Die Maske fällt

Das Glockenläuten reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe auf meine Uhr, es ist bereits zwei Uhr. Ich denke an Sophie und Nic, sicher sind sie bereits nach Hause gegangen. Für einen Moment habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich versprochen hatte, wiederzukommen, und es dann doch nicht getan habe.

Mein Blick schweift zu Ben, der noch immer neben mir sitzt. Er sieht in die Ferne, scheint ganz in seinen Gedanken verloren zu sein, und bemerkt nicht, dass ich ihn beobachte. Zum ersten Mal sehe ich ihn richtig an, ungetrübt von Wut oder Überraschung.

Er ist wirklich hübsch. Nicht auf die Art und Weise, wie es Teenie Stars oder Boy Band Milchbubis sind. Er wirkt reif, fast schon zu alt für seine äußerliche Erscheinung, als wäre er innerlich gealtert, während er nach außen hin unsterblich geblieben ist. Ich denke zurück an das, was er mir erzählt hat, und es ergibt Sinn: Ben starb 1919, das ist beinahe einhundert Jahre her. Seitdem muss er viel gesehen und erlebt haben. Jedes Mal, wenn sich unserer Blicke kreuzen, habe ich das Gefühl, in den grauen Tiefen seiner Augen wüte ein furchtbarer Sturm, den er nicht zu bändigen weiß. Sein Gesicht ist übersät von den Schatten, die seine Sorgenfalten hinterlassen. Er gibt sich witzig, unnahbar, doch er wirkt unglaublich müde.

Und wenn er lächelt, dann scheint er real, echter als viele Menschen, die ich kenne, und das ist es, was mich fasziniert. Ich denke an das Funkeln in seinen Augen, wenn er amüsiert ist, und an den Schalk, der aus jeder Pore seines Körpers tritt, wenn er glaubt, er könne mir einen Bären aufbinden. Dann wirkt er beinahe glücklich.

Ich beschließe, dass ich ihn gern öfter so sehen würde.

Obwohl ich ihn ungern in seinen Gedanken unterbreche, gibt es doch noch zwei Fragen, die ich unbedingt loswerden muss, bevor er sich wieder aus dem Staub macht.

»Ben?«, sage ich zaghaft.

Er erschrickt nicht, so wie es viele tun, wenn man sie aus ihrer Trance holt, sondern schließt die Augen. Jetzt sieht er unglaublich verletzlich aus, und ich verdanke es nur meinem inneren Kampfgeist, dass ich ihn nicht sofort in die Arme nehme, um ihn zu trösten. Als er sich mir zuwendet und mich ansieht, ist alle Verwundbarkeit verschwunden. Er hat seine Maske wieder aufgesetzt.

»Entschuldige, das war nicht sehr höflich von mir. Ich war für einen Moment ganz woanders.«

Ich winke ab. »Mach dir keinen Kopf. Ich hatte nur gehofft, dass du mir noch weitere Fragen beantworten könntest?«

»Natürlich«, sagt er, doch sein Blick wird lauernd.

Was habe ich gesagt, dass du dich plötzlich wieder so distanzierst?

Doch diesen Gedanken spreche ich nicht aus, stattdessen sage ich: »Also gut, zuerst die wohl einfachere Frage: Du hast mir bei unseren früheren Gesprächen immer gesagt, du könntest mir nichts über dich oder deinen Auftrag erzählen, wieso tust du es jetzt?«

»Es war mein Ernst, als ich dir sagte, dass mir alles schrecklich leidtut«, erzählt er mir. »Ich hatte es mir wohl zu einfach gemacht und nicht an deine Gefühle oder Wünsche gedacht, als wir zum ersten Mal sprachen. Damals fand ich es sogar taktlos von dir, mir all diese Fragen zu stellen. Aber dann wurde mir bewusst, dass der Fehler bei mir lag, und ich hoffte, dass du mir noch eine Chance gibst, alles wieder gut zu machen, wenn du die ganze Situation besser verstehst. Allerdings ist das nur ein Grund.«

»Und was ist der andere?«

»Wir werden überwacht. Nachdem wir beim letzten Mal unseren Deal ausgehandelt hatten, wurde ich zur Obrigkeit gerufen. Sie stellten mir unzählige Fragen und wollten mich schon von dem Fall abziehen, aber ich konnte sie überzeugen, dass ich unehrlich zu dir gewesen war und nur beschlossen hatte, dein Spiel mitzuspielen, um dich gefügiger zu machen. Aber seitdem hängen sie mir Tag und Nacht am Arsch und lassen mich nicht in Ruhe.« Er stöhnt genervt auf und verdreht die Augen.

