II.
II.
"Don't be dramatic, it's only some plastic
No one will love you if you're unattractive"
~mel. m.
:.:
00:00.
DAS ZERSPRINGEN EINER Fensterscheibe ließ Prude von ihrem Arbeitstisch hochschrecken. Die Kirchturmglocke läutete. Desillusioniert sah sie sich um. Ihre Augen waren weit aufgerissen. War sie etwa eingeschlafen? Ein Blick auf das Handy verriet ihr, dass es Mitternacht war.
Der Nebel in Prudes Kopf lichtete sich, als sie auf den Tisch blickte. Weg. Ihre Nummer Eins war weg! Sowohl Kopf als auch Körper. Panik flutete sie und sie raufte sich die Haare. Ihr Blick huschte von einer Ecke zur nächsten, doch es gab keine Spur.
Ein Knarzen.
Prude drehte sich in Richtung Tür. Das Geräusch war aus dem Ausstellungsraum gekommen. Sie schnappte sich ihr Handy, erhob sich und rannte hinüber. Auf dem Flur blieb sie auf dem roten Teppich wie angewurzelt stehen. Zahlreiche Augenpaare von ihren modellierten Puppen waren auf sie gerichtet. Wie Schaufensterpuppen posierten sie. Auf der Anhöhe standen Coco und Polly. Nur ihre Nummer Eins fehlte. Prude zog die Augenbrauen zusammen. Das Fenster dahinter war eingeschlagen. Splitter waren überall auf dem Boden verteilt.
Als Prude sich aus ihrer Starre gelöst hatte, begann sie auf dem roten Teppich in Richtung der Anhöhe zu laufen. Genau in diesem Moment flackerte die Glühbirne und im nächsten Moment war es stockfinster.
Prude fluchte. Sie wandte sich ihrem Handy zu und suchte verzweifelt nach ihrer Taschenlampenapp. Nur ihr hektischer Atem war zu hören. Sonst nichts. Als sie das Handylicht gefunden hatte, richtete sie es auf die Anhöhe und tappte vorsichtig dorthin. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Als sie vor dem Platz - der für die Top-3 bestimmt war -, angelangte, stutzte sie. Prude richtete ihr Handylicht auf Coco. Totenstille. Nichts regte sich. Nur eine Frage geisterte in ihrem Kopf herum. Wie zum Teufel waren Coco und Polly hier hergekommen?
„Buh", hauchte Coco und Prude kreischte auf. Sie fiel nach hinten und landete hart auf dem sonst so weichen Teppich.
Ein allgemeines Seufzen ging durch den Raum und überall raschelte es. Flüstern und Atmen waren zu hören. Prude richtete ihre Taschenlampe zittrig auf die Puppen links und rechts vom roten Teppich. Sie lebten. Ihre Plastikmenschen lebten. Sie kramten in ihren Handtaschen herum, betrachteten sich in ihrem Taschenspiegel und tuschelten miteinander.
„So, war's das jetzt endlich mit dem Puppentheater?", hörte man Cocos Stimme genervt fragen.
„Nein, nein, bitte nicht. Das Licht tut so weh in meinen Augen. Ich kann nicht leben. Coco, denkst du, habe ich ADHS?", fragte Polly.
Prude erhob sich und richtete ihre Lampe auf die beiden.
„Coco? Polly?", fragte sie zittrig.
„Coco! Ha! Wer soll das denn sein? Lustige. Falls du mich meinst, ich bin Isteen", spottete Coco.
„Hey! Wieso bekommt Isteen so einen tollen Namen und ich nicht? Ah, ich bin so überfordert, ich kann nicht mehr", jammerte Polly und sank zu Boden wie ein Häuflein Elend.
„Halt die Klappe, Gonny! Heulsuse."
Prude schüttelte sich. Ihre Puppen lebten. Sie lebten. Wie war das möglich? Und sie verhielten sich ganz anders. Gar nicht charmant oder lieb oder nett.
„Hab Hunger. Bekomm ich eine Cola?", fragte Isteen. Prude sammelte sich und trat zitternd an die beiden heran.
„Bitte hört mir zu. Meine Nummer Eins ist weg. Ihr müsst mir helfen. Ich bitte euch! Es ist wichtig. Ohne ihr kann ich nicht weitermachen!"
„Nummer Eins?", fragte Isteen schockiert. „Ich dachte ich bin deine Nummer Eins. Frechheit."
„Natürlich!", rief Gonny und trat an die zerbrochene Fensterscheibe heran. „Das war sie ..."
Prudes Herz machte einen Satz und sie lief zum Fenster und folgte Gonnys Blick zur Straße.
„Sie ist gesprungen", hauchte Gonny und zog die Nase hoch. Prudes Pupillen weiteten sich und sie sah sie schockiert an.
„Was? Sie ist was?", fragte Prude.
„Ja, das stimmt", meinte Isteen mit ihrer tiefen Stimme. Sie schüttelte ihren schwarzen Bob. „Hat geweint und geschrien. Irgendwas hat sie gefaselt, bevor sie gesprungen ist."
„Ja, ja! Genau. Was hat sie nochmal gesagt? Wie war das nochmal?", überlegte Gonny.
„Sie hat gefaselt, sie sei keine Puppe. So etwas in der Art. Dann ist sie vollkommen durchgedreht und aus dem Fenster gesprungen. Einfach mit dem Kopf durch die Scheibe", erzählte Isteen. „So, aber jetzt hätt' ich im Gegenzug zu meiner Kooperationsbereitschaft gern eine Cola, ja?"
Prude ignorierte das Gerede der Puppen und sah aus dem Fenster. Gegenüber des Ateliers war eine Kirche. Das Läuten begleitete sie schon die gesamte Vorbereitungszeit über. Prude stutzte. Am Fuße der Kirche war etwas. Ein dunkler Schatten.
„Ich glaube da ist sie", murmelte Prude wie schlaftrunken. Der Schatten löste sich mit einem Mal und lief auf den Eingang der Kirchturmuhr zu.
„Ich glaube da ist sie!", rief Prude und zeigte mit weit aufgerissenen Augen dorthin.
„Wo?", fragte Gonny und sogar Isteen wurde ernst.
„Hier!", rief Prude. Die beiden Puppen folgten ihrer Geste.
„Also ich sehe nichts", wunderte sich Gonny.
„Ja, weil sie den Kirchturm raufgelaufen ist. Schnell! Ihr müsst mir helfen!", rief Prude und griff links und rechts nach den Händen der beiden Puppen, um sie mit sich in Richtung Ausgang zu zerren.
„Okay, okay. Wir kommen mit. Aber danach bekomm ich eine Cola, alles klar?", gab Isteen zu verstehen.
Prude ließ die beiden los und rannte voraus. Sie öffnete die Tür und wartete, bis die beiden Puppen hinausgegangen waren. Bevor sie sie wieder schloss, wandte sie sich ein letztes Mal den übrigen zwei Dutzend Puppen zu: „Und ihr bleibt aber schön, wo ihr seid!"
Die Gespräche verstummten. Zwanzig Augenpaare legten sich auf Prude. Dann fiel die Tür ins Schloss.
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