Riders
„Hey Clay."
Ich spreche mit einer flüsternden Stimme, die in der Stille des Raumes laut wieder hallt. Die dünne Decke habe ich mir bis zum Kinn gezogen und meinen zitternden Körper darunter verborgen. Stiles ist schon seit einiger Zeit verschwunden. Nachhause gefahren, vermute ich. Scott ist seit dem nicht mehr aus seinem Zimmer gekommen und ich habe das Gefühl, dass Stiles Misstrauen ihm zum Denken angeregt hat. Vielleicht fängt auch er nun an, mir nicht mehr zu vertrauen.
„Charlotte...hey." Die Stimme meines Bruders klingt verschlafen und ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, ihn durch diesen Anruf geweckt zu haben. Es ist bereits nach Mitternacht und erst das zweite Mal, dass ich ich ihn anrufe. „Ist was passiert?" Er kennt mich einfach zu gut und tief atme ich durch. Ich frage mich, was ich ihm erzählen soll. Es ist einfach so viel passiert. „Ich habe mit meinem Freund geredet," ich entscheide mich für das Gespräch mit Theo, weil ich und Clay bei unserem letzten Gespräch über ihn geredet hatten. „Das ist toll." Ich kann am anderen Ende Rascheln hören, als würde er sich unter der Bettdecke bewegen. Ich kann mir nahezu vorstellen, wie er sich verschlafen durch die umgemachten Haare fährt und das Telefon nur halbherzig ans Ohr drückt. „Er hat diese Menschen absichtlich verletzt Clay," ich drücke mir das Handy fester ans Ohr und beiße mir kurz auf die Unterlippe, „Es war er oder sie." Ich verwende unterbewusst dieselben Worte wie Theo, als würde ich seine Erklärung nutzen, um mich selbst davon zu überzeugen.
„Gerechtfertigt?"
Ich denke ernsthaft über seine Frage nach, bevor ich langsam mit dem Kopf schüttele. „Ich glaube, dafür gibt es keine Rechtfertigung," ich denke an Theos Geschichte zurück. Sie war schlimm - traumatisch - doch nicht Grund genug um Menschen zu verletzten oder zu töten. Es wird wohl nie einen ausreichenden Grund geben, um das Leben eines Mitmenschen gezielt zu beenden. „Trotzdem vertraust du ihm," ich bin überrascht von der Schlussfolgerung, die mein Bruder in diesem Moment zieht. Ich drehe mich auf dem Sofa nach rechts, sodass ich auf meinem Rücken liege und meinen Blick auf die dunkle Decke richten kann. „Ja," antworte ich ihm anschließend hörbar überrascht und frage mich innerlich, woher er von meiner Entscheidung weis.
„Ich möchte ihm helfen," ich flüstere die Worte leise ins Telefon und fahre mir gleichzeitig durch die Haare, „Er ist momentan gefühlt der einzige Freund den ich habe." „Mhm...," mein Bruder klingt nachdenklich und ich frage mich, was ich hier überhaupt mache. Ich telefoniere mit meinem toten Bruder über einen Jungen, der seine Schwester ermordet hat, weil sich meine besten Freunde nicht länger an mich erinnern können. Was zur Hölle ist mit mir los? Ich bemerke wie Clay in ein nachdenkliches Schweigen verfällt und sich die Stille zwischen uns schwer auf meine Brust legt. Ich habe das Gefühl, dass mein Bruder selbst in Problemen steckt und ich diesen Anruf - erneut - nur auf mich gelenkt habe. Was geht in seinem neuen Leben wohl vor? Es tut weh keine Antwort darauf zu haben.
„Alles okay?"
Ich kann mir bildlich vorstellen wie Clay sich nachdenklich durch die Haare fährt und durch meine Frage blinzelnd aus seinen Gedanken gerissen wird. „Warum fühlt sich das alles hier an wie ein Deja Vú?" Ich bin überrascht von der Frage und werde im ersten Moment von so vielen gedanklichen Antworten überrascht hat, dass ich seine nächsten Worte fast überhört: „Warum fühlt es sich so an, als würde ich dich schon Ewigkeiten kennen?" Mein Kinnladen klappt überrascht auf und ein leises Ähhh dringt aus meinem Mund. Ich bin überwältigt von Clays unerwarteter Aussage und spüre im selben Moment ein aufgeregtes Kribbeln durch meine Verne strömen. Erinnert er sich an mich? Ist jetzt vielleicht ein guter Zeitpunkt, um ihn von unserer Verwandtschaft zu erzählen?
„Weil du es tust," die erklärenden Worte rutschen mir ungewollt über die Lippen und nervös presse ich sie anschließend fest aufeinander. Meine Finger zittern und mir fällt es schwer, das Handy in der Handy zu behalten. Irgendwo im oberen Stockwerk kann ich Scott hören. Doch Clays Atmung in meinem Ohr ist lauter. Präsenter. Ich kann meine Aufmerksamkeit nicht von der Stille der anderen Leitung lenken und spüre im selben Moment bereits den Selbsthass, der sich anbahnt. Warum habe ich das gesagt? Was soll Clay auch darauf antworten und wie zur Hölle soll ich ihm alles erklären?!
„Woher hattest du diese Nummer?"
Ich bin überrascht das mein Bruder meine Aussage einfach überhört hat. Ich kann es in seiner Stimme hören. Er klingt gedankenverloren und innerlich bildet sich sofort ein Bild von ihm ab. Ich kann ihn sehen, wie er im Schneidersitz auf dem umgemachten Bett sitzt. Die Decke halb über seinen Oberschenkeln und nach oben schauend. Die Augenbrauen hat er nachdenklich zusammengezogen und das Telefon dicht ans Ohr gepresst. Er würde die Unterlippe immer wieder zwischen seine Zähne klemmen, bevor sie langsam an ihren ursprünglichen Platz rutscht. Seine freie Hand würde auf seinem Oberschenkel liegen und sicherlich würden seine Finger unterbewusst einen monotonen Takt auf seine unbedeckte Haut trommeln. Es tut weh den eigenen Bruder so verinnerlicht zu haben. Es tut weh, sich so zu fühlen als wäre er ein Teil von einem selbst und doch so fremd. Denn die Wahrheit ist, dass ich keine Ahnung habe wie Clay in diesem Moment aussieht. Wie er gekleidet, frisiert ist. Welchen Takt seine Finger klopfen und wie er auf dem Bett sitzt. Ob er auf dem Bett sitzt. Wie überhaupt sein Zimmer aussieht. Ich weiß nichts mit Sicherheit über ihn. Außer, dass sein Name Clay ist.
„Woher hattest du diese Nummer?" wiederholt Clay seine eigene Frage erneut, bevor er eine Zweite gedankenverloren nachschiebt, „Woher wusstest du von mir?" Seine langsam misstrauisch werdende Stimme dringt unter meine Haut und betroffen schlucke ich. Ich spüre den brennenden Druck hinter meinen wässrigen Augen und das beißende Kribbeln in Nase und Rachen. Ich versuche meine Gefühle unter Kontrolle zu behalten, doch schon jetzt spüre ich, wie sich die eiserne Hand der Verzweiflung um meine Brust legt und mich droht bei dem nächsten zweifelnden Wort zu zerdrücken.
„Du bist mein Bruder Clay."
Die Aussage rutscht mir unbedacht über die Lippen. Tränen stehen in meinen Augen und das Brennen in meinem Rachen scheint sich zu lösen, als ich aufhöre, krampfhaft die Tränen zurückzuhalten. Ich atme tief durch und das Zittern in meinen Fingern macht es mir schwer, das Handy am Ohr zu behalten. Meine Schultern beben und noch immer spüre ich diesen unangenehme Druck auf meinem Brustkorb, gegen den mein rasend schnelles Herz anzukämpfen droht. Blut rauscht in meinen Ohren und fast überhöre ich das fassungslose Was meines eigenen Bruders.
„Du bist mein Bruder, Clay - ich bin deine Zwillingsschwester," ich kann nahezu spüren wie sich Clays Gesicht zu einer fragendem Grimasse verzieht, „Du kannst dich nur nicht mehr an mich erinnern." Ich drücke das Handy fester gegen mein Ohr, aus Angst die Erwiderung meines Bruders überhören zu können. Mein Herz klopft schmerzhaft schnell gegen meine Brust und ich spüre ein unangenehmes Brennen an meinem linken Arm. Es zieht sich von meinen Fingerspitzen bis hin zu meinem linken Schlüsselbein. Jedoch ignoriere ich die leichten Schmerzen in meinem Körper und richte meine Aufmerksamkeit gespannt auf die Verbindung zwischen mir und meinem Bruder. Meine Muskeln spannen sich an und ich kann die kribbelnde Aufregung in meinem Körper spüren. Was wird er antworten?
„Das kann nicht sein," Clay scheint fassungslos mit dem Kopf zu schütteln. Die leisen Hintergrundgeräusche im Telefon lassen mich eine solche Bewegung automatisch vermuten. Ich bin enttäuscht von seiner zurückweisenden Aussage, rede mir jedoch ein, dass sie in einem solchen Moment wohl normal ist. Wenn man überhaupt etwas an unserer Situation als normal bezeichnen kann. „Ich...ich habe keine Schwester. Ich bin ein Einzelkind." „Weil es mich nicht mehr gibt," ich schöpfe bei jedem weiteren Wort das Selbstvertrauen, um in diesem Moment der impulsiven Versuchung, die Wahrheit zu sagen, nachzukommen: „Du, Mom, Dad - ihr habt mich alle vergessen. In eurer Welt existiere ich nicht mehr...," ein brennender Schwall an plötzlich aufkommenden Schmerzen durchfährt meinen Körper und ich muss meine eigene Erklärung mit einem leiden Stöhnen unterbrechen. Das brennende Kribbeln in meinem Arm ist stärker geworden und zieht sich nun nicht nur über meinen Oberarm, sondern auch über meine Schultern und den Rücken hinab. Ich drücke mein Rückenmark durch, als würde die Berührung mit dem Sofa die Schmerzen auslösen. Doch selbst als mein Rücken wenige Zentimeter in der Luft schwebt, ziehen sich die Schmerzen noch immer brennend heiß durch meinen Körper und ich kann spüren wie sich meine Muskeln verspannen. Für wenige Sekunden drängeln sich die Schmerzen in den Vordergrund und kurz ich vergesse das Handy in meiner Hand.
„Das kann nicht sein," murmelt Clay in diesem Moment leise vor sich hin und meine Aufmerksamkeit kehrt schlagartig zurück auf seine ruhige Stimme, die in meinem Ohr vertraut wiederholt. Es kostet mich eine ungemeine Kraft, um ihm überzeugend zu widersprechen: „Du hast gesagt du fühlst es auch. Du kennst mich. Du fängst an dich an mich zu erinnern," das Brennen greift nun auch auf meine Brust über und ich kann spüren, wie sich mein Brustkorb langsam zusammen zieht. Plötzlich fällt mir das Atmen schwerer und eine unangenehme Hitze ergreift meinen verspannten Körper. „Nein," die Stimme meines Bruder ist schneidend und bevor ich etwas einwenden kann, hat er den Anruf ohne ein weiteres Wort beendet. Fassungslos hallt das wartende Tuten der unterbrochenen Verbindung in meinem Ohr wieder und ich bin so verwundert über das hastige Auflegen meines Zwillings, dass ich gar nicht mehr spüre, wie die brennenden Schmerzen in meinem Körper langsam verklingen und ich geschwächt auf das Sofa zurücksinke.
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Ich wünsche euch schon jetzt einen guten Rutsch ins neue Jahr. Ich hoffe, dass ihr alle gut in 2020 starten könnt und mit diesem Kapitel noch einen schönen Abschluss für dieses Jahrzehnt habt.
Fun fact: ich bin grad in Singapur und starte deshalb sieben Stunden vor euch ins neue Jahr.
Lg CoolerBenutzername
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