On the storm
„Du erinnerst dich nicht."
Scotts Augenbrauen ziehen sich bei meiner Aussage verwundert zusammen und ich kann sehen, wie er kurz zögert. „An was...," er scheint nach den richtigen Worten zu suchen, doch taumelnd weiche ich vor ihm zurück. Eine pulsierende Taubheit hat sich in meinen Adern breit gemacht und ergreift langsam mein Herz. Die Ghostrider sind verschwunden. Alle ausgelöschten Menschen sind zurückgekehrt und trotzdem scheint sich mein bester Freund nicht mehr an mich erinnern zu können. Plötzlich fallen mir die ganzen kleinen Details aus den letzten Minuten auf, die ich gekonnt übersehen habe. Er erinnert sich tatsächlich nicht mehr an mich.
„Oh hey Scott...," Theo schiebt sich geschickt zwischen uns und während er dem Teenager irgendwelche Dinge erzählt, starre ich wie hypnotisiert auf meine Hände. Vielleicht ist das Narbengewebe deshalb noch da. Vielleicht ist deshalb noch immer die Nummer von Clay in meinem Handy eingespeichert und vielleicht fühle ich mich deshalb so leer. Weil sich noch immer niemand an mich erinnern kann.
„Charley..."
Die raue Stimme von Theo dringt langsam zu mir durch und der Klang meines Spitznamen schneidet sich tief in mein Fleisch. Scott hatte mich so genannt. Ich habe geglaubt es wäre ein Zeichen, dass er mich wiedererkannt hat. Doch vielleicht war es nur ein dummer Instinkt. Vielleicht hat Theo mich inzwischen oft genug so gennant, um in Scotts Kopf unterbewusst hängen zu bleiben. Ich kann spüren wie sich warme Hände auf meine Schulter legen und der Druck der Berührung mich langsam zurück in die Wirklichkeit holt. Blinzelnd richte ich meinen Blick auf Theo, der mich besorgt mustert. „Alles okay?" Ich möchte Nicken, schaffe es jedoch nicht. Stattdessen murmele ich mit niedergeschlagener Stimme „Er kann sich nicht erinnern." Darauf erwidert Theo nichts mehr und eine unangenehme Stille macht sich zwischen uns breit. Langsam hebe ich den Blick und sehe den nachdenklichen Ausdruck in seinem Gesicht. Keine Überraschung. Keine Angst. Nichts. Nur die simple Registration meiner Worte und plötzlich fällt es mir wie Schuppen vor die Augen.
„Du hast es gewusst!"
Meine Stimme wird etwas lauter und Theos Augen weiten sich vor Schreck. Blitzschnell hat er mir die Hand auf den Mund gepresst und mich mit seinem Körper wenige Schritte zurückgedrängt. Hinter ihm kann ich Scott erkennen, der mit Malia redet. Als er jedoch meinen Aufschrei hört, hebt er überrascht den Blick und mustert mich und den Jungen mit einer unterbewussten Alarmbereitschaft. „Pscht! Nicht so laut," flüstert mir Theo warnend ins Ohr, bevor er von mir ablässt und ich wenige Zentimeter von ihm zurück stolpern kann. „Du hast es gewusst," wiederhole ich anschließend anklagend meine fassungslosen Worte, achte dieses Mal jedoch selbst bewusst auf meine eigene Lautstärke. Ich möchte nicht dass Scott oder einer seiner Freunde misstrauisch wird.
Vielleicht können wir das alles noch reparieren.
Vielleicht...irgendwie.
„Nein, ich habe es nicht gewusst," widerspricht mir Theo jetzt mit einer eindrücklichen Stimme, aber sein kurzes Zögern verrät ihn. Ich starre ihn auffordernd an und seufzend verbessert er seinen Satz: „Aber ich hatte da so eine Vermutung." „Seit wann?" Ich stemme meine Hände in die Hüften und warte ungeduldig auf seine Antwort. Im ersten Moment glaube ich, dass er gar nichts mehr sagen wird. Er wirft einen kurzen ausweichenden Blick über seine Schultern und beobachtet sekundenlang Scott und Malia. Doch gerade als ich ihn wütend dazu auffordern möchte, endlich mit der Sprache rauszurücken, dreht er sich wieder zu mir und räuspert sich. „Schon seitdem du diese Narben hast," er zeigt demonstrativ auf meine Hände, deren vernarbte Haut im schwachen Schein des Mondes glänzen. „Seit ich...," fassungslos atme ich aus, „Seit ich diese Narben habe, weißt du, dass dieser Kampf sinnlos für mich ist?" Theos geschockter Blick erinnert mich wieder daran, dass ich auf meine Lautstärke aufpassen muss. Scott hat erneut besorgt den Blick gehoben und ihn auf mich gerichtet. Ich möchte ihn beruhigend zulächeln, schaffe es jedoch noch nicht einmal die Hand für einen kurzes, beruhigendes Abwinken zu heben.
„Ich habe es nicht gewusst," Theo verdreht die Augen und wütend balle ich meine Hände zu Fäuste, „Und wann genau hattest du vor mir von deiner," ich lege bei meinem nächsten Wort möglichst viel Spott in meine Stimme, „Vermutung zu erzählen?" Der Teenager scheint meine aufkommende Wut zu bemerken. Er versucht es sich nicht anmerken zu lassen, doch ich sehe den besorgten Schatten der kurz über seine Augen huscht. „Ich wollte mir erst sicher sein, bevor ich dich beunruhige." „Ich wäre gerade fast bei dem Versuch, meine Existenz zu retten, gestorben!" Erneut ist meine Stimme laut und dieses Mal kann ich sehen, wie sich Scott in Bewegung setzt. Ihm scheint aufgefallen zu sein, dass das Gespräch zwischen mir und Theo gefährliches Terrain erreicht hat. Er möchte einschreiten bevor einer von uns - wahrscheinlich ich - verletzt wird. Doch das ist mir in diesem Moment egal. Ich baue mich vor Theo auf und mustert ihn aus zusammengekniffenen Augen.
