Neujahrsbesuch

Ein schneidender Windstoß bläst durch die geöffneten Fenster des Raumes und lässt die Frau vor mir für einen Moment erzittern. Während sie hektisch an ihren Fingernägeln kaut, denke ich, dass sie schon viel besser aussieht.

Ihr strähniges, strohartiges Haar hat etwas seines früheren Volumens wiedergefunden und die Risse in ihren trockenen Lippen sind diesmal weniger tief. Die Schatten unter ihren Augen scheinen eine Nuance heller zu sein und ich glaube sogar, ihr Hüftumfang wäre um wahnsinnige zwei Zentimeter gewachsen.

Lass dich davon nicht täuschen, denke ich. Vielleicht hat sie heute nur einen guten Tag.

»Hast du Vorsätze für das nächste Jahr, Mama?«, frage ich.

Ein wenig verstört, weil ich sie in ihrer Konzentration unterbrochen habe, sieht sie mich erst einige Sekunden an, bevor sie antwortet.

»Ich möchte leben. So richtig leben, wie früher.«

Ich nicke. »Das möchte ich auch.«

»Und du? Hast du Vorsätze?«

»Ich lasse das nächste Jahr einfach auf mich zukommen«, sage ich lächelnd, »dann werde ich schon sehen, was zu tun ist.«

Meine Mutter nimmt meine Hand und tätschelt sie. »So ist es gut.«

Vom Nachbartisch her kommt in diesem Moment ein lauter Aufschrei. Ich sehe zu dem Mann herüber, der sein Gesicht tief in den Händen vergräbt und verzweifelt durch die Schlitze zwischen seinen Fingern auf den umgestürzten Jenga-Turm starrt. Seine Lippen bewegen sich wie in leisen Verschwörungstheorien, sein gesamter Körper bebt. Sofort eilt ein verschwitzter Pfleger herbei, redet beruhigend auf den Patienten ein und bringt ihn aus dem Gemeinschaftsraum.

»Mama?«

»Ja mein Schatz?«

»Wann wirst du entlassen?«

Ihre Augen werden glasig, während sie einen Punkt auf dem Tisch zwischen uns fixiert.

»Ich weiß es nicht.«

Erneut nicke ich und stelle die immer wiederkehrende Frage: »Kann ich dir irgendwie helfen? Oder Papa?«

Die Reaktion meiner Mutter ist ebenso schmerzhaft wie ernüchternd; sie sackt in sich zusammen, ziert ihren früher so hübschen Mund mit einem falschen Lächeln und schüttelt den Kopf.

»Nein Liebes, das wird schon.«

Als ihre dünnen Finger erneut über meine Haut streichen und ich meine Hand über ihre lege, wissen wir beide, dass sie lügt.

Langsam wird es ruhiger um uns herum. Der stechende Geruch von Frittieröl, altem Fisch und überreifem Obst verrät die Ursache.

Zeit fürs Abendessen.

»Lass uns essen gehen, Mama«, schlage ich daher vor und erhebe mich von meinem Stuhl.

»Ich habe keinen Hunger.«

Als ich meine Mutter dabei beobachte, wie sie tiefer und tiefer in ihrer Gedankenwelt versinkt, erschrecke ich über den Anblick, den sie mir bietet.

Es gab einmal eine Zeit, da war sie Architektin, Mutter und Ehefrau zugleich. Sie wurde gefeiert von ihren Kollegen und von der Familie geliebt, war erfolgreich und doch bescheiden. Für mich war sie immer die Frau des einundzwanzigsten Jahrhunderts: unabhängig, bodenständig und dennoch mit Leib und Seele der Familie verpflichtet. Damals wusste ich es nicht besser, ich dachte, sie wäre wie ein Fels in der Brandung, unerschütterlich und beständig. Sie schien unantastbar für jedes Unglück und jeden Ärger zu sein, das war ihre geheime Waffe in jedem Kampf, den sie austragen musste.

All das macht es umso schlimmer für mich mit anzusehen, wie diese wundervolle Frau gegen ihren eigenen Verstand verliert. Ihr Mut und ihre Kraft haben sie verlassen, sich gegen sie gewendet, und die Liebe, diese unendliche, bedingungslose Liebe für ihr erstes Kind hatte sie so tief und hart fallen lassen, so furchtbar einsam und hoffnungslos wie sie war, bedeckt vom Staub ihrer Verzweiflung. Jetzt ist sie nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst, eine vage Erinnerung daran, wer sie einmal gewesen war. Das Licht in ihren Augen, die leuchtende Aura, die sie stets umgab, ihre schillernde Präsenz, wann immer sie einen Raum betrat – erloschen. Zu Asche zerfallen.

»Du solltest aber etwas essen«, sage ich, obwohl ich weiß, dass es nichts nützen wird.

