Man sieht sich immer zweimal

Es ist kurz vor elf, als ich mein Fahrrad vor der Fakultät abstelle. Ich ziehe meine Handschuhe nur für einen kurzen Moment aus, damit ich das Schloss um den Rahmen schlingen kann, doch meine Hände beginnen bereits, vor Kälte rot und steif zu werden.

Verdammter Winter.

»He, du Verrückte!«

Ich lache leise vor mich hin, denn ich kann nicht glauben, dass ich mich tatsächlich durch diesen Ruf angesprochen fühle, und drehe mich um.

»Wer ist hier verrückt, hm?«, gebe ich mit einem Grinsen zurück, während ich mir meine Handschuhe schnell wieder überstreife.

Sophie kommt strahlend auf mich zu. Ein schwarzer Rock umschmeichelt ihre schlanken Beine, die von einer gemusterten Strumpfhose verhüllt werden. Unter ihrem bodenlangen Mantel trägt sie einen übergroßen dunkelgrünen Wollpullover, der ihre Augen zum Leuchten bringt. Sie sieht mal wieder umwerfend aus, auch wenn ich mir sicher bin, dass sie jeden Moment erfriert.

Sie zieht mich in eine enge Umarmung und gibt mir einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich wieder von mir löst. Sie muss meinen zweifelnden Blick bemerkt haben, denn sie zeigt auf sich und sagt: »Was ich hier tue, Liebes, nennt man Mode.« Dann zeigt sie auf mich und mein Fahrrad. »Das was du tust, ist purer Selbstmord.«

»Wenn du dich anständig anziehen würdest, könntest du genauso mit dem Fahrrad zur Uni fahren,« sagt eine Stimme neben mir. Im nächsten Moment legt sich ein Arm um meine Schultern und eine Hand knufft mich in die Seite.

»Siehst du, Nic ist der gleichen Meinung«, sage ich und sehe zu Besagtem auf. Nic ist gut anderthalb Köpfe größer als ich, hat die Statur eines Bären und das größte Herz, das mir je über den Weg gelaufen ist. Er erwidert meinen Blick und zwinkert mir zu.

Ich wende mich wieder an Sophie und ergänze: »Ich ziehe es eben vor, mich warm anzuziehen und auch über den Winter hinweg fit zu bleiben. Und da das eine auf dem modischen Weg nicht funktioniert und ich das andere gut mit dem täglichen Weg zur Uni verbinden kann, fahre ich nun mal bei Minusgraden durch die Stadt wie ein Waldmensch. Na und?« Herausfordernd sehe ich sie an. »Dich zwingt ja keiner, mit mir herumzulaufen. Mir ist es egal, wie ich aussehe, und ich habe hier auch noch niemanden gesehen, der es im entferntesten Wert wäre, dass ich ihm schöne Augen mache, also bitte.«

Sophie hebt lachend die Hände. »Alles klar, Miss Modemuffel, ich habe verstanden. Wie wäre es, wenn wir nach drinnen gehen, statt hier draußen zu diskutieren? Die Vorlesung fängt eh gleich an.«

Gemeinsam betreten wir das Fakultätsgebäude und seufzen wohlig auf, als wir von der Wärme empfangen werden.

»Wie war's in der Karibik?«, frage ich Sophie, als wir unsere Jacken ausziehen.

Sie schließt für einen Moment die Augen und legt ihre rechte Hand auf ihr Herz. »Traumhaft. Es war so sonnig, ich wäre am liebsten gar nicht mehr nach Hause gekommen. Ab jetzt möchte ich Weihnachten und Neujahr nur noch so verbringen.«

»Du bist auch richtig braun geworden«, sagt Nic anerkennend und schaut Sophie und mich abwechselnd an. »Das ist echt nicht fair. Die eine hat Kohle ohne Ende und gönnt sich mal eben einen Bräunungsurlaub zu Weihnachten, und die andere hat dank ihrer Gene immer einen Hautton wie flüssiges Karamell. Und ich bin der Depp, der Sommer wie Winter so weiß ist, dass man ihn vor einer weißen Wand nicht sieht.«

Sophie und ich sehen uns ungläubig an, dann lachen wir beide schallend los.

»Komm doch das nächste Mal mit«, schlägt sie vor.

»Klar, wenn du bezahlst.« Nic folgt ihr in Richtung des Vorlesungssaals, während ich noch damit beschäftigt bin, meinen Schal in meinen Rucksack zu stopfen.

»Als würde es einen Unterschied machen, wenn einer mehr oder weniger mitkommt«, sagt sie schulterzuckend.

Sobald ich alles verstaut habe, laufe ich ihnen hinterher. »Hey, dann will ich aber auch mit!«

Sophie lacht nur und öffnet uns die Tür, bevor sie selbst eintritt. Wir steuern unsere Stammplätze an und als wir uns setzen, träumt Nic immer noch von der sonnigen Karibik und lässt sich von Sophie haarklein berichten, wie hoch dort die Palmen wachsen und wie schön die Mädchen sind.