»Mich überwachen sie auch?«, frage ich entsetzt.

Er schüttelt den Kopf. »Nur, wenn du mit mir zusammen bist. Sie haben kein Interesse daran, dich zu beobachten, wenn du allein bist, weil du – und nimm das bitte nicht persönlich – nicht wichtig für sie bist. In ihren Augen hast du keinen Einfluss darauf, was hier passiert, weil sie sich voll und ganz auf ihre Kräfte verlassen, also glauben sie auch nicht, dass du eine Gefahr für sie darstellst. Ich bin da zwar anderer Meinung, aber das werde ich ihnen ganz bestimmt nicht auf die Nase binden.« Jetzt grinst er mich an.

»Wie nett von dir, mich ernst zu nehmen«, sage ich und grinse zurück. »Und ich bin froh, dass du mir endlich die Wahrheit sagst, aber ist es dann nicht umso unvorsichtiger, mir alles zu erzählen, jetzt da sie dich überwachen?«

»Wieso, glaubst du, sind wir in einer Kirche?«, fragt er mich, anstatt auf meine Frage zu antworten.

Ich schaue mich um. Wir sind immer noch allein. »Weil... du es hier so schön findest?«

»Das auch«, gibt er zu und folgt meinem Blick, »aber viel wichtiger ist, dass sie uns eine, nun ja, sagen wir neunzig prozentige Sicherheit gibt, nicht belauscht zu werden.«

Ich runzle die Stirn. Ben sieht mich abwartend an, und dann verstehe ich. »Es hat etwas mit den Gebeten zutun, stimmt's?«

Er lächelt mich an. Ich kann förmlich spüren, wie die Distanz zwischen uns langsam wieder verschwindet. »Genau! Normalerweise ist es meinen Vorgesetzten ein Leichtes, mich selbst aus einer riesigen Menschenmenge herauszufiltern, um meine Gespräche abzuhören, aber alle Gebete, die in einer Kirche ausgesprochen oder auch nur gedacht werden, landen bei uns und stören damit sozusagen die Frequenz. Die Zuständigen sind meistens bis zu drei Wochen im Verzug, weil sie es einfach nicht schaffen, alle abgesandten Gebete in Echtzeit abzuhören.«

»Aber werden die denn nicht misstrauisch, wenn du plötzlich vom Radar verschwindest?«, frage ich.

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt von diesem Wurmloch wissen«, sagt er schulterzuckend, und etwas Freches, Rebellisches blitzt in seinen Augen auf. »So einen Fall wie deinen gab es noch nie, Ana. Noch nie musste jemand auf die Erde geschickt werden, um die Dinge vor Ort zu regeln. Deshalb können die aus der Chefetage auch noch nicht voll und ganz nachvollziehen, wie das alles hier funktioniert. So konnte ich mich bisher aus Situationen, in denen sie mich nicht aufspüren konnten, ziemlich gut herausreden.«

»Und woher weißt du davon?«

»Ich habe es vorher einige Male ausprobiet. Glaube mir, nach beinahe einhundert Jahren habe ich meinen Vorgesetzten so einiges zu sagen, für das ich sofort von meinem Posten abgezogen werden könnte. Aber es ist nichts passiert, obwohl ich mir wirklich Mühe gegeben habe; neben meinen Worten sehen deine Beleidigungen von vorhin aus wie der Wutanfall eines Kleinkindes.« Er zwinkert mir schelmisch zu.

