I.

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"Places, places, get in your places
Throw on your dress and put on your doll faces"

~mel. m.

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VOLLBEPACKT MIT KARTONS betrat Prude das Arbeitszimmer ihres Ateliers. Ihr Atem ging schnell und schwer, da in den Schachteln einige schwere Teile verpackt drinnen lagen. Sie lief zu ihrem Tisch, der von einem Haufen Zeichnungen überseht war, darunter grobe Skizzen bis hin zu detaillierten Zeichnungen. Die Pläne warf sie mit einer hektischen Handbewegung achtlos auf den Boden. Sie hatte es eilig und musste dringend Platz machen.

Mit einem erleichterten Seufzen lud Prude die Kartons auf dem Tisch ab und öffnete den obersten sogleich. Sie streckte ihre Hand aus und griff behutsam hinein. Plastikarme für ihre Puppen. Sie legte die Teile auf der Arbeitsfläche ab und warf auch den leeren Karton zu dem Haufen Zeichnungen auf den Boden. Rasch widmete sie sich der nächsten Schachtel, die etwas kleiner war. Darin war vermutlich der Kopf.

Prude strich sich eine Schweißperle von der Stirn. Sie hatte nun keine Zeit mehr für ihren Perfektionismus. Sie musste sich sputen. Die Endphase ihrer Vorbereitungen war angebrochen und es dauerte kaum zwei Wochen bis zur Eröffnung ihrer legendären Ausstellung. Sie lachte auf. Knapp dran war sie - wie immer. Jetzt wo endlich die vorletzte Lieferung angekommen war, musste sie auf Hochtouren arbeiten, denn die Zeit lief ihr davon. Die Pakete beinhalteten noch fehlende Gliederteile ihrer Top-3-Puppen. Jetzt musste sie diese drei Skulpturen nur noch zusammenbauen, kleinere Änderungen vornehmen und eventuelle Fehler ausmerzen.

Ihre Augen glänzten vor Stolz, als Prude die zerstückelten Puppenhälften auf ihrer Arbeitsfläche ausgebreitet betrachtete. Im Sommer hatte sie ihr Kunststudium in Mindeststudienzeit und mit Auszeichnung absolviert und topmotiviert die Ferienmonate genutzt, um ihre erste Ausstellung diesen Herbst der gesamten Kunstgesellschaft zu präsentieren. Mit der großzügigen finanziellen Hilfe ihrer Eltern und den guten Kontakten, die sie im Studium geknüpft hatte, war es ihr gelungen, ein großartigen Projekt auf die Beine zu stellen. Sie mietete ein exklusives Atelier, in dem ihre Ideen und Visionen der letzten vier Jahre endlich Gestalt angenommen hatten.

Puppen.

Sie modellierte lebensechte Puppen, die mit einem 3D-Drucker in Zusammenarbeit mit einer Firma hergestellt wurden. Die Plastikskulpturen sahen so realistisch aus wie Menschen, wenn auch mit einem gewissen puppenhaften Flair. Der Ausstellungsraum bestand aus einer breiten Passage, wo mittig ein langer roter Teppich aufgerollt war. Links und rechts davon waren der Reihe nach insgesamt zwei Dutzend ihrer Puppen aufgestellt. Wenn man als Ausstellungsbesucher den Gang bis zum Ende schritt, endete der Teppich auf einer Anhöhe, wo die drei - ihres Erachtens nach-, gelungensten Plastikmenschen ausgestellt sein würden. Die sogenannten Top-3-Puppen.

Prude griff nach den Gliederteilen ihrer drittliebsten Puppe und baute sie zusammen. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Die Leute aus ihrem Studium, die Kunstinteressierten und -kritiker und ihr Bekanntenkreis, der aus Kunstliebhabern bestand. Alle warteten gespannt auf die Eröffnung ihrer aufwendigen und spektakulären Ausstellung übernächste Woche.

In einer Schublade kramte Prude nach dem passenden Namenskärtchen mit Steckbrief für die drittschönste Puppe. Als ihr der filigrane Schriftzug mit "Coco" in die Augen fiel, zog sie den Zettel heraus. Jeder ihrer Plastikmenschen besaß eine eigene Persönlichkeit mit Charaktereigenschaften, die sie auszeichneten. Coco hatte einen schwarzen Bob im Stile der goldenen Zwanziger und trug ein eng anliegendes bodenlanges Kleid. Sie schrieb ihr Eleganz und Charme zu. Die Beschriftungen würde sie jeweils am Fußende platzieren, damit die Ausstellungsbesucher sich ein Bild machen konnten.

Nachdem sie Coco grob zusammengebaut hatte und sie angekleidet hatte, widmete sie sich ihrer zweiliebsten Puppe "Polly". Dieser jungen Puppendame gingen die hellblonden Haare bis zu den Hüften und sie wurde in edle Jeansstoffen eingekleidet. In zügigen Bewegungen band Prude ihr noch ein blaues Haarband um die Stirn, bevor sie ihren Plastikmenschen eine Armlänge von sich entfernt betrachtete. Dieses Exemplar war charakterlich lieb, bodenständig und gut organisiert. 

Prude strich sich durch die Haare und atmete tief durch. Perfekt. Nun waren Coco und Polly fertig und sie konnte sie jetzt schon in den Ausstellungsraum gleich nebenan bringen. Die Feinheiten und den letzten Schliff würde sie erledigen, wenn sie ihre Puppen auf den angestammten Plätzen auf der Anhöhe platziert hatte. Aber vorher wollte sie sich noch ihrer Nummer Eins widmen. 

Die Nummer Eins würde ihr größtes Meisterwerk sein. Schon beim Gedanken daran raste ihr Herz wie wild und sie begann unkontrolliert zu schwitzen. Diese Puppe würde mit Abstand am schönsten und auch am echtesten aussehen. Für einen Namen und Charaktereigenschaften hatte sie sich bisher noch nicht entscheiden können und die Kleidung war noch in der Näherei. Diese Puppe würde in ein blassrosafarbenes Top mit knielangem Rock aus Satin gekleidet werden, was perfekt zu ihren braunen seidigen Haaren passte. Ihre beigen elfenhaften Ballerinas würden in exakt ihrer Hautfarbe sein, sodass es wirkte, als würde sie barfuß umhertänzeln.

Prude riss sich aus ihren verträumten Vorstellungen und widmete sich den letzten Paketen. Darin befanden sich alle Körperteile bis auf den Kopf. Sie hatte noch kurzfristig Änderungen vorgenommen, da ihr die rosigen Wangen um eine Nuance zu wenig rosa gewesen waren. Sie seufzte darüber. Eigentlich hätte sie schon gern heute