6. Kapitel: There's Such A Chill

KAPITEL SECHS

"Sing us a song
A song to keep us warm
There's such a chill
Such a chill"

(radiohead – exit music (for a film))

Sommer 2020

Tim saß auf einem Hocker im Badezimmer, der so klein war, dass er die Knie anziehen musste. Hinter ihm stand Stegi, Schere in der einen, Haarschneidemaschine in der einen Hand; Tim konnte sein Abbild im Spiegel vor sich sehen: Wie er grinste, sich auf Tims Schultern stützte, die Schere auf- und wieder zuschnappen ließ. Im Hintergrund spielte eine „Haarschneide-Playlist", die Stegi speziell für den Anlass erstellt hatte. „Also, was darf's sein?", fragte er.

„Du kennst meinen Haarschnitt." (Tim schnitt sich die Haare gleich, seit er 15 war. Es sah gut aus, es war einfach, jeder Frisör konnte die Frisur, und warum etwas ändern, wenn es funktionierte?)

„Ich dachte mir, du willst mal was Neues probieren. Jetzt, wo eh nur ich und Oskar dich sehen."

„Und Luca in zwei Wochen!" Oskar hatte Tim heute morgen erzählt, dass es noch genau dreizehn Tage bis zum Besuch waren; grinsend wie ein Honigkuchenpferd.

Stegi zuckte bloß mit den Schultern. „Hey, es sind deine Haare." Mit gerunzelter Stirn begutachtete er Tims Kopf und die Werkzeuge. Er legte die Maschine beiseite, wechselte die Schere in seine rechte Hand – glaube Tim zumindest; Spiegelbilder umzudenken bereitete ihm immer Kopfschmerzen – und fuhr mit den Fingern durch die bereits gekämmten Haare. „Ich würde erstmal alles kürzen, dann die Seiten rasieren? Machen das deine Frisöre so?"

„Ich glaube schon...?" (Sein normaler Frisör war eine Quasselstrippe; Tim war meistens eher auf seine Geschichten als sein Handwerk fokussiert.)

Stegi atmete tief ein und lang aus. „Alles klar. Ich hoffe, ich mach nichts kaputt."

„Wie gesagt, mich sieht ja fast niemand."

„Aber ich hab ja Interesse daran, dass du gut aussiehst."

„Wenn du 'nen schlechten Job machst, musst du eben mit den Konsequenzen leben", erklärte Tim und lachte. „Und danach schneide ich eh deine Haare, und dann versau' ich eben deine Haare, wenn du meine versaust. Deal?"

Okay, es war nicht völlig unwahrscheinlich, dass Stegi es verhauen würde. Aber Tims Lieblingsfriseur war immer noch nicht geöffnet, und Oskar – der einzige in der WG mit Haarschneideerfahrung – hatte sich geweigert, weil er „keine Erfahrung mit ihren Haartypen" hatte, was auch immer das hieß. Statt ihnen zu helfen, saß er in seinem Zimmer. Also war sich gegenseitig die Haare schneiden die einzige Option, wenn sie es nicht selbst machen wollten. (Und das würde sicherlich noch schlimmer enden.)

„Bereit?", fragte Stegi, die erste von Tims Haarsträhnen in die Höhe haltend.

Tim sah sich innerlich für einige Sekunden mit kahlrasiertem Kopf (wenn alles fehlschlug immer eine Option), dann nickte er und die Strähne taumelte von Tims Kopf langsam zu Boden. Er atmete deutlich aus.

„Siehst du?", fragte Stegi und lachte, während er bereits die nächste Strähne in die Hand nahm. „Alles gar nicht so schlimm."

Die Seiten, die sie später so oder so rasieren würden, schnitt Stegi schnell und nicht immer ganz gerade, was Tim nicht gerade mehr Vertrauen in seine Fähigkeiten gab. Erst, als er den Teil erreicht hatte, den sie länger lassen würden, legte er die Schere beiseite, legte den Kopf schief und fuhr sich selbst durch die Haare, die ihm inzwischen fast bis ans Kinn gewachsen waren.

