auch allein«, bevor ich mich von ihm löse.

»Ich wünsche euch noch viel Spaß, bis später!«, sage ich zum Abschied und steuere sogleich den Ausgang an, ohne auf Ben zu achten. Ich höre noch, wie er ein »Tschüss, vielleicht sieht man sich ja mal wieder!« an meine Freunde richtet, bevor er sich an meine Fersen heftet.

Während wir auf den Aufzug warten, ist es still um uns. Mir ist es recht, denn so kann ich meiner Wut allen Raum geben, den sie verdient, bevor ich sie auf ihn loslasse wie einen Schwarm angestachelter Hornissen. Als der Fahrstuhl endlich kommt, treten wir hinein und Ben drückt den Kopf für das Erdgeschoss. Ich fixiere meine Tasche, doch ich weiß, dass er mich beobachtet; ich kann es spüren. Es überrascht mich, dass er noch nichts gesagt hat, doch dann überlege ich, dass er wahrscheinlich ahnt, was in mir vorgeht, und er mich deshalb nicht noch weiter provozieren will.

Mit jedem Schritt, der mich durch die imposante Eingangshalle und näher in Richtung des Tors nach draußen bringt, wächst meine Einfallskraft für Schimpfwörter und Vorwürfe, die ich ihm am liebsten sofort an den Kopf knallen würde. Doch ich kann mich beherrschen. Ich möchte das Ambiente dieses Hotels nicht mit den Floskeln beschmutzen, die mir für Ben gerade in den Sinn kommen.

Kaum empfängt mich das vertraute Grölen von Dieselmotoren, bleibe ich stehen und nehme einen tiefen Atemzug. Ich drehe mich zu Ben herum, will ihm sagen, was für ein arroganter, rücksichtsloser und egoistischer Mistkerl er ist - da ist er schon an mir vorbei in eine kleine Gasse gehuscht.

Na warte, Freundchen.

Ich laufe ihm hinterher, muss beinahe rennen, um ihn einzuholen, und frage ihn: »Was, zur Hölle, soll das?«

»Wir können hier nicht reden. Folge mir einfach.«

Ich lache laut auf, humorlos und bitter. »Ja, das hättest du wohl gern, nicht wahr? Du glaubst, du kannst mir irgendeine hirnrissige Geschichte über Götter und Amor und deine Aufgabe erzählen, kannst mich mit deinem Schnickschnack bezirzen und dann folge ich dir überall hin und springe, sobald du pfeifst?« Natürlich bin ich mir der Ironie des Ganzen bewusst, denn ich laufe noch immer hinter ihm her, nachdem ich sofort meine Freunde verlassen habe, um mir von ihm wieder einmal irgendeine an den Haaren herbeigezogene Geschichte anzuhören. Der einzige Grund, sage ich mir, wieso ich es diesmal tue, ist um ihm zu zeigen, für wie abscheulich ich ihn halte.

Ben antwortet nicht, sondern läuft einfach weiter.

»Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Du tauchst plötzlich in meinem Leben auf, erzählst mir, dass du mich verfolgt und beobachtet hast, und benimmst dich, als hättest du irgendeine Art Anspruch auf mich. Ich sage dir, was ich von dir halte: du bist furchtbar, dein Egoismus ist zum Kotzen und wenn Arroganz stinken würde, könnte man dich noch zehn Kilometer gegen den Wind riechen!« Ich fuchtele wild mit den Händen und habe die Kontrolle über meine Stimme verloren, doch es interessiert mich nicht, ob andere Leute mein Geschrei hören; sollen sie doch, dann wissen sie gleich, mit wem sie es zu tun haben.

»Ich habe es satt, mir deine Entschuldigungen und Ausreden anzuhören, mag ja sein, dass du sonst wie tolle Kräfte hast, aber es interessiert mich nicht, weil ich rein gar nichts mehr mit dir zu tun haben will!« Wir biegen um eine Ecke, in eine weitere kleine Gasse hinein. »Und ich hoffe, dass du mir jetzt genau zuhörst: ich will, dass du mich in Ruhe lässt! Such dir ein anderes Mädel, das vielleicht auf deinen Mist hereinfällt, und verschwinde aus meinem Leben! Es ist mir egal, ob du deinen Auftrag beenden kannst oder nicht, wenn es ihn überhaupt gibt, und es ist mir egal, welche Konsequenzen auf dich warten, wenn du scheiterst. Du bist einfach zu weit gegangen, ich hätte nie auf den Deal mit dir eingehen sollen, weil ich eigentlich schon von Anfang an wusste, dass du dich nicht eine Sekunde lang an meine Bedingungen halten würdest. Wie oft hast du mich seit unserem letzten Gespräch beobachtet, hm? Wie oft hast du mir nachgestellt?«

Ben läuft unbeirrt weiter, sieht mich nicht an, doch er sagt: »Nicht einmal.«

»Ich glaube dir nicht! Woher wusstest du dann, dass ich heute mit Sophie und Nic verabredet bin? Du brauchst nichts zu antworten, ich weiß, dass du mich anlügst. Du bist so dreist, ich fasse es nicht. Ich habe genug von dir, ich will einfach nur, dass du mich in Frieden lässt, was ist daran so schwer zu verstehen? Du glaubst vielleicht, wenn du hier mal charmant lächelst und da mal ein Kompliment machst, verfällt dir die gesamte Welt, aber du irrst dich, denn ich habe dich durchschaut! Der einzige, für den du dich interessierst, bist du selbst, und das ist fast schon traurig. Ich kann dich wirklich nur bemitleiden, Ben. Du führst ein armseliges Dasein, denn du belügst nicht nur andere, sondern auch dich selbst. Ich glaube fest an das Gute im Menschen, und ich bin mir sicher, in dir würde sich auch so etwas finden, aber du lässt es nicht zu und bleibst lieber ein Arschloch. Weißt du was? Das kannst du gern tun, viel Spaß dabei, aber ohne mich.«

