...und einige Erklärungsversuche

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Als ich klein war, noch bevor mein Bruder starb, las mir meine Mutter jeden Abend vor dem Schlafengehen ein Märchen vor. Ich mochte sie alle, von Rapunzel über die Bremer Stadtmusikanten bis hin zu Brüderchen und Schwesterchen – eigentlich war es egal, welches mir meine Mutter erzählte, denn ihre Art es vorzutragen war es, die mich bezauberte. Dennoch gab es ein Märchen, das mich immer am meisten faszinierte, und das war Marienkind.

Wenn ich heute so darüber nachdenke, dann ist es wohl eines der grausamsten Märchen der Gebrüder Grimm. Es handelt von Geheimnissen, Lügen, Ächtung und der unbarmherzigen Zeit des Mittelalters, in der man Menschen für ihre Sünden auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Trotzdem war es für mich schon immer eine der schönsten Geschichten, denn was das Marienkind vor seinem tiefen Fall erlebt, kann man nur als wahrhaft magisch beschreiben.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich mir das Himmelsparadies vorstellte, in das die Jungfrau Maria das Kind holt. Von den Sonnenstrahlen gewärmt und in goldenes Licht getaucht, lebt es sorglos und unbeschwert in den Tag hinein, während Leichtigkeit und Liebe sein Wesen bestimmen. Um das Kind herum dutzende Engel, die sich in ihrer Güte und Barmherzigkeit gegenseitig übertreffen und ihm die besten Spielkameraden sind, die es sich nur wünschen kann. Abseits jeder Gefahr und jedes Unheils kann es aufwachsen, lernen und glücklich sein.

Ein idyllisches Meer aus Lachen, Freude und Geborgenheit, bei dem einem das Herz vor Sehnsucht nach diesem Ort ganz schwer wird.

Es ist dieses Bild eines von kleinen, nackten Engelsbabys mit pudrig weißen Federflügeln und Heiligenschein umringten Kindes, tollend und tobend auf einer riesigen weichen Wolke, während die Jungfrau Maria die Szene mit einem nachsichtigen Lächeln beobachtet, welches mir genau in diesem Moment in den Sinn kommt.

Amor. Der Liebesengel.

Ich starre Ben in Grund und Boden, denn er verkörpert definitiv nicht das, was ich mir unter einem Engel aus dem Himmelsparadies vorgestellt habe.

So gut sieht er nun auch wieder nicht aus.

»Wie ein Engel siehst du nicht gerade aus«, sage ich schnell, bevor mir mein eigentlicher Gedanke herausrutschen kann.

Er stutzt für einen Moment, sieht mich dann ungläubig an und fängt laut an zu lachen, sodass sich einige andere Studenten nach uns umsehen.

»Sei leise, das hier ist schon schräg genug, da musst du nicht auch noch alle Aufmerksamkeit auf uns lenken«, zische ich.

Ben unterdrückt sein Gelächter, doch ein breites Grinsen kann er sich nicht verkneifen. »Wie stellst du dir Engel denn vor?«

Noch ehe ich mich eines Besseren besinnen kann, antworte ich ihm: »Naja, klein, dick und... nackt.« Ich schlucke und werde tatsächlich etwas rot. »Wie Babys eben, mit Flügeln und all dem Zeug.«

Er prustet und räuspert sich zweimal in dem Versuch, nicht wieder loszulachen.

»Was bitteschön ist daran so lustig? Als wüsstest ausgerechnet du, wie Engel aussehen. Das weiß keiner, denn eigentlich gibt es sie gar nicht. Weswegen ich dir dein Schmierentheater auch nicht abkaufe, nur dass du es weißt.« Allmählich werde ich wirklich wütend.

Nun scheint auch er zu erkennen, dass es mir mehr als ernst ist, denn er strafft seine Schultern und reduziert sein Grinsen auf ein Schmunzeln.