„Soll ich doch Oskar rufen?", fragte Tim. Im Notfall ließ der sich immer überzeugen.

„Ne. Zu spät. Hier kommste nicht mehr raus." Mit breitem Grinsen lehnte Stegi sich in Richtung des Badezimmerregals und fischte aus Oskars Fach ein paar Haargummis heraus, die in der hintersten Ecke Staub ansammelten. Lucas, vermutete Tim, denn Lucas Haare waren inzwischen so lang, dass sie benötigt wurden. Nur war Luca lange nicht mehr hier gewesen, und hatte die Existenz dieser Haargummis vermutlich bereits vergessen – Sicherlich würde niemand ein Problem damit haben, wenn sie sich sie ausborgten? Stegi schien sich deswegen zumindest keine Sorgen zu machen. Mit dem Kamm teilte er Tims Haare ordentlich in verschiedene Teile auf, die er jeweils zu einem Zopf zusammenfasste. „Siehst lächerlich aus."

Er hatte Recht: Von Tims Kopf standen kleine, zu kurze Zöpfchen ab, zusammengebunden mit Haargummis in allen Farben des Regenbogens. „Ich find's fashionable", sagte Tim, „Vielleicht sollte ich statt einem Haarschnitt einfach das tragen?"

„Wage es bloß nicht."

„Was willst du tun? Schluss machen?"

„Forder's nicht heraus." Stegi löste den ersten Zopf wieder auf, legte die Schere an, und schnitt zuerst alles auf eine Länge, ehe er sich an die Feinheiten setzte. Gut – denn für einen Moment hatte Tim Angst gehabt, bald mit einem ungleich geschnittenen Topfschnitt herumzulaufen.

Jetzt bewegte Stegi sich weniger schnell – Allein die linke Seite dauerte länger als der gesamte untere Teil von Tims Haaren. Präziser, Augenbrauen zusammengezogen, nah über Tims Kopf gebeugt. Tim durfte sich weder bewegen noch zu viel reden: Dann schüttelte Stegi den Kopf, blies sich selbst die unzähmbare Haarsträhne aus dem Gesicht, ließ den Arm sinken, und sagte: „Tim, ich liebe dich, aber so kann ich nicht arbeiten."

Es war irgendwie süß, also erzählte Tim Stegi genau die Menge belangloser Geschichten, bei der Stegi nicht wirklich genervt sein würde.

Nach jeder fertig geschnitten Strähne fasste Stegi sie wieder in einem jetzt noch winzigerem und lächerlicherem Zopf zusammen und widmete sich der nächsten, bis schließlich die gesamte Oberseite geschnitten war. Das Einzige, was noch zu tun blieb, war, die Haare unten kurz zu rasieren – Eine Angelegenheit von Minuten, bei der das Surren der Maschine so laut war, dass Tim Stegis Worte dazwischen kaum verstehen konnte. Und dann, endlich, löste Stegi die Zöpfe auf, fuhr durch Tims Haare, bis sie halbwegs ordentlich lagen, und grinste triumphierend.

Es war nicht der beste Haarschnitt in Tims Leben, aber er war akzeptabel.

Stegi hingegen sah aus, als hätte er gerade den World Cup gewonnen. Er blies die Rückständige winziger Haare aus der Maschine, stützte sich mit den Ellenbogen auf Tims Schultern ab, und platzierte einen Kuss direkt auf der Mitte seines Kopfes, nur, um angewidert den Mund zu verziehen. „Du haarst", sagte er und zog sich einige kurze Härchen aus dem Mund.

Statt einer Antwort richtete Tim selbst seine Frisur so, wie er sie meist trug. Besonders aus dem rasierten Teil rieselten Schnittreste wie Schnee in Tims Schoß; ein Problem für später. „Danke", sagte er leise, lehnte den Kopf in den Nacken, um Stegi richtig und nicht nur im Spiegel anschauen zu können. „Sieht gut aus."

„Ja, ne?" Stegi lächelte. „Also keine Konsequenzen für mich."