Noch einmal hole ich tief Luft, um ihm mehr darüber zu erzählen, wie wenig ich ihn ausstehen kann, doch mir fällt auf, dass er plötzlich stehen geblieben ist. Und nicht nur das; wir sind nicht mehr auf der Straße. Ich habe es nicht bemerkt, war so in Rage vor Zorn, dass ich ihm einfach blind gefolgt bin. Unglaublich hohe, gewölbte Decken, kunstvoll gestaltete Fenster und mit Gold verzierte Figuren aus Stein umgeben uns.

Wir sind in einer Kirche.

Außer uns sind nur einige wenige Besucher da. Ihre stillen Gebete wirken beruhigend auf mich, besänftigen mich beinahe. Noch vor einem Augenblick wollte ich schreien und toben über diese Unverschämtheit, die sich Ben nennt, doch ich spüre, wie Ruhe in mir einkehrt. Es ist die Ehrfurcht vor diesem Gebäude, die mir die Sprache verschlägt.

Ben steht neben mir und beobachtet mich eindringlich. Für ein paar Sekunden starre ich zurück, doch dann verdrehe ich die Augen und ergebe mich. »Ja, ich bin fertig. Was sollen wir hier? Wenn das wieder ein Trick ist, um mich von meiner Wut auf dich abzulenken, drehe ich dir den Hals um.«

Er hebt verteidigend die Hände. »Kein Trick. Ich schwöre es, auch wenn ich glaube, dass du nichts auf meine Versprechen oder Schwüre mehr gibst.«

Ich verschränke die Arme und sehe ihn herausfordernd an. Gleich wird er mich beschwichtigen, wird mir sagen, wie falsch ich liege mit dem, wie ich über ihn denke. Er wird mich überreden, ihm doch zu glauben und diesem ganzen Theater noch eine Chance zu geben.

»Es tut mir leid, Ana.«

Er sieht mir in die Augen, sieht mich richtig an, und reißt damit alle Barrikaden ein. Zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, entdecke ich in dem Sturmgrau etwas Sanftes, fast schon Zaghaftes. Seine Ehrlichkeit wirft mich völlig aus der Bahn, und ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Ich weiß nur, trotz Allem, was ich ihm bis eben noch an den Kopf geworfen habe - dieser Blick ist nicht gespielt.

Wenn der Einfluss der Kirche mein Gemüt beruhigt hat, so hat seine Aufrichtigkeit meine Wut davongespült.

»Was tut dir leid?«, frage ich leise, denn wachsam bin ich immer noch.

»Dass ich dir gefolgt bin. Dass ich dich beobachtet habe. Dass ich dafür gesorgt habe, dass du dich unwohl fühlst. Dass ich gelogen habe. Dass ich unseren Deal gebrochen habe. Dass ich deine Gutherzigkeit, mir bei meinem Auftrag zu helfen, ausgenutzt habe. Dass ich Ansprüche gestellt habe, die ich nicht hätte stellen sollen.« Er seufzt, dann setzt er sich auf eine Bank ganz in der Nähe. »Alles, was du in den letzten Minuten zu mir gesagt hast, stimmt, und das tut mir leid.«

Ich setze mich zu ihm. Unsicher darüber, was ich erwidern soll, schweige ich.

»Ich weiß, es ist nach allem wohl zu viel verlangt, denn ich habe deine Geduld deutlich überstrapaziert, und auch das tut mir leid, aber ich möchte dich um einen letzten Gefallen bitten. Du musst mir nur eine Frage beantworten, wenn du möchtest, und danach kannst du dieses Gotteshaus verlassen und musst dir keine Sorgen mehr darum machen, ob ich dich beschatte oder belausche. Ich werde dich in Ruhe lassen, wenn das dein Wunsch ist. Und auch, wenn du diese Frage nicht beantworten willst, kannst du gleich einfach aufstehen und gehen, und ich werde dir nicht folgen. Aber ich muss dir diese Frage einfach stellen, damit ich zumindest eine Sache, die ich begonnen habe, beenden kann, auch wenn ich in meiner eigentlichen Aufgabe scheitere.«

Ich schlucke laut. Ben sieht mich so eindringlich an, als wolle er mir die sprichwörtlichen Fenster zu seiner Seele öffnen, um mich wenigstens dieses eine Mal von seinen harmlosen Absichten zu überzeugen. Auch wenn ich in einer stillen Ecke meines Herzens noch immer furchtbar wütend auf ihn bin, nehme ich doch die Ehrlichkeit und Verletzlichkeit wahr, die ihn in diesem Moment umgeben, und dafür respektiere ich ihn.

»Stell mir die Frage, dann entscheide ich, ob ich sie beantworte oder nicht«, sage ich deshalb.

Er nickt. »Vielleicht kommt sie dir komisch vor, und bitte bedenke, bevor du urteilst, dass ich durch meine Stellung so einiges über dich und deine Vergangenheit weiß. Ich möchte auch nicht herzlos wirken, es gibt einen sehr guten Grund für meine Frage, und obwohl ich dir diesen noch nicht nennen kann, hoffe ich, dass du die Dringlichkeit dahinter verstehst. Also gut...« Ben atmet einmal tief ein und aus.

»Was weißt du über den Tod deines Bruders Leon?«

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