»Zuerst einmal ist Amor kein Engel, Ana, sondern ein Gott der römischen Mythologie. Ich muss keine Flügel haben, um das zu wissen, da reicht ein kurzer Blick in ein Nachschlagewerk.« Er sieht mich tadelnd an und schafft es, dass ich mich ein wenig schäme. Verdammt. »Er wird nur häufig mit den von dir so nett beschriebenen Engeln verwechselt, weil er sehr ähnlich dargestellt wird: kindlich und nackt.«

Er macht eine Pause, scheint mir die Möglichkeit zu geben, etwas dazu zu sagen, doch da ich es vorziehe zu schmollen, fährt er fort. »Zweitens weiß ich, wie Engel aussehen, weil ich mit ihnen arbeite, und glaub mir, du solltest an deiner Vorstellung von dicken Babys festhalten, denn die Wahrheit ist um einiges hässlicher.« Kurz schüttelt er sich, als würde ihm ein kalter Schauer über den Rücken laufen. »Und drittens ist das hier kein Schmierentheater, das dich zum Narren halten soll, sondern mein Ernst. Ich habe die Aufgabe erhalten, die Liebe deines Lebens zu finden, und dass ich hier vor dir sitze und dir davon erzähle, anstatt die Vorschriften zu befolgen und aus sicherer Entfernung zu agieren, sollte dir zeigen, was für ein schwieriger Fall du bist. Ich muss bereits zu außergewöhnlichen Mitteln greifen, also bitte mach es mir nicht noch schwerer.«

»Ich soll es dir nicht noch schwerer machen?«, keife ich beinahe hysterisch und bin froh um den Lautstärkepegel, der sich inzwischen in der Mensa gebildet hat. Für einige Augenblicke ist das alles, was ich sagen kann, denn mir hat es die Sprache verschlagen.

Ben sieht mich einfach nur an und wappnet sich für den Sturm, von dem er glaubt, dass er gleich auf ihn einbrechen wird.

Und wie er das wird.

»Du bist wirklich unglaublich! Und das meine ich nicht im positiven Sinne, nur damit du dir keine Hoffnungen machst. Zuerst machst du einen auf arroganten Oberlehrer, indem du mir sagst, du wärst kein Engel, sondern ein Gott – und mal ganz nebenbei, dein überdimensionales Ego macht mir wirklich Sorgen, das solltest du untersuchen lassen, bevor es noch platzt oder dich erdrückt – und dann spinnst du diese Lügen weiter und schwafelst irgendwas von einer Aufgabe und was für ein schwieriger Fall ich wäre. Das ist ja wohl die Höhe! Glaubst du wirklich, ich kaufe dir diesen Quatsch ab?« Ich beruhige mich etwas und sehe ihn kalt an. »Ich hätte nicht mit dir hierherkommen sollen. Du hast mich verfolgt, mich beobachtet und beschattet; ich hätte die Polizei rufen sollen. Aber genau das werde ich jetzt nachholen.«

Ich erhebe mich zum Gehen und greife in meinem Rucksack nach meinem Handy, als mich eine Hand am Arm packt. Kochend vor Wut fahre ich herum. »Fass mich noch einmal an und-«

»Bitte beruhige dich«, flüstert er mir eindringlich zu. Er ist ebenfalls aufgestanden, hat den Tisch umrundet und steht mir direkt gegenüber. Sein Atem streift meine Wange, während er spricht. »Ich bitte dich, Ana, du musst mir einfach glauben. Ich habe dich nicht angelogen. Alles, was ich dir gesagt habe, ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Es mag unmöglich erscheinen, ja, aber es stimmt. Ich muss diese Mission erledigen. Auch zu deinem Wohl.«

Er lässt meinen Arm los, geht zurück auf seine Seite des Tisches und setzt sich. Seine Augen fixieren mich eindringlich. Ich weiß, dass er will, dass ich mich setze, doch er sagt es nicht, sondern wartet geduldig ab, ob ich es von mir aus tue. Diese Ruhe lässt mich wieder etwas erweichen.

Er hat keine Angst davor, dass ich ihn für sein Verhalten anzeige. Er will, dass ich ihm glaube, aus dem einfachen Grund, dass er selbst an die Wahrheit dessen glaubt, was er sagt.

Für die Gelassenheit, mit der er nach all dem an seiner wahnsinnigen Geschichte festhält, hat er beinahe meinen Respekt verdient. Aus diesem und einigen weiteren, unaussprechlichen Gründen gebe ich nach und lasse mich ebenfalls wieder auf meinen Stuhl sinken.

Vielleicht ist er ja einfach verrückt.