„Du hast so ein Glück."

Mit einem Lachen küsste Stegi Tim erneut, diesmal auf den Mund. Seine Lippen fühlten sich merkwürdig an – rau, beinahe faserig? Tim unterbrach ihren Kuss und fuhr sich mit der Zunge über die eigenen Lippen: Ähnliches Gefühl. Merkwürdig. Oder war das –

Tim fuhr sich mit dem Finger über die Unterlippe. Auch hier klebten Haarreste – Genauso wie auf dem Boden, dem Hocker, und Tims Boxershorts. „Lachst du mich aus?", fragte er Stegi, dessen Grinsen breiter und breiter wurde.

„Ich sage doch, du haarst!" Stegi sprang einen Schritt zurück (vielleicht, um sich vor Tims Haaren in Sicherheit zu bringen, die auch schon an seiner Kleidung hingen?) „Du solltest duschen und dir die Haare auskämmen. Und ich kann hier saugen und den ganzen Kram wegmachen." Dabei gestikulierte Stegi über den dreckigen Boden.

Tim hob eine Augenbraue. „Und was ist mit deinen Haaren?"

Stegi zuckte mit den Schultern. „Vielleicht lass' ich sie so."

„Du vertraust mir nicht!"

„Nein", verteidigte Stegi sich, „aber ich meine, es war schon ziemlich schwierig, und selbst meine Frisöre strugglen mit meinen Haaren, weil ich so komische Wirbel drinhab." Wie zum Beweis lehnte er sich nach vorne und deutete auf einen Teil seiner Haare, der Tim wohl irgendwas zeigen sollte, für ihn aber nur nach Haaren aussah. „Außerdem: Je länger ich mich im Spiegel anschaue, desto mehr mag ich den Schnitt."

Tim musterte seinen Freund ausgiebig. Stegi hatte die Haare nicht so lang getragen, seit Tim ihn kannte – zur Schulzeit ein Kurzhaarschnitt, der Haarwachs zum Styling erforderte; nach dem Abi ein Undercut; kurz irgendwas, bei dem seine Haare in alle Richtungen abstanden; und für das letzte Jahr mittellang, aber immer gestylt. Jetzt fielen sie ihm bloß ohne viel Styling hinunter, was leichte Wellen durchkommen ließ. (Manchmal erwischte Tim Stegi dabei, wie er diese fasziniert im Spiegel betrachtete, als wäre ihm selbst nicht bewusst gewesen, dass seine Haare so aussahen.) Er sah gut aus. Erwachsener, aber immer noch verspielt. Tim mochte es, wenn Sonnenlicht auf die längeren Strähnen fiel oder wenn Stegi sich auf etwas konzentrieren musste und sie zu einem notdürftigen, lächerlich kurzem Zopf zusammenfasste.

Also protestierte er nicht gegen Stegis Entscheidung. „Aber du solltest die Spitzen schneiden", merkte er an. (Er war sich nicht sicher warum, aber das war doch das Ding bei längeren Haaren, oder?) „Und alles halbwegs auf eine Länge bringen." Denn aktuell waren Stegis Haare hinten viel länger als vorne.

Stegi drehte seinen Kopf und beobachtete sich dabei im Spiegel. „Stimmt."

„Also?" Tim streckte die Hand nach der Schere aus, aber Stegi hieb sie zur Seite.

„Ich versuch's selbst", erklärte er, „Ich hab jetzt Übung. Aber du musst mir hinten helfen."

Tim lachte. „Alles klar."

„Aber dusch erstmal. Ich hol' dir was zum Anziehen, damit du nicht wieder in die haarige Boxershorts musst." Stegi grinste und war mit einem schnellen Satz aus dem Bad verschwunden.

*

Tim klopfte zum zweiten Mal an Oskars Tür, nachdem er beim ersten Mal keine Reaktion erhalten hatte. Erst jetzt meldete sich sein Mitbewohner gedämpft: „Komm rein."