Ich weiß, wie die meisten Leute über Sophie denken. Ihre Eltern sind wohlhabend, sie ist sehr modebewusst und studiert an einer der angesehensten Universitäten des Landes. Verwöhnte Göre. Klar. Aber hinter dieser Fassade steckt so viel mehr. Sie ist wahnsinnig hilfsbereit, immer ehrlich und unglaublich klug. Außerdem ist sie total witzig, denn sie ist sich ihrer Erscheinung bewusst und macht sich allzu oft einen Spaß daraus, die verzogene Zicke heraushängen zu lassen.

Das wichtigste für mich allerdings ist, dass sie da war, als mich alle Welt verlassen hatte, und auch danach noch an meiner Seite geblieben ist. Und dafür liebe ich sie.

»Hörst du überhaupt zu?«, unterbricht Nic meine Gedanken und zwickt mich in den Arm.

Ich lächle verschmitzt. »Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Dass du mir helfen musst, Sophie davon zu überzeugen, ihren Geburtstag nachzufeiern!«

Erstaunt sehe ich sie an. »Du willst nicht feiern? Du feierst doch immer. Du warst an deinem Geburtstag in der Karibik und hast uns hier in der Kälte sitzen lassen, da ist es nur gerecht, wenn wir wenigstens eine ordentliche Fete schmeißen können.«

»Allerdings«, meint Nic, »und es sind bei Weitem die besten Partys überhaupt, also wie kommst du auf die Idee, sie dieses Jahr ausfallen zu lassen?«

Sophie legt ihre Stirn in Falten und hebt eine Augenbraue. »Jetzt darf ich noch nicht einmal selbst entscheiden, ob und wie ich meinen Geburtstag feiere? Ich möchte dieses Jahr keine Party und damit basta.« Sie wühlt in ihrer Tasche. »Ich möchte euch beide lediglich zum Essen einladen. Ich habe euch nämlich etwas Wichtiges zu sagen.«

»Und das kannst du uns nicht einfach so sagen?«, frage ich skeptisch. »Es ist so wichtig, dass du uns dafür erst ganz formell in ein Restaurant schleppen musst und sogar auf deine eigene Geburtstagsparty verzichtest?«

»Ja.« Mehr sagt sie nicht.

Nic öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, doch in diesem Moment betritt der Professor den Hörsaal und das Gemurmel, das vorher durch die Reihen gehuscht war, verstummt augenblicklich.

Während der nächsten zwei Stunden höre ich dem Professor nur mit einem Ohr zu, da meine Gedanken nicht aufhören wollen, umher zu kreisen. Ich denke darüber nach, was Sophie uns wohl sagen möchte; daran, dass ich den beiden noch nichts von dem Gespräch mit meinem Vater erzählt habe; ich denke an meine Mutter und frage mich, wann ich sie wieder besuchen kann; daran, wie meine Zukunft wohl aussehen wird; und ich denke an Leon. Immer Leon.

Er wollte immer Psychologie studieren. Das war sein Traum, seit er es geschafft hatte, den Schulschläger Anton zu besänftigen und sich sogar mit ihm anzufreunden. Dabei fand Leon heraus, dass Anton aus furchtbaren Verhältnissen stammte und Hilfe brauchte. Er war immer für ihn da und gab ihm Halt, und so entdeckte er seine Faszination für die Seele des Menschen.

Es ist einer der Gründe, weswegen ich diesen Studienzweig gewählt habe. Ich möchte seinen Traum für ihn leben.

Irgendwann stupst mich Sophie an und holt mich damit aus meinen Erinnerungen. Ich sehe sie fragend an und sie lehnt sich näher zu mir.

»Du hast doch vorhin gesagt«, flüstert sie, »dass du noch niemanden gesehen hast, dem du gern schöne Augen machen würdest.«

»Ja und?«, wispere ich zurück, ohne meinen Blick von der Präsentation, die nun über dem Hörsaal prangt, abzuwenden.

Sie zeigt auf jemanden einige Reihen vor uns. »Vielleicht willst du deine Meinung ja noch einmal überdenken.«

Ohne noch etwas zu erwidern, schaue ich in die Richtung, in die sie deutet. Wir teilen selten dieselben Ansichten, wenn es um Äußerlichkeiten jeglicher Art geht, doch wenn sie dafür sogar die Vorlesung ignoriert – was sie, wohl gemerkt, nie tut -, nur um mich darauf aufmerksam zu machen, dann muss ich wenigstens nachsehen.

Zwei Reihen schräg vor uns, mit einigem Abstand zu den anderen Studenten, sitzt ein junger Mann mit hellbraunem Haar. Ich kann nur einen kleinen Teil seines Profils sehen, doch was ich erkennen kann, sieht, da muss ich Sophie wohl oder übel recht geben, nicht schlecht aus. Vor ihm liegen ein aufgeschlagener Schreibblock und ein Bleistift, doch er greift nicht danach, als der Professor ein Schlüsselwort erwähnt und man im gesamten Saal das Kratzen von Stiften auf Papier wahrnehmen kann. Er sieht nach vorn, doch irgendetwas an seiner Haltung stimmt nicht. Es scheint, als würde er krampfhaft versuchen, einen interessierten Eindruck zu machen, obwohl seine Aufmerksamkeit woanders liegt.