»So«, sage ich gedehnt und lehne mich zurück, »du bist also Amor, der Gott der Liebe.«

Ben schüttelt den Kopf. »Das habe ich nie gesagt. Ich habe dir nur zugestimmt, dass du mich so sehen könntest, um es dir einfacher erklären zu können, aber ich habe nie behauptet, selbst Amor zu sein.« Er lacht leise vor sich hin und murmelt: »Wenn er das erfährt... Puh.«

»Aha.« Ich kann mir einen spöttischen Unterton nicht verkneifen. »Und was bist du dann? Du hast dich vorhin ziemlich klar von den Menschen abgegrenzt, also kannst du ja keiner sein.«

Diesmal lässt er sich mit seiner Antwort mehr Zeit und runzelt die Stirn, sodass sich erneut diese tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen bildet. Schließlich sagt er: »Ich denke, davon kann ich dir erzählen, da dieses Wissen für dich an sich keine Rolle spielt. Ich bin kein Mensch an sich mehr, obwohl ich einmal einer war und auch noch aussehe wie einer. Als ich starb, ließ ich alles Menschliche hinter mir, um diese Aufgabe anzunehmen.«

»Das beantwortet meine Frage nur teilweise.«

»Und trotzdem muss es genügen.«

Ich schnaufe und überlege angestrengt, wonach ich ihn noch fragen könnte. Irgendwo muss seine Geschichte ein Loch haben.

»Okay, du sprichst die ganze Zeit von einer Aufgabe. Wer hat sie dir aufgetragen? Für wen arbeitest du?«

»Ich kann dir zwar nicht sagen, wie das Ganze abläuft, aber du darfst wissen, dass Amor selbst alle Aufträge leitet und verteilt, die uns erreichen«, sagt er.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Amor. Der Gott. Sicher.« Langsam bin ich doch genervt. »Und der Weihnachtsmann hat sein Büro gleich nebenan.«

»Den Weihnachtsmann gibt es nicht.« Er sagt es so trocken und selbstverständlich, dass ich nur ungläubig meinen Kopf schütteln kann.

»Weißt du, Ben, falls du überhaupt so heißt, ich habe keine Lust mehr auf deine Spielchen. Mag sein, dass du das alles ernst meinst und mir nichts Böses willst, aber das heißt noch lange nicht, dass ich dich in diesem Wahn unterstützen muss. Du brauchst Hilfe, ganz dringend sogar. Ich verspreche dir, ich werde diese Sache mit der Verfolgung vergessen, wenn du mich in Zukunft in Ruhe lässt. Wir können einfach dieses Gebäude verlassen und getrennte Wege gehen, ohne uns jemals wieder begegnen zu müssen, und-«

»Verdammt, Ana!«, stößt er hervor und schlägt aufgebracht mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich habe doch auch keine Wahl! Du musst... ach scheiße! Hör zu: Ich kann dir nicht sagen, wie wichtig es für mich ist, diesen Auftrag zu Ende zu bringen, denn du würdest es sowieso nicht verstehen, aber es hängt verdammt viel davon ab, also werde ich dir beweisen, dass ich nicht verrückt bin.« Er holt tief Luft und sieht mich herausfordernd an.

Ich muss lachen, weil ich nicht glauben kann, dass er immer noch versucht, mich zu überzeugen. Da ich aber nun schon so lange geblieben bin, kann ich mir seine letzte lächerliche Lüge auch noch anhören. »Nur zu. Stimme mich um.« Ich breite meine Hände in einer offenen Geste vor ihm aus.

Ben nickt und sieht sich dann suchend um. Er wirkt lauernd, wie eine Raubkatze.

»Du kennst dich hier besser aus als ich«, sagt er dann, als er anscheinend nicht fündig geworden ist. »Zeige mir zwei Personen, die sich deiner Meinung nach niemals länger als zwei Sekunden ansehen, geschweige denn ineinander verlieben würden, und ich beweise dir, dass ich sie dazu bringen kann, genau das zu tun.«

Ich gluckse und will ihn schon fragen, ob das sein Ernst ist, doch sein Blick ist stur und unergründlich, also gehe ich auf sein kleines Spiel ein. Ich werfe einen Blick durch den Saal und werde schnell fündig.