Also stieß Tim die Tür auf und fand sich in einem vollkommen abgedunkelten Raum wieder. Oskars Zimmer ging zum Süden raus, und an einem Tag wie heute – brennende Sonne, schwüle Luft – heizte es sich auf wie ein Backofen. Trotz der Vorsichtsmaßnahmen war die Temperatur erschlagend. Oskar lag neben einem Ventilator auf seinem Schlafsofa; eine leere Flasche Wasser lag neben ihm auf dem Boden. Der Aschenbecher auf dem Fensterbrett war voll. Er hatte einen Arm über seine Stirn gelegt und sah nicht auf, als Tim eintrat und die Tür leise zuzog.

„Du wolltest doch meinen Haarschnitt sehen", sagte er zögernd in die Stille hinein. Es war ungewöhnlich, dass Oskars Zimmer still war: Fast immer spielte Musik und das Fenster war offen, so, dass Stimmen und Vogelzwitschern von draußen hineingetragen wurden. Tatsächlich kannte Tim nur eine Situation, die Oskar semi-regelmäßig zu dieser Verzweiflung trieb.

Er fürchtete, sie war eingetreten.

Mit einem angestrengten Stöhnen richtete Oskar sich weit genug auf, um Richtung Tim zu blicken. Der Ventilator blies ihm Haarsträhnen in die Augen. „Stegi hat 'nen guten Job gemacht", sagte er. Dann ließ er sich wieder auf die Couch fallen.

Nicht nur das Wetter machte die Luft im Raum erdrückend.

Tim überlegte für eine Sekunde, sich zu verabschieden. Stegi hatte Tim des Bades verbannt, um sich ohne nervige Kommentare auf seinen Schnitt konzentrieren zu können (jedenfalls so lange, bis der Hinterkopf dran war), aber er konnte genauso gut in sein Zimmer gehen und dort darauf warten, dass er fertig wurde.

Oskar sank noch ein Stückchen tiefer in die Schlafcouch ein. Seine Haare, aktuell dunkelblau, verschwommen im Schatten mit seinem schwarzen Kissen. Er machte eine Handbewegung, die so etwas sagte wie Geh schon, alles gut.

Was gar nicht gut war. Oskar tat nichts lieber, als sich über jedes kleinste Leid bei anderen auszukotzen.

Tim trat weiter in den Raum hinein und zog die Tür hinter sich zu. „Luca?", fragte er und ließ sich auf Oskars Schreibtischstuhl fallen.

Nach einigen Sekunden der Stille murmelte Oskar etwas, das wie eine Zustimmung klang.

Luca, Oskars langjähriger Partner, studierte irgendwas mit Weltraum und Physik, und die Formeln, die Tim beim letzten Besuch auf Lucas Laptop erspäht hatte, hatten ihm Kopfschmerzen bereitet. Dazu kam ein hoch angesehenes Stipendium, das auch Zeit erforderte: Fortschrittsberichte, Veranstaltungen. Ganztätige Praktika in Laboren; Klausuren, für die man Wochen am Stück lernen musste, und die selbst Luca dann gerade so meisterte.

Das lies wenig Zeit für beinahe alles andere.

„Was ist passiert?"

„Hat abgesagt. Meinte, es klappt diesen Monat nicht mit dem Besuch, weil Luca durch 'ne Prüfung gerasselt ist und jetzt für die Nachschreibeklausur lernen muss. Und ich versteh' schon, dann kann man nicht einfach weg von der Bib, und von Leuten, die einem beim Lernen helfen."

„Klausur? So früh im Semester?"

„Irgendein brutaler Prof. Lässt die wohl 3 Prüfungen schreiben, eine war ganz am Anfang, eine jetzt. Eine dann in den Ferien."

Tim ließ sich weiter in den Stuhl zurücksinken und schwieg.

„Ich würde ja vorbeifahren, aber ich muss arbeiten. Wenn wenigstens Berufsschule wäre, könnte ich die von da aus machen... Aber dann heißt's ja auch wieder, wie soll man lernen, wenn ich die ganze Zeit mit im Raum sitze? Das geht ja auch schlecht, und ich kapier' das ja, aber..." Oskar klang bitter. „Ich hab kein Bock mehr, du verstehst?"

Das letzte Mal, dass Tim Luca gesehen hatte, war im Dezember gewesen. Zu einer Silvesterfeier in Bremen mit allen (fast allen: Paulina war die Anreise aus Island zu weit) von Stegis Freunden aus der Schulzeit. Das letzte Mal, dass Luca hier gewesen war?

Tim hatte August im Kopf, aber er konnte genauso gut falschliegen. Er dachte an die Haargummis hinten im Regal, bedeckt von einer Schicht Staub.

„Vielleicht ja diesen Sommer?", sagte Tim. „Ich mein', fahren wohin man will darf man ja theoretisch wieder..."

Oskar zuckte bloß mit den Schultern. „Vielleicht. Aber Luca hat immer Klausuren und Praktika, und ich weiß nicht – ich meine – es ist so lange her, dass wir uns gesehen haben, weißt du? So unendlich lange."

Silvester. Inzwischen wärmte unbarmherzige Junihitze ihre Wohnung; das Fenster in der Küche hatte inzwischen eine umfunktionierte Regenbogenflagge als Vorhang bekommen, um sie zumindest ein wenig auszusperren. Nicht, dass es viel half.

Tim wusste nicht, was er sagen sollte, also hielt er die Klappe und wartete darauf, dass Oskar fortfuhr.

„Du hast ja keine Ahnung wie das ist", fuhr er schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen fort. „Seit Januar haben wir uns nicht gesehen, seit 'nem halben fucking Jahr. Manchmal schreibt Luca mir tagelang kaum, weil es so viel abzugeben gibt. Ich höre Lucas Stimme wochenlang nicht. Mit der Zeit, so viel scheiß Zeit, kannst du auch Astronaut werden und die Sterne persönlich sehen. Fuck." Oskar vergrub eine Hand in seinen Haaren und schloss die Augen. Sein Atem zitterte in der Stille zwischen ihnen.

Tim hatte Oskar und Luca zusammen gesehen. Sie passten. Aber der Schmerz in Oskars Stimme ließ selbst Tim für einen Moment zweifeln.

Jedes tröstende Wort, das ihm einfiel, fühlte sich nicht richtig an; als würde er versuchen, eine Fleischwunde mit einem Pflaster zu flicken.

„Tut mir leid", sagte er schließlich bloß. „Ehrlich. Das ist 'ne scheiß Situation."

„Ich weiß", murmelte Oskar. Er hörte sich plötzlich an, als hätte er tagelang nicht geschlafen. „Es ist bloß so unfair."

„Ihr schafft das. Es ist nur noch ein Jahr, oder?" Dann war Luca, wenn alles nach Plan lief, mit dem Studium fertig. „Dann könnt ihr in die gleiche Stadt ziehen, und der Scheiß hat sich erledigt."

Oskar antwortete nicht. Sein Atem war das einzige Geräusch im Zimmer. Aus dem Bad klang Stegis Musik, aber sie hörte sich unendlich weit weg an, wie aus einer der anderen Galaxien, die Luca mit Formeln zu greifen versuchte.

„Ich bin mir sicher, ihr seht euch bald. Vielleicht im nächsten Berufsschulblock, oder wenn du mal Ferien hast..."

„Ist schon gut, Tim", murmelte Oskar. „Du musst es nicht schönreden für mich."

Tim schluckte. Er zog die Beine an und legte die Arme um sie, unsicher, was er noch sagen konnte. Vielleicht gab es nichts zu sagen. Vielleicht waren manche Dinge einfach beschissen, und es half am Besten, wenn jemand anderes sie ebenfalls beschissen fand.

„Und ich weiß, dass es nur ein Jahr ist. Aber ein Jahr ist eine verdammt lange Zeit."

Er dachte an das Frühjahr ohne Stegi. Den Herzschmerz und die ewigen Anrufe und das Verdammen der Nachrichten und des verdammten Virus, auf das er immerhin sauer sein konnte. Wie lange war es gewesen? Vier Monate?

Ein Jahr war eine verdammt lange Zeit.

Vorsichtig manövrierte Tim den Schreibtischstuhl etwas näher an das Sofa heran. Er streckte eine Hand aus und ließ sie unsicher auf Oskars Handgelenk, das vom Sofa Richtung Boden baumelte, liegen.

Oskar bewegte seine Hand gerade genug, um sie in Tims zu legen. Er drückte sie, Handfläche gegen Handfläche, Fingerspitzen gebohrt in Tims Handrücken. Es war leise genug, dass Tim jede Unregelmäßigkeit in Oskars Atem bemerkte, jedes Runterschlucken eines Kloßes im Hals.

Er sagte nichts, und er tat so, als würde er die einzelne Träne, die Oskar über die Wange rannte, nicht sehen. (Oskar nutzte seinen freien Arm, um sie wegzuwischen, so vehement, als würde er sie in eine andere Welt wünschen, in der es nie Tränen wegen der Liebe gab.) Er beschwerte sich nicht über den Druck auf seine Hand, auch, als Fingernägel sich tiefer in sie bohren. Er ließ die nutzlosen Versuche, die passenden Worte zu finden: Oskars kühle Hand in seiner schien genug zu sagen.

Oskars Atem beruhigte sich, war nicht mehr unregelmäßig genug, um als Geräusch wahrgenommen zu werden. Tim hörte seinen Herzschlag, und das Quietschen der Couch, als Oskar sich bewegte, und im Hintergrund – nichts?

Die Musik aus der anderen Galaxie stoppte. Tim hatte sie bereits ausgeblendet, aber die plötzliche Totenstille ließ ihn aufhorchen. Das Schwingen einer Tür. Schritte im Flur. Stegi: „Tim, komm her, die Pflicht ruft!"

Auch Oskar sah Richtung Tür auf. Für eine Sekunde schwiegen sie beide, die Stille nicht mehr so natürlich, wie sie zuvor gewesen war. „Geh schon", sagte er, „Es ist nicht das erste Mal, ich komme klar."

Tim zögerte. Die letzten Male war es ihm ähnlich wie Oskar ergangen, mit Stegi weit weg, und sie hatten gemeinsam über ihren Schmerz lachen und ihn mit Mario Kart fortspielen können. Es fühlte sich unendlich egoistisch an, Oskar hier mit Liebeskummer allein zu lassen, weil sein Freund nach ihm rief.

„Geh!" Oskar drückte seine Hand ein letztes Mal, so fest, dass es schmerzte. Dann ließ er los. „Ehrlich. Sonst läuft Stegi dir noch weg."

Das Licht im Flur war im Vergleich zu Oskars Zimmer blendend grell. Stegi lehnte im Türrahmen des Bads, ungeduldig mit den Fingern gegen die Tür klopfend. „Na also!" Seine Haare sahen anders aus, irgendwie ordentlicher. Licht aus dem Badfenster fiel von hinten auf sie und ließ sie aufleuchten. „Bereit?"

„Wenn du es bist", erwiderte Tim und ließ sich von Stegi ins Bad ziehen.

Sonst läuft Stegi dir noch weg.

Tim küsste ihn auf die Stirn, sobald er auf dem Stuhl saß. Scheiß auf die Haare, die er im Mund haben würde.

„Wofür war das?", fragte Stegi mit einem Lächeln im Gesicht. Er reichte Tim die Schere, die sich bisher noch in seiner Hand befunden hatte.

„Ach", sagte Tim, „nichts."

In diesem Moment nahm er sich vor, niemals dafür zu sorgen, dass Stegi ihm weglaufen wollte – Komme, was wolle.



Sorry für die lange Uploadpause - Hat persönliche Gründe, und ich versuche, mich zu bessern <3 Das nächste Kapitel ist bereits halbfertig, und ich hoffe, wir kommen wieder in einen halbwegs regelmäßigen Uploadrhythmus.


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