Sie sieht mich an, lang und eindringlich, scheint etwas zu suchen. Ihr Blick wandert von meinen Augen über meine Haare zu einem Punkt über meinem Kopf, an dem er verharrt, während sie sich auf die Unterlippe beißt. Prompt reißt sie auf, so trocken und spröde wie sie immer noch ist, und etwas Blut quillt aus der Wunde. Sie merkt es nicht, sie ist viel zu vertieft in ihren Gedanken, doch als ein Tropfen von ihrem Kinn hinabzufallen droht, beuge ich mich vor und wische ihn mit meinem Daumen fort.

Meine Mutter erschrickt, zuckt regelrecht zusammen, ehe sie mich erneut ansieht und hastig mit der Zunge über ihre Unterlippe leckt. Ich krame in meinem Rucksack nach einem Taschentuch, und als ich es ihr gebe, seufzt sie leise.

»Es tut mir leid.« Sie streckt ihre Hand aus und berührt sanft meine Wange.

Ich lächle sie an. »Nicht doch. Es wird alles gut.« Ich runzle die Stirn, dann sage ich mit Nachdruck: »Es ist alles gut.«

Auch sie lächelt jetzt, doch es ist ein verlorenes, unsagbar trauriges Lächeln. Sie nickt, dann seufzt sie ein weiteres Mal und ich weiß, dass es Zeit ist für mich, zu gehen.

»Bitte versprich mir, dass du etwas isst. Du brauchst die Kraft«, sage ich, weniger streng als beabsichtigt, als sie mich zum Ausgang begleitet.

»Okay, ich verspreche es.«

»Du weißt, dass ich es herausfinde, wenn du es doch nicht tust.« Diesmal gelingt mir der Tadel um einiges besser. »Ich habe hier meine Spione.«

Sie verdreht die Augen, doch dann muss sie schmunzeln und es ist das Echteste, was ich an diesem Tag von ihr sehe. »Jawohl, Chefin.«

Ich lehne mich vor und drücke ihr einen Kuss auf die Wange, bevor ich sie noch einmal fest in die Arme schließe und mich schließlich von ihr löse. »Ich hab dich lieb, Mama. Und ich wünsche dir ein wundervolles, frohes Neues Jahr. Ich komme nächste Woche wieder, in Ordnung?«

Noch einmal nimmt sie meine Hand. »Ich hab dich auch lieb, Ana, mein Liebling. Feiert schön und grüß Papa von mir, ja?« Sie sieht mich tapfer an. »Ich freue mich auf nächste Woche. Bis dahin.«

Sie lässt meine Hand los und winkt mir nach, als ich auf die Sicherheitstüren zulaufe. Ich nicke der Schwester hinter dem Tresen freundlich zu und bedeute ihr, dass sie mir die Türen jetzt öffnen kann.

»Halt die Ohren Steif, Mama! Und lass dich nicht verrückt machen«, rufe ich ihr mit einem Augenzwinkern hinterher. Von der Schwester kommt ein entrüstetes Schnauben, aber meine Mutter lacht nur kurz und trocken auf.

»Würde mir nie in den Sinn kommen.« Dann schließen sich die Türen und die eiskalte Dezemberluft umgibt mich wie ein erbarmungsloser, kalter Mantel.

Mein Herz liegt wie ein schwerer Stein in meiner Brust, als ich mich dem Parkplatz nähere. Es ist stockdunkel, und der Schnee, der nun leise vom Himmel fällt, macht es mir nicht leichter, mein Auto zwischen den Büschen und Bäumen zu finden. Eine Weile lang irre ich umher, bis ich im Schein einer Laterne mein Kennzeichen und die Delle rechts daneben erkenne. Wusste ich es doch, dass dieser kleine Auffahrunfall auch etwas Gutes hat. Fast schon grinse ich in mich hinein, doch als ich im Inneren meines Fahrzeugs sitze und nicht einmal mehr das Flüstern der Schneeflocken hören kann, fühle ich mich elend und krümme mich leicht zusammen, als ich ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brust spüre.

Es ist nicht fair. Es ist einfach nicht fair.

Ich spüre, wie Tränen in mir aufsteigen, doch bevor sie sich auch nur in meinen Augen sammeln können, habe ich mich wieder unter Kontrolle. Ich weine nicht. Nicht mehr.

Am liebsten würde ich umkehren, würde meiner Mutter in die Arme springen und sie nie wieder loslassen. Ich würde sie in mein Auto packen und mit nach Hause nehmen, dorthin, wo sie hingehört. Wir würden gemeinsam fernsehen und Apfelkuchen backen und Wer bin ich? spielen, bis uns vor Lachen der Bauch wehtut, dann würden wir bis spät in die Nacht durch die Stadt fahren, nur um währenddessen unserer Lieblingsmusik zu lauschen, und irgendwann würden wir erschöpft aber glücklich heimkehren und wir müssten uns nicht vor dem Morgen fürchten.

Aber das wird nicht passieren. Nicht jetzt, nicht bald. Vielleicht nie mehr.