Ein junger Mann in einem karierten Hemd bringt gerade sein Tablett zurück und bleibt dann von seinen Freunden umgeben noch eine Weile in der Nähe einer Gruppe von Mädchen stehen. Eines dieser Mädchen ist schweigsam wie ein Grab und so unscheinbar, als bestünde sie nur aus Schall und Rauch. Ich kenne sie flüchtig, doch ich weiß, dass sie seit vielen Jahren einen Freund hat, den sie für nichts und niemanden aufgeben würde. Mister Karohemd ist dafür das perfekte Gegenstück, und zwar nicht nur, weil er sehr extrovertiert und abenteuerlustig ist, sondern auch, weil er ganz und gar nicht am weiblichen Geschlecht interessiert ist.

Ich will es ihm ja nicht zu einfach machen. Nicht dass mir der Zufall einen Strich durch die Rechnung macht.

Na dann zeig mal, wie du diese beiden verkuppeln willst.

»Er da, im karierten Hemd, und das stille Mädchen aus der Gruppe neben ihm.« Ich zeige auf beide und beobachte Ben belustigt.

Einige Sekunden lang folgt sein Blick suchend meinem Finger, und als er sie entdeckt hat, strafft er seine Schultern und sieht mich warnend an. »Ich hoffe du weißt, dass ich damit gegen mindestens ein Dutzend Regeln verstoße und ganz schön in Erklärungsnot kommen werde, wenn die Obrigkeit davon erfährt.«

»Es war dein Vorschlag«, gebe ich unschuldig zurück.

»Du hast mir ja keine andere Wahl gelassen.« Nun konzentriert er sich auf den Jungen und das Mädchen. »Und jetzt sieh hin, nicht dass du nachher sagst, du hättest es verpasst und ich müsste es wiederholen.«

Ich stöhne genervt auf, wende mich aber den beiden Personen zu und warte ab.

Zuerst passiert gar nichts. Ich spüre, wie mich Erleichterung durchflutet, da mein Weltbild immer noch in Takt zu sein scheint. Doch während ich mir eine spöttische Bemerkung einfallen lasse, verändert sich die Szene: sie bemerken einander, sehen sich an. Plötzlich reißt sich der Junge von seinen Freunden los, das Mädchen tritt aus dem Kreis ihrer Gruppe hervor und sie gehen aufeinander zu. Zwischen ihnen entsteht eine Verbindung, ein Knistern und Funkeln, das sogar auf die weite Entfernung hin für mich greifbar ist. Sie sehen sich tief in die Augen, der Junge verzieht seine Lippen zu einem schiefen Grinsen, während das Mädchen ihn anstrahlt und liebevoll zu ihm aufblickt. Ich kann erkennen, dass sie sich etwas zuflüstern, doch ich kann nicht verstehen, was es ist. Er legt seine Finger an ihre Wangen, sie zieht ihn mit einer Hand in seinem Nacken näher an sich und – sie küssen sich.

Es ist ein verliebter, süßer erster Kuss und alle starren sie an. Als sich ihre Lippen trennen, lehnt er seine Stirn an ihre und wispert ihr etwas zu, woraufhin sie kichert. Seine rechte Hand wandert hinab und ergreift ihre Linke, und mit verschlungenen Fingern und ineinander verschränkten Blicken verlassen sie das Gebäude.

Gleich darauf geschieht etwas Anderes. Die Gaffer, die sich um das frisch verliebte Paar gereiht hatten, sowie die Freunde der beiden lösen sich aus ihrer ungläubigen Starre und kehren zurück zu der Tätigkeit, die sie vor diesem Ereignis verfolgt hatten. Da ist kein Getuschel, kein fragendes Gemurmel.

Es ist, als wäre nichts geschehen.

Wie in Trance drehe ich mich zu Ben um. Sein selbstgefälliger Blick trifft mich wie ein harter Schlag ins Gesicht. Er grinst zufrieden und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Und, glaubst du mir jetzt?«


**********

Die Enthüllung ist vollbracht und ich würde sagen, Ana hat nicht mehr viele Argumente gegen seine Behauptungen hervorzubringen. Wie fandet ihr dieses Kapitel? Was haltet ihr von dem manchmal düsteren und mysteriösen Ben? Ich bin gespannt auf eure Eindrücke! :)

xoxo FieneFifi

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