Into this world
„Theo was war das gerade eben?"
Liam kann nicht locker lassen und langsam kann ich Theos angestaute Wut gegenüber dem jüngeren Teenager verstehen. Schon jetzt hat der angesprochene Junge wütend den Kiefer zusammengepresst und ich kann sehen, dass es ihn Überwindung kostet, Liam nicht sofort eine rein zu schlagen. „Ich dachte kurz, ich wäre wo anders," bei deiner Schwester, schlussfolgere ich wortlos und als Theo mir dann auch noch einen kurzen Blick zuwirft, glaube ich mit meiner Vermutung recht zu haben. Der Tod seiner Schwester scheint ihm näher zu gehen als Stiles mir erzählt und jeder aus Scotts Rudel vermutet hatte. In diesem Moment wendet sich Theo wieder von mir ab und gerade als er das Thema wechseln möchte, ertönt ein lauter Knall im Gang. Erschrocken zucke ich unter dem plötzlichen Geräusch zusammen und fahre herum. Der Gang liegt noch immer in Dunkelheit, jedoch blitzen helle Lichter vor der gläsernen Eingangstüren auf. Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis die Ghostrider auftauchen und versuchen werden, auch uns auszulöschen. Bei diesem Gedanken läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken und Erinnerungen von meiner erfolglosen Flucht tauchen erneut in meinem Kopf auf. Ich spüre die Todesangst. Die Panik und für wenige Sekunden glaube ich auch wieder fühlen zu können, wie sich mein Körper langsam in einem Nebel aus grünem Rauch aufzulösen beginnt.
Ich werde ruckartig aus meinen Erinnerungen gerissen, als Theo mein Handgelenk umfasst und mich kraftvoll mit sich zieht. Ich habe Schwierigkeiten seinen schnellen Schritten zu folgen und nur sein Griff verhindert dass mein mehrmaliges Stolpern nicht zu einem Sturz führt. Unsere Schritte hallen betäubend laut durch den Gang. Sie knallen wie Schüsse in meinen Ohren und selbst meine laute Schnappatmung schafft es nicht sie zu übertönen. Erst als Theo mich in einen abgetrennten Raum zieht, scheinen die lauten Donnerschläge unserer eigenen Schritte langsam zu verstummen und die Panik in meinem Körper scheint sich wenigstens für die erste Sekunde aus meinen zitternden Muskeln zu lösen. Ich werfe einen kurzen Blick durch den Raum und stelle fest, dass Liam uns in die Leichenhalle des Krankenhauses geführt hat. Und mit dieser Realisation kehrt die Panik auf einen Schlag zu mir zurück.
Schweratmend stütze ich mich an der Wand ab. Kalter Schweiß hat sich auf meinem Rücken gebildet und das Zittern meiner Beine lässt in mir die Angst aufkommen, gleich zu fallen. Meine kurzen Nägel krallen sich haltsuchend in die weiße Wandfarbe, während mein Herzschlag ohrenbetäubend laut in meinem Kopf pulsiert. Die Stimmen von Theo und Liam werden zu einem unverständlichen Mischmasch und ich habe Schwierigkeiten mit den Druck auf meiner Brust zu atmen. Clay. Ich versuche mir das Gesicht meines Zwillingsbruder ins Gedächtnis rufen. Ich versuche mir jedes Detail seines beruhigenden Lächelns vorzustellen und bilde mir ein, seine ruhige Stimme zu hören. Clay. Ich murmele den Namen leise vor mich hin, in der Hoffnung durch ihn einen Ruhepol zu finden, der mich aus der paralysierenden Panik befreien kann. Meine Finger krallen sich fester in die Wand und ich kann spüren wie sich die weiße Farbe unter meine Nägel gräbt. Das Zittern meiner Beine scheint schwächer zu werden und langsam wird auch das laute Pulsieren in meinem Kopf leiser.
Clay.