„Wir hatten einen Deal," in dieser Sekunde ist es mir egal, dass Scott meine Worte hört, „und du hast die ganze Zeit gelogen!" „Ich habe nicht gelogen," versucht sich Theo sofort zu verteidigen, „nur ein paar Informationen für mich behalten." Wütend schnaube ich auf und versuche ihn mit meinen Handflächen zurück zu stoßen. Er bewegt sich keinen Zentimeter zurück, was mich noch wütender macht. „Du wusstest es! Du wusstest es die ganze Zeit!" Meine Stimme wird zu einem verzweifelten Schluchzen und ich kann die brennenden Tränen der Verzweiflung in meinen Augen spüren, die mein Blickfeld langsam in einen unscharfen Ozean verwandelt. Bevor Theo noch ein weiteres Wort sagen kann, wird er unsanft von Scott zurückgezogen. Dieses Mal stolpert er wenige Schritte zurück und ich kann das gefährliche Funkeln in Scotts Augen sehen. Obwohl er sich nicht mehr an mich erinnern kann, scheint er noch immer einen ausgeprägten Beschützerinstinkt für mich zu empfinden.
„Was ist hier los?" fragt der dunkelhaarige Junge und allein in seiner Stimme schwingt genug Autorität mit, um mich verunsichert auf den Boden starren zu lassen. „Wir waren gerade in einem Gespräch und ich habe ihr noch etwas zu sagen," zischt Theo und baut sich kaum merklich vor dem Alpha auf. Es ist das erste Mal, an das ich mich erinnern kann, bei dem sich Theo offen gegen den Alpha richtet und ihn geradezu zu einem Kampf auffordert. Ich hoffe Scott geht der Aufforderung nicht nach. Nicht, weil ich Angst habe er könnte verlieren, sondern weil ich nicht sehen möchte, wie er sich auf die Ebene von Theo begibt. „Charley?" Es tut unglaublich weh zu hören wie Scott meinen Spitznamen ausspricht, als wäre es das Normalste der Welt. Als würde er sich immer noch an mich erinnern können. Würde ich es denn überhaupt ertragen können, diesen Spitznamen öfter aus seinem Mund zu hören, mir der Gewissheit, dass er mich nicht länger kennt? Dass alle Erinnerungen aus den letzten Jahren einfach...verschwunden sind?
„Charlotte?"
Erst mein voller Name schafft es mich aus dem Strudel an beängstigenden Gedanken zu retten und langsam schaue ich den dunkelhaarigen Jungen an. Blinzelnd löst sich der wässrige Schimmer in meinen Augen auf und langsam verstehe ich, was er von mir erwartet. Er möchte wissen, ob ich weiterhin mit Theo reden möchte oder ob er ihn wegschicken soll. Ich bin überrascht, dass er mir diese Entscheidung überlässt. Er sieht den wässrigen Schimmer in meinen Augen, kann das rasende Klopfen meines Herzens hören und das Zittern meiner Finger beobachten. Meine Gefühle reichen von Verzweiflung, zu Wut bis zur Hoffnungslosigkeit. Scott sollte all' diese Schwankungen spüren, riechen und hören können. Ein Wunder, dass er Theo nicht schon längst zum Teufel gejagt hat.
Langsam hebe ich den Blick und starre meinen besten Freund schweigend an. Er nickt mir aufmuntert zu und ich sehe, wie sich seine Muskeln unter seiner Kleidung leicht anspannen. Er scheint meine Antwort bereits zu kennen und nur darauf zu warten, dass ich ihn bitte Theo endgültig von mir Fern zu halten. Doch bevor ich antworte, fahren meine Augen zu Theo, der den Kopf leicht schräg gelegt hat. Seine Haare hängen ihm ungemacht in die Stirn und eine einzelne Haarsträhne ist so lang, dass sie seine dichten Wimpern berührt. Schmutz und Blut kleben wie eine zweite Haut an ihm und in seinen Augen ist ein wässriges Glänzen. Ich erinnere mich an den Jungen, mit dem ich einen Deal gemacht habe. Einen Jungen, dem ich nicht vertrauen konnte und der mir für eine Weile sogar Angst gemacht hat. Doch diesen Jungen sehe ich trotz meiner frustrieren Wut nicht. Stattdessen sehe ich den kleinen, hilflosen Jungen, der seine Schwester verloren hat. Der seine Eltern an die Dread Doctors verloren hat und nur knapp dem Tod entkommen ist. Ich sehe noch immer in ihm den Jungen, der bereit war mir zu helfen und der mir mehrmals das Leben gerettet hat.
Scheiß Mitgefühl.
Scheiß Erinnerungen.
Scheiß Emotionen.
„Ist schon okay," seufze ich nachgebend und nicke Scott widerwillig zu, „Theo und ich haben...," ich werfe dem erwähnten Jungen einen kurzen, angespannten Blick zu, „noch etwas zu klären." „Bist du dir sicher?" fragt mein bester Freund zögerlich nach. Er steht noch immer neben Theo und scheint jederzeit bereit, ihn grob aus meiner Nähe zu schaffen. Auch Malia ist in der Zwischenzeit zu uns getreten und Scotts Sorge scheint sich auf sie übertragen zu haben. Also richte ich meine Augen auf ihn und nicke langsam. „Ja ich bin mir sicher," mein Blick schweift zu Theo, „Er hat mir noch so einiges zu erklären."
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