Ich spüre, wie ich rot werde. »Ja... Was das angeht...«

»Sag nichts, ich hatte es wirklich verdient. Und wahrscheinlich auch mal gebraucht.«

»Keine Sorge, ich hätte mich sowieso nicht für alles entschuldigt«, sage ich lachend und boxe ihm in die Seite.

Er nickt. »Sehr gut.« Dann wird sein Blick herausfordernd und er rutscht ein Stück näher zu mir. »Und, wie sieht's aus, sind dir alle Fragen ausgegangen?«

»Das hättest du wohl gern«, necke ich ihn, doch ich bin dankbar, dass er so offen zu mir ist. »Eine Frage hätte ich noch, sie hat allerdings nichts mit mir oder dir zutun, sondern nur mit reinem Interesse.«

»Schieß los.«

»Welche Aufgaben gibt es noch, außer für unwillige Studentinnen Amor zu spielen? Welche Dienste können Menschen wie du noch antreten?«

Jetzt ist er es, der die Stirn in Falten wirft und mich fragend ansieht. »Wieso willst du das wissen?«

Ich zucke die Schultern. »Wie gesagt, es interessiert mich. Es... du faszinierst mich. Ich will mehr über dich wissen, wenn ich schon mit dir zusammenarbeite.«

Ben hebt einen Finger und öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch dann stockt er. Er wirkt überrumpelt, für den Bruchteil einer Sekunde blitzt etwas in seinen Augen auf, das ich nicht zuordnen kann. Und dann sehe ich es, es geschieht direkt vor mir: seine Maske fällt, sie zerbricht endgültig. Er schluckt schwer, scheint sich dessen bewusst zu sein, was gerade passiert ist. Dann lehnt er sich zurück und weicht meinem Blick aus, denn er weiß, dass ich es auch gesehen habe. Doch die Zeit des Versteckens ist vorbei, das wissen wir beide.

»Du machst mich fertig, Ana«, seufzt er leise. »Ich weiß einfach nicht, wie ich mit dir umgehen soll. Du bist so... so ehrlich, so vollkommen du. Ich habe so viele Menschen beobachtet, seit ich diesen Job angenommen habe, aber sie haben mich alle angewidert. Sie waren verlogen und falsch, und mit der Zeit hatte ich vergessen, wie es ist, selbst menschlich zu sein, also habe ich angefangen, die gesamte Menschheit zu verabscheuen. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, auf jemanden wie dich zu treffen.«

»Jemanden wie mich?«

»Du sagst genau das, was du denkst, und du bist so, wie du sein möchtest. Als du mich vorhin angeschrien hast, da warst du genauso du selbst wie bei unserem ersten Treffen, nach dem Streit mit deinem Vater. Egal was du tust, du bist echt. Du bist so, wie ich einmal war, ich habe es nur vergessen, nach all den Jahren.« Er sieht mich an, und da sind Wärme und Zuneigung in seinem Blick. Mir ist heiß und kalt zugleich, doch ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.

»Du weckst Erinnerungen in mir, von denen ich glaubte, sie längst verloren zu haben«, gibt er zu. »Das überfordert mich. Wie soll ich damit umgehen?«

Ich spüre, wie sich mein Innerstes zu sträuben beginnt. Er ist mir zu nah, zu vertraut, selbst nach dieser kurzen Zeit. Ich will weg von hier, und mein Herz soll verdammt nochmal aufhören, so laut zu schlagen, dieser Verräter!

Doch statt davonzurennen, sage ich: »Du kannst genau das tun, was ich auch tue: Sei du selbst. Sei ehrlich, zu mir und auch zu dir. Dann, glaube ich, halten wir beide es ziemlich gut miteinander aus, bis du deinen Auftrag erledigt hast.«

Er scheint über meine Worte nachzudenken, denn für einen Moment ist er ganz in seinen eigenen Gedanken versunken. Ich gebe ihm die Zeit, die er braucht; wenn es stimmt, was er sagt, und er sich so weit von seinem früheren Ich entfernt hat, muss das alles hier ziemlich überwältigend sein.