„Ihr hättet mich da raushalten sollen," Theo Stimme dringt langsam zu mir durch und es kostet mich eine unglaubliche Kraft, meinen Kopf zu heben und den Teenager in dem schwachen Licht des Raumes zu finden. Ein wässriger Schleier hat sich über meine Augen gelegt und ich muss ein paar mal blinzeln, um den verdoppelten Schimmer verschwinden zu lassen und nur noch einen Theo sehen zu können. Clay. Der Junge lehnt sich kopfschüttelnd auf dem Tisch ab, den sie in den letzten Minuten scheinbar vor die Türe geschoben haben. Ich weiß, dass der stabile Tisch nur wenige Sekunden der Kraft der Ghostrider standhalten würde, doch in diesem Moment bin ich froh, wenigstens diese Barriere zwischen uns und den näherkommende Reiter zu haben. Bei diesem Gedanken legt sich erneut ein unangenehmer Druck auf meine Lungen und eine eiserne Kette scheint sich langsam um meinen Brustkorb enger zu ziehen. Clay. Meine Atmung wird flacher und meine Finger krallen sich erneut in die Wand. Clay. Das Pulsieren in meinem Kopf nimmt zu und wird so dominant, dass ich fast Liam's Kommentar überhöre, dass er Theo in diesem Moment entgegen bringt.
„Noch besser im Erdboden."
Theos Blick fährt schlagartig zu dem Teenager herum. Ich kann sehen wie sich die Muskeln unter seinem dunkelblauen Langarmshirt anspannen und er sich von der Tischplatte abstößt. Er macht einen bedrohlichen Schritt auf Liam zu und selbst ich kann die Anspannung in seinem Gesicht sehen. Es scheint ihn Kraft zu kosten, nicht sofort mit Fäusten auf den Jungen loszugehen. Stattdessen zieht er herausfordernd die Augenbrauen hoch und fragt mit einer spöttischen Stimme: „Wirklich?" „Ja wirklich!" Entweder ist Liam neuerdings selbstmordgefährdet oder besonders dumm. Er fordert Theo mit seinen Worten bewusst heraus und langsam löse ich mich von Wand. Ich versuche einen Schritt auf die beiden Jungen zuzumachen und in die Situation einzugreifen bevor sie eskaliert, doch meine Beine zittern und geben bereits nach dem ersten Schritt unter meinem geschwächten Körper nach. Ich falle und schaffe es nur notdürftig mich an einer Liege abzufangen. Doch das bemerken die beiden Jungen noch nicht mal. Stattdessen macht Theo einen weiteren Schritt auf Liam zu und fragt nun mit gepresster Stimme nach: „Was habe ich da wohl getan? Mit meiner toten Schwester abhängen? Unsere Kindheitserinnerungen wieder aufleben lassen?"
Theos Worte nehmen bei jedem weiteren Wort mehr Wut zu und ich starte erneut einen Versuch, um in die Situation einzugreifen. Langsam löse ich meine Finger von der Liege und versuche meinen unsicheren Körper auszubalancieren. Meine Beine zittern doch wenigstens schaffe ich es, ohne Hilfe stehen zu bleiben. Ich hebe zögerlich meinen Blick und sehe Liam, der Theo in diesem Moment mit einem herausfordernden Blick anvisiert und mit einem betont lockeren Schulterzucken einwirft: „Ich dachte du verrottest da unten."
Ich möchte einen Satz nach vorne machen und zwischen die beiden Jungen treten, bevor sich Theo auf ihn stürzen kann. Doch meine Beine zittern noch immer wie Espenlaub und ich schaffe es nicht, mich überhaupt in irgendeine Richtung zu bewegen. Meine Muskeln sind erstarrt und mir bleibt nichts anderes übrig als die hitzige Situation weiterhin aus der Entfernung zu beobachten. Dabei habe ich mich bereits mit dem Gedanken abgefunden, dass Theo den jüngeren Teenager gleich verprügeln wird und wir dabei alle von den Ghostridern überrascht werden. Sie dürften nicht mehr allzu weit von uns entfernt sein.
„Und damit hat Liam endlich mal Recht."