Komisch. Mir kommt es so vor, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Aber ich kann einfach nicht genug von ihm erkennen, um ihn einordnen zu können.

Seit ich mich ihm zugewandt habe, brennt sich Sophies Blick in meinen Nacken. Als ich sie ansehe, wackelt sie mit den Augenbrauen.

»Und?«, will sie wissen.

Ich zucke nur mit den Schultern. »Geht.«

Sie verdreht die Augen und stöhnt leise auf. »Du bist echt unglaublich, weißt du das? Da wird dir so eine Sahneschnitte auf dem Silbertablett serviert, und dich interessiert es nicht?«

»Nun, er wird mir nicht wirklich serviert, oder?«

Daraufhin kommt von ihr nur ein »Tse«, doch ich weiß, dass es in ihrem Kopf arbeitet.

»Versuch's erst gar nicht«, warne ich sie.

Sophie setzt einen unschuldigen Blick auf und wendet sich wieder der Vorlesung zu. Ich weiß, dass sie etwas ausheckt. Die Frage ist nur, ob ich ihr entkommen kann.

Als die Vorlesung beendet ist, packe ich meinen Kram zusammen und erhebe mich von meinem Stuhl. Beim Verlassen der Sitzreihe achte ich darauf, dass Nic vor mir geht und Sophie hinter mir bleibt, damit ich notfalls die Flucht ergreifen oder bei Nic Schutz suchen kann, denn ich bin heute wirklich nicht in der Stimmung für ihre Verkupplungsversuche.

Nicht, dass ich das jemals wäre. Aber heute ist mir ganz und gar nicht danach.

Wir sind gerade dabei, den Saal zu verlassen, und ich wäge mich bereits in Sicherheit, als ich von hinten geschubst werde und mit jemandem zusammenstoße, sodass ich beinahe falle.

Natürlich!

»Oh Gott, Ana, das tut mir total leid! Geht's? Ich bin ausgerutscht, hier ist es total nass.« Wenn sie glaubt, dass ich ihr dieses Schmierentheater abkaufe, dann ist sie auf dem Holzweg.

Ich drehe mich zu ihr um und funkle sie bitterböse an, doch dann greift jemand sanft nach meinem Handgelenk.

»Alles in Ordnung?«

Ich wirble herum. Sturmgraue Augen mustern mich halb besorgt, halb belustigt. Augen, die ich kenne. »Ben?«, entfährt es mir.

Ein Lächeln tritt auf seine Lippen und in seinem Blick steht mehr als nur Überraschung, doch ich kann nicht sagen, was genau es ist.

»Ana, schön dich wiederzusehen!«, sagt er und lässt meinen Arm los.

Ich versuche, lässig zu wirken, da ich förmlich hören kann, wie Sophies Mund vor Erstaunen aufklappt. Denn damit, dass ich die von ihr getaufte »Sahneschnitte« kenne, hat sie wohl kaum gerechnet.

Was du kannst, kann ich ja wohl schon lange.

»Gleichfalls«, sage ich und erwidere sein Lächeln. »Und ja, alles in Ordnung. So ein Zusammenstoß hat schließlich noch niemanden umgebracht, nicht wahr?«

Ben lacht und greift nach seinem Rucksack, der wohl bei dem Zusammenprall von seiner Schulter gerutscht sein muss.

»Und was machst du hier?«, fragt er interessiert.

»Ich studiere hier. Und du?«

»Ist nicht dein Ernst!«, sagt er, für meinen Geschmack etwas zu laut. Einige Leute drehen sich nach uns um. »Ich auch. Wahnsinn, ich habe dich hier vorher noch nie gesehen.«

Ich nicke. »Tja, die Welt ist wirklich klein. Vielleicht laufen wir uns ja wieder einmal über den Weg, und dann kann ich mich bei dir revanchieren.« Ich zwinkere ihm zu.

Jetzt hat auch Nic gemerkt, dass hier etwas im Busch ist. Ich rede sonst nicht mit anderen Männern und zwinkere ihnen erst recht nicht zu. Gleich platzt er vor Neugier.

»Wie wäre es mit jetzt? Gehen wir zusammen Mittag essen?«, schlägt Ben vor.

Bevor ich es mir anders überlegen kann, stimme ich ihm zu. »Klar, gern, warum nicht? Ihr habt doch nichts dagegen, oder?«, frage ich an meine beiden Freunde gewandt.

Ich warte ihre Antwort nicht ab, sondern marschiere voller Stolz über meine Schauspieldarbietung aus dem Saal, Ben an meiner Seite, und lasse ihre verblüfften Gesichter hinter mir.

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