Als mein Bruder starb, ging es mit meiner Mutter bergab. Zuerst war da der Schock, gefolgt von tiefer, alles zerstörender Trauer. Tagelang aß sie nichts, manchmal verließ sie nicht einmal das Bett. Mein Vater und ich versuchten alles, um sie zu unterstützen, und gaben uns gegenseitig den Halt, den auch wir nach diesem furchtbaren Verlust brauchten. Wir wurden zu einem Team, während sich meine Mutter immer mehr von uns entfernte. Manchmal hatten wir das Gefühl, sie würde uns gar nicht mehr wahrnehmen, so gefangen schien sie in dem Nebel aus Verzweiflung und Angst. Und nach anderthalb Jahren glaubten wir nicht mehr daran, dass sie sich je wieder erholen würde.

Doch dann, eines Tages, wurde es besser. Sie begann wieder, sich zu pflegen, sie kochte sogar für uns, brachte das Haus auf Vordermann und meldete sich bei ihrer Arbeitsstelle, um ihren Job wiederaufzunehmen. Alles schien, als hätte sich der Sturm in ihr beruhigt, ihr eine Pause gegönnt, in der ihr Herz und ihre Seele heilen konnten. Wir glaubten tatsächlich an eine glückliche Zukunft, und diese Illusion bestand für ganze acht Jahre.

Es war nur ein kleiner Zwischenfall, ein kurzer Ausflug auf den Dachboden, um etwas zu holen, das so unbedeutend war, dass ich mich nicht einmal mehr daran erinnere, was es war. Sie ging hinauf und plötzlich erstarb der Klang ihrer federnden Schritte auf den morschen Holzdielen. Für einige Sekunden war es still. Und dann schrie sie. Sie schrie, so jämmerlich, so verletzt und animalisch, dass ich zuerst nicht glauben konnte, dass sie es war, die schrie. Mein Herzschlag setzte aus, mein Vater rannte an mir vorbei hinauf zu ihr, ich folgte ihm und sah noch, wie er sie packte, mit beiden Armen umklammert hielt und daran hinderte, ihren Kopf gegen einen Balken zu schlagen. Sie war außer Kontrolle, und für einen Augenblick hatte ich Angst vor ihr. Meiner eigenen Mutter. Doch ich erkannte sie nicht wieder. Sie war wie ein wildes Tier, nicht zu bändigen in ihrer Trauer und Wut.

Wir bestellten sofort einen Arzt, der ihr Beruhigungsmittel gab und sie anwies, sich bei einem Psychiater vorzustellen. Das tat sie, und eine Zeit lang hatte sie ihre Emotionen im Griff, doch schließlich häuften sich ihre Ausbrüche. Sie wurden unberechenbar, kamen aus dem Nichts, auch ohne Auslöser. Als sie eines Tages nicht nur sich selbst, sondern auch mich in Gefahr brachte, entschied mein Vater, dass es für alle das Beste sei, sie an einem Ort unter zu bringen, der besser für ihren seelischen Zustand gewappnet war.

An diesem Tag verlor ich meine Mutter zum zweiten Mal.

Natürlich, ich kann sie besuchen, doch ihr Zustand ist selbst nach drei Jahren professioneller Unterstützung so labil, dass wir nicht immer zu ihr können; sie für einen Tag oder auch nur ein paar Stunden zu uns zu holen, wäre schon ein zu großes Risiko.

Ich weiß nicht, ob sie jemals wieder nach Hause kommen kann. Und ich kann nichts tun, um ihr zu helfen.

Wütend balle ich meine Hände zu Fäusten und stemme sie gegen das Lenkrad. Auch wenn ich weiß, dass ich so nicht Auto fahren sollte – ich will nach Hause.

Ich starte den Motor, schalte die Scheinwerfer an und lege den Rückwärtsgang ein, um auszuparken. Als ich mich umdrehe, um durch die Heckscheibe nach Hindernissen Ausschau zu halten, stutze ich.

Was...?

Es ist so schnell verschwunden, wie es gekommen war. Das Gefühl, beobachtet zu werden. Eine schnelle Bewegung in den Schatten, ein Rascheln im Gebüsch. Ich erwarte, irgendwo den Schwanz eines Eichhörnchens oder die Flügelspitze eines Wintervogels zu sehen, doch da ist nichts. Da sind nur ich, die Dunkelheit und... etwas anderes.

Sei nicht albern, schalt ich mich selbst. Du bildest dir das ein. Fahr nach Hause, du bist schon ganz überdreht.

Ich schüttle den Kopf und trete den Heimweg an. Als ich das Gefühl, beobachtet zu werden, nach der halben Strecke noch immer nicht abschütteln kann, verschließe ich meinen Wagen von innen. Sicher ist sicher.

Ich bilde mir das definitiv nicht ein. Irgendetwas liegt in der Luft.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top