Ich bin überrascht von Theos ruhigem Einwand. Er wendet den Blick kopfschüttelnd von Liam ab und ich kann sehen, wie er den Kiefer zusammenpresst. Ich erinnere mich nur zu gut an Theos Vergangenheit und an die Dinge, die er mir nur wenige Nächte zuvor anvertraut hat. „Ich denke, was immer dir passiert ist, hast du verdient," Liam macht wenige Schritte auf den Jungen zu, nutzt jedoch einen metallischen Seziertisch als Barriere zwischen ihm und Theo. Er scheint zu wissen, dass seine Worte den Jungen provozieren könnten und er im Falle eines Kampfes wahrscheinlich den Kürzerer ziehen würde. Jedoch hat sich Theo noch immer von uns abgewandt und seinen Blick auf das kleine, in der Türe eingelassene, Fenster gerichtet. Er scheint die Worte des Jugendlichen zu hören, im ersten Moment jedoch nicht darauf eingehen zu wollen. Dann jedoch dreht er sich erneut Liam zu und fragt mit ruhiger Stimme nach: „Ist das so?"
Ich möchte dem Teenager helfen.
Ich möchte Liam von seiner Vergangenheit erzählen und ihm klar machen, dass Theos Leben von schlechter Umständen bestimmt war. Dass der Mord an seiner Schwester zwar gewollt, aber auch erzwungen war. Dass er ein Monster geworden ist, weil andere ihn dazu gemacht haben. Sie oder Ich. Theo hatte bei seinen Beweggründen nie gelogen oder versucht die Wahrheit vor mir zu verstecken. Er hat geweint. Reue gezeigt und auch wenn ich glaube, dass es für Mord keine Entschuldigung gibt, glaube ich ihm für seine Taten verzeihen zu können.
Irgendwie.
„Wenn die Ghostrider uns finden werde ich nichts für dich tun," Liam's Stimme durchbricht die bedrückende Stille im Raum und nimmt mir so die Chance Theo zur Hilfe zu eilen, „Ich werde dir nicht helfen. Ich werde dich nicht retten." In der Zwischenzeit ist Liam näher an Theo getreten und seine harten Worte schneiden mir tief ins Fleisch. Ich kann das Gesicht meines Freundes nicht erkennen, dass Muskelspiel unter seinem Oberteil jedoch beobachten. Er scheint wütend zu sein. Angespannt und doch lässt er Liam weiterreden. Er unterbricht ihn nicht. Fällt ihm nicht widersprechend ins Wort und flieht auch nicht. Stattdessen bleibt er vor der Türe stehen und hört sich Liam's Drohung schweigend an.
„Ich werde das tun, was du auch für mich tun würdest - dich als Köder benutzen."
Der Junge hat sich vor Theo aufgebaut. Wahrscheinlich möchte er ihm zeigen, wie ernst er seine Worte meint, auch wenn der angesprochene Junge bisher keine Reaktion darauf zeigt. In diesem Moment jedoch dreht sich Theo zu ihm um und schweigend starren sie sich an. Ich setze mich in Bewegung und stolpere mit unsicheren Schritten auf sie zu. Ich weiß, dass ich die beiden Teenager nicht auseinander halten kann sobald sie sich einmal dazu entschieden haben aufeinander loszugehen. Doch ich habe die Hoffnung mich den beiden in den Weg zu stellen, noch bevor sie Handgreiflich werden. Auch wenn ich keine Ahnung habe ob mein Anblick ihre Wut bändigen kann.
„Hörst du den Krankenwagen noch?"
Theos Einwand durchbricht die angespannte Stille zwischen den beiden Jungen und raubt der Situation so schnell die Bedrohlichkeit, wie sie sich erst wenige Sekunden davor aufgebaut hat. Ich komme neben Liam zum Stehen und versuche die Antwort auf Theos verwunderte Frage mit einem kurzen Lauschen herauszufinden. Auch Liam legt den Kopf nun leicht schräg und lauscht in die Stille des Gebäudes. „Die Sirene. Hörst du sie noch?" Theo Stimme wird drängender und ich muss mir eingestehen, das Martinshorn der Krankenwagens selbst nicht mehr hören zu können. Was sich zuvor zu einem monotonen Hintergrundgeräusch entwickelt hat, ist nun einer beängstigenden Stille gewichen. Die Sirene ist verstummt und plötzlich verstehe ich Theos drängenden Unterton.
„Sie sind hier," schlussfolgere ich mit einem leisen Murmeln und das leichte Nicken der beiden Jungen bestätigt mir meine schlimmste Befürchtung.
Sie sind hier.
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