Schließlich nickt er. »Das heißt, du wirst mit mir zusammenarbeiten?«

»Wenn du immer so offen und ehrlich zu mir bist, wie du es heute warst, dann vielleicht sogar gern«, sage ich und grinse ihn an.

Das scheint die Stimmung endgültig zu heben, denn er klatscht in die Hände und richtet sich auf. »Mission angenommen! Und jetzt...«

Er dreht sich erneut zu mir um, wendet mir seinen ganzen Körper zu, und kreuzt seine Beine im Schneidersitz. Ich weiß nicht, wie er es schafft, aber selbst auf einer Kirchenbank sieht er dabei umwerfend aus.

»Jetzt verrate ich dir, welche Posten es neben meinem noch gibt. Also, du weißt ja, was ich tue – ich verhelfe unglücklichen, einsamen Seelen zu Liebe und Zweisamkeit. Das ist der einfachste Job, den Menschen nach ihrem Tod machen können. Anspruchsvoller ist die Arbeit der Schutzengel, von denen jeder Mensch einen hat, wie du sicher weißt.«

Ich nicke. »Also gibt es sie wirklich? Kennst du meinen?«

Ben lächelt nachsichtig. »Ja und ja. Aber mach dir keine Sorgen, du bist in guten Händen. Schutzengel sind, genau wie ich, immer nur für einen Menschen auf einmal zuständig, bis dieser stirbt. Dann wird er für den Prozess des Todes die Aufgabe eines Todesengels. Diese stehen mit den Engeln des Schicksals auf einer Stufe, was die Hierarchie angeht; nur die Besten der Besten können ihre Posten einnehmen. Was Todesengel tun, kannst du dir sicher denken.«

»Heißt das, es gibt keinen Sensenmann?«

»Doch, er ist quasi ihr Boss und teilt die Aufgaben zu. Sie stellen sicher, dass ein Mensch genau dann stirbt, wenn seine Zeit gekommen ist, genau unter den Umständen, die für ihn vorgesehen sind. Und all diese Details werden von den Engeln des Schicksals geregelt. Sie ziehen im Hintergrund die Fäden, egal ob es um Geld, Familienglück oder Erfolg geht. Wann immer du dir denkst: „Verdammt, das kann doch kein Zufall sein", darfst du dich bei diesen wundervollen Wesen bedanken.«

Mir entgeht sein sarkastischer Unterton keineswegs. »Du magst sie nicht besonders?«

Ben lacht kurz auf. »Das ist noch sehr schmeichelhaft ausgedrückt. Sie halten sich für die Allergrößten, weil sie glauben, dass alles, was hier passiert, am Ende auf sie zurückzuführen ist. Dabei gibt es dutzende andere Stellen, die so viel bedeutender sind als ihre... Aber was soll's, nicht mein Zirkus, nicht meine Affen. Sollen sich andere mit ihnen herumschlagen.«

»Und all diese Posten werden von Verstorbenen ausgefüllt?«, frage ich.

»So ist es. Wenn sie ihren Dienst vollbracht haben, warten bereits zehn weitere, um ihren Platz einzunehmen. Allerdings sind das bei Weitem nicht die einzigen Aufgaben, die zu erledigen sind, nur werden diese von wirklichen Engeln und anderen Himmelswesen ausgeführt, um Beständigkeit und Sicherheit zu garantieren.«

Mein Kopf fühlt sich an, als müsse er jeden Moment explodieren. Ich weiß, dass ich es selbst heraufbeschworen habe, aber mit so viel Information hatte ich dann doch nicht gerechnet.

»Ich werde noch einmal auf dieses Thema zurückkommen müssen«, sage ich also, »denn ich weiß nicht, ob ich all das jetzt schon begreifen kann... Moment, wenn diese Aufgaben komplett von echten Engeln und solchen auf Zeit übernommen werden, was macht dann Gott? Ich dachte, das wären seine Aufgaben?«

»Nun ja«, sagt Ben schmunzelnd, »bei sieben Milliarden Menschen, Tendenz steigend, wurde es ihm einfach zu viel, schätze ich.«

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