Ein Versprecher...
Ben und ich verlassen das Fakultätsgebäude und biegen in die Hauptstraße ein. Schweigend gehen wir nebeneinander her und allmählich zwingt sich mir die Befürchtung auf, dass ich einen Fehler gemacht habe.
Es ist merkwürdig. Ich kenne ihn überhaupt nicht und habe für ihn meine Freunde stehen lassen. Gut, Sophie hat es nicht anders verdient.
Trotzdem. Es ist komisch.
Ben scheint die Spannung auch zu bemerken, denn ich kann aus dem Augenwinkel sehen, wie er mich beobachtet und einige Male seinen Mund öffnet, um zu sprechen, ihn dann aber doch wortlos wieder schließt.
Schließlich entscheide ich nach einigen weiteren Metern, dass wir genug geschwiegen haben. »Seit wann studierst du hier? In welchem Semester bist du denn?«, frage ich ihn.
»Das hier ist mein letztes Jahr, ich bin im neunten Semester.«
»Oh cool, dann bist du ja bald fertig. Ich bin im fünften Semester, habe also noch einiges vor mir«, sage ich und lächle. »Wie alt bist du eigentlich?«
»23.«
Ich nicke und runzle die Stirn, als er dieser einsilbigen Antwort nichts hinzufügt. Irgendetwas stört mich daran, und es dauert einige Sekunden, bis ich begreife, was es ist. Ich bin nicht gut in der sozialen Sitte des Smalltalks, aber selbst ich weiß, dass auf eine Frage, wie ich sie ihm gestellt habe, eine Gegenfrage folgen sollte, entweder aus Interesse oder aus Höflichkeit. Als wir die Hälfte des Weges in Richtung Mensa hinter uns gebracht haben und er das Gespräch noch immer nicht wieder aufgenommen hat, nehme ich die Sache wieder selbst in die Hand.
»Du legst wohl nicht viel Wert auf Smalltalk, oder?«
Er sieht mich fragend an. »Wie meinst du das?«
»Naja«, sage ich und gestikuliere mit den Händen, »es wird allgemein als angenehm empfunden, nicht schweigend nebeneinander herzugehen, selbst wenn man dafür über flache Themen wie das Wetter sprechen muss. Und es gilt außerdem als höflich, sich auf eine Frage hin gegenseitig auszutauschen, aber das nur so nebenbei.« Ich fasse es nicht. Ich bin tatsächlich ein wenig angefressen.
Das ist doch total bescheuert.
Ben lacht. »Ich weiß doch, wie alt du bist, danach muss ich dich also nicht fragen.«
Ich bleibe stehen und sehe ihn misstrauisch an. »Woher willst du das wissen?«
Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich zu sehen, wie sich seine Augen etwas weiten, doch er hat sich so schnell wieder gefangen, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich es mir nicht doch eingebildet habe.
»Du hast es mir erzählt«, sagt er selbstsicher und stellt sich mir gegenüber.
»Habe ich nicht.«
»Doch, du bist 20 Jahre alt, woher sollte ich es sonst wissen?« Er sieht mich herausfordernd an.
Ich weiß nicht, was ich erwidern soll, denn er hat recht. Doch wenn ich eines habe, dann ist es das Gedächtnis eines Elefanten, und das sagt mir, dass ich ihm nicht mehr über mich erzählt habe, als was die Probleme mit meinem Vater betrifft.
Drohend hebe ich den Zeigefinger und mache einen Schritt auf ihn zu. »Verkaufe mich nicht für dumm. Ich habe dir nichts über mich erzählt. Also woher weißt du, wie alt ich bin?«
Nun sieht er mich abschätzend an. Er überlegt sicher, ob ich mit meinen 1,60m wirklich eine Gefahr für ihn darstelle. Und plötzlich, während ich ihn so wütend wie nur möglich anfunkle, fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Ich habe ihn in den letzten Tagen ständig gesehen, nur habe ich es nicht bewusst wahrgenommen. Als ich letzten Dienstag ins Fitnessstudio gegangen bin, ist er mir mit einem Handtuch über der Schulter begegnet, als er aus dem Umkleidebereich kam. Und als ich zwei Tage später einkaufen war, stand er vor mir an der Kasse. Er ist mir beim Spazierengehen über den Weg gelaufen, und ich habe ihn in einem mir entgegen kommenden Auto gesehen, als ich zu einer Freundin gefahren bin.
Er war immer da, immer in meiner Nähe, und das Erschreckende ist, dass ich davon überhaupt nichts bemerkt habe. Ich habe weder einen Schatten gespürt, der mir auf Schritt und Tritt gefolgt ist, noch hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden.
Das bedeutet also entweder, dass ich die Auffassungsgabe eines Goldfischs habe, oder dass er so leise und unsichtbar agieren kann wie ein Phantom. Keines gefällt mir sonderlich gut, obwohl mir Letzteres deutlich mehr Sorgen bereitet.
Was weiß er noch über mich? Wie lange geht das schon?
Während mir all diese Gedanken im Kopf herumspuken, sagt Ben nicht ein Wort. Er wartet einfach ab. Anscheinend ist ihm klar, dass mir langsam ein Licht aufgeht. So offensichtlich, wie mir meine Gesichtszüge zu entgleisen scheinen, ist das auch nicht schwer.
Bevor ich jedoch laut fluchend auf ihn losgehen kann, hebt er eine Hand und beginnt, beschwichtigend zu sprechen, und aus irgendeinem Grund höre ich ihm zu.
»Ana, bitte, ich weiß, was du jetzt denkst. Und ich kann es verstehen. Glaub mir, ich wollte genauso wenig wie du, dass es so weit kommt. Aber in gewisser Art und Weise habe ich keine Wahl. Ach verdammt, es ist schwierig. Ich darf es nicht erklären. So wie du mich jetzt ansiehst, habe ich allerdings das Gefühl, dass ich es muss, um weiterzukommen. Also bleibt mir nichts anderes.« Er schließt die Augen und atmet einmal tief ein und aus. »Ich habe keine Ahnung, wie ich es dir sagen soll, lass mir also bitte noch Zeit, bis wir uns zum Mittagessen hinsetzen, um die richtigen Worte zu finden.«
Er neigt seinen Kopf und bedeutet mir weiterzugehen. Ich folge ihm, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, ein wenig überrumpelt von seiner Offenheit. Entgegen jeder Vernunft verraucht mein Zorn beinahe vollständig, denn er wirkt ehrlich hin- und hergerissen.
Aber nur beinahe. »Das heißt, du bist kein normaler Stalker? Du denkst, du hast einen guten Grund dafür?« Ich kann es mir einfach nicht verkneifen.
Ben lächelt gequält. »Ich schätze, du hast recht damit, dass ich einem Stalker sehr nahe komme. Aber ja, ich habe einen Grund für mein Verhalten. Ob der gut ist... Darüber streiten sich die Götter.« Er runzelt die Stirn und sieht gedankenverloren auf seine Hände.
»Du gibst es also zu?«, frage ich überrascht.
»Es jetzt noch abzustreiten, bringt ja wohl nicht viel. Und da du mir tatsächlich etwas Angst machst, will ich auch kein Risiko eingehen.« Er zwinkert mir schelmisch zu.
Ungläubig starre ich ihn an, dann pruste ich los. »Ist klar. Nun gut, dann bin ich mal gespannt. Allzu viel Zeit, dir eine logische und nachvollziehbare Ausrede einfallen zu lassen, bleibt dir allerdings nicht mehr, denn« - ich mache eine umschweifende Handbewegung und deute auf das Gebäude vor uns - »wir sind da.«
Ben schnaubt nur und folgt mir in die Mensa. Wir nehmen uns ein Tablett und reihen uns in die Schlange der anderen Studenten ein. Ich bemerke, wie er sich interessiert, fast schon suchend umsieht, und mir kommt ein Gedanke.
»Du bist gar kein Student, oder?«
Einen Augenblick lang scheint er nicht zu wissen, was er darauf erwidern soll, doch dann lacht er und kratzt sich am Kopf. »Tja, jetzt ist es ja eh egal, oder?« Wir treten zwei Schritte vor. »Nein, ich bin kein Student.«
Ich nicke und lege den Zeigefinger an meine Lippen, während ich überlege, wobei er mich noch an der Nase herumgeführt haben könnte.
»Und du bist auch nicht in meinem Dorf aufgewachsen«, schlussfolgere ich nach einer Weile.
»Richtig«, gibt er zu.
»Kommst du überhaupt aus der Gegend?«
Er räuspert sich und zuckt die Schultern. »Nicht wirklich.«
Wieder nicke ich. »Und woher kennst du mich dann?« Das interessiert mich tatsächlich. Ich bin in den sozialen Netzwerken, die es heutzutage gibt, nicht sehr aktiv, und halte auch den Kreis der Menschen, die meine Handynummer haben, eher klein. Deshalb frage ich mich, wie er überhaupt auf mich aufmerksam geworden ist.
Ich bin ja kein bunter Hund. Eher im Gegenteil...
Da nun wir an der Reihe sind, unser Mittagessen zu wählen, kommt er für den Moment ohne eine Antwort auf diese Frage davon. Doch ich werde nicht locker lassen.
Als wir mit unseren Tabletts einen freien Tisch in einer Nische ansteuern, fällt mir noch etwas ein. »Heißt du wirklich Ben? Oder war das auch gelogen?«
Er verzieht das Gesicht. »Erstens habe ich nicht wirklich gelogen, sondern habe nur Anweis-«, doch er stockt und schüttelt den Kopf. »Und zweitens heiße ich tatsächlich Ben. Zumindest für dich.« Dann sieht er mich streng an. »Das muss reichen.«
Plötzlich geht eine Eiseskälte von ihm aus, die mich zurückschrecken lässt. Zwar haben wir noch nicht annähernd genügend Gespräche geführt, als dass man einen Roman damit füllen könnte, deshalb habe ich nicht wirklich eine Vergleichsmöglichkeit; dennoch war er bis zu diesem Moment stets freundlich und sogar charmant zu mir. Mit einer solchen Abfuhr habe ich schlicht nicht gerechnet.
Schweigend setze ich mich ihm gegenüber und murmle »Guten Appetit«, bevor ich einen Bissen nehme. Heute steht Gemüseburger mit Süßkartoffelpommes und Salat auf dem Speiseplan. Wieder einmal bin ich froh, dass die Mensa meiner Uni alle Vorurteile zu Kantinenessen in den Wind schlägt.
Ich betrachte Bens Tablett und stutze. Einzig ein Limonadenglas steht darauf, sonst nichts. Kein üppig gefüllter Teller, nicht einmal eine kleine Salatschüssel. Fragend sehe ich ihn an und begegne seinem Blick.
Seine sturmgrauen Augen mustern mich streng und verwandeln seine markanten Züge in ein verschlossenes Buch. Er sieht wirklich gut aus, keine Frage, doch auch unnahbar. Beinahe schon mysteriös, so wie er mich betrachtet.
»Isst du nichts?«, frage ich.
Ben stützt den Kopf auf seine Hände und seufzt. »Nein, ich habe keinen Hunger. Aber lass es dir gut schmecken.« Er deutet auf meinen Teller und lächelt mir zu. Sofort erwärmen sich seine Augen, und damit auch mein Herz.
Für eine Weile esse ich leise, während er mich beobachtet und hin und wieder an seiner Limonade nippt. Kurz bevor ich mein Besteck quer über meinen leeren Teller lege, greift er nach meiner Hand. Wie vom Blitz getroffen halte ich inne und starre ihn an.
»Es tut mir leid, dass ich dich vorhin so angefahren habe, das war nicht meine Absicht.« Dabei streicht er vorsichtig mit dem Daumen über meinen Handrücken.
Ich schlucke laut. »Äh, ja, schon gut.« Noch immer berühren seine Finger meine Hand und verwirren mich. Dann zieht er sie endlich zurück und ich bemerke viel zu spät, dass ich erleichtert laut aufatme.
Er zieht eine Augenbraue nach oben und grinst schief, doch einen Kommentar erspart er mir. Dann runzelt er die Stirn, sodass sich eine tiefe Falte über seiner Nase bildet. Ich kann sehen, wie er seinen Kiefer anspannt, und weiß, dass jetzt wohl der Moment gekommen ist, in dem er mir sagt, was hier vor sich geht.
»Du hast nicht viele männliche Freunde, oder?«, fragt er mich und überrumpelt mich ein weiteres Mal.
Was hat das denn mit deinem Verhalten zu tun?
»Ich weiß zwar nicht, was dich das angeht«, sage ich schnippischer, als ich beabsichtige, »aber ja, Nic ist der einzige Kumpel, den ich habe.«
»Ich meine nicht auf freundschaftlicher Ebene.«
»Wie bitte?«
Er wirft mir einen Blick zu, der alle Hysterie in mir verstummen lässt, und ich spüre allmählich, wie der Trotz in mir aufsteigt. Ich verschränke meine Arme vor der Brust.
»Wenn du glaubst, dass du mich jedes Mal zum Schweigen bringen kannst, wenn ich etwas sage, was dir nicht passt, dann hast du dich geschnitten.« Ich lehne mich zurück und sehe ihn ruhig an.
Und dann überrascht er mich aufs Neue, indem er sagt: »Ich weiß. Ich kenne dich gut, Ana, auch wenn ich dich bis jetzt nur aus der Ferne beobachten konnte. Und bevor du gleich wieder aus der Haut fährst, sage ich dir lieber, dass ich keine Wahl hatte. Es ist sozusagen mein Job.«
»Also bist du doch ein Spion«, sage ich und pieke ihm mit dem Zeigefinger in die Brust.
Er lacht kurz, dann wird er wieder ernst. »Das wäre wohl um einiges einfacher als das, was ich tatsächlich tue. Und eigentlich ist es mir strengstens verboten, es einem Menschen zu verraten, aber ich glaube, es geht-«
»Einem Menschen?« Ich weiß, dass ich mich nicht verhört habe. Er hat eindeutig Mensch gesagt.
Auch ihm scheint nun bewusst zu werden, was er da gesagt hat, und ich sehe an seinem Gesichtsausdruck, dass es sich dabei nicht nur um eine merkwürdige Art zu sprechen handelt.
Ich lehne mich nach vorn und sehe ihm direkt in die Augen. »Keine Spielchen mehr. Was läuft hier?«
Er greift sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel und schließt die Augen. Ich befürchte fast, dass er mir doch nicht antworten wird, als er zu sprechen beginnt.
»Du wirst es mir zwar nicht glauben, aber dir etwas vormachen kann ich nun auch nicht mehr. Und dir die Wahrheit zu sagen ist trotz der Vorschriftsverletzung die einzige Möglichkeit für mich, meine Aufgabe zu erfüllen.« Er sieht mich an, scheint nach etwas in meinem Gesicht zu suchen, doch als er es nicht findet, fährt er fort. »Wie ich bereits sagte, kenne ich dich gut. Aber nicht, weil ich es so will oder weil ich mir dich ausgesucht habe, sondern weil ich muss. Ich habe nicht nach dir gesucht, Ana, sondern ich wurde dir zugeteilt. Wenn ich es mich jetzt selbst sagen höre«, wirft er ein und grinst verschmitzt, »klingt es furchtbar kitschig und einfach unglaublich. Aber es ist tatsächlich so, und wir sind sogar sehr erfolgreich damit. Und außerdem-«
»Ben, du redest um den heißen Brei herum. Genau das wollte ich nicht. Ich will Klarheit, also sag mir, was du zu sagen hast.«
Jetzt ist er es, der schluckt und mich unsicher ansieht, bevor er seine Schultern strafft und Luft holt.
»Okay, wie sage ich das jetzt, ohne mich lächerlich zu machen? Ich bin quasi für dein Glück zuständig. Man hat mich geschickt, damit ich dir dabei helfe, die Liebe deines Lebens zu finden. Ich bin, nun ja, wie soll ich sagen, so etwas wie...«
»Du willst mir weismachen, du wärst mein Amor? Im Ernst?« Ich verschlucke mich an dem Lachanfall, der mich in diesem Moment überfällt.
Er nickt. »Ich denke, so kann man es sagen, ja.«
Und da ist etwas in seiner Stimme, das mein Lachen augenblicklich verstummen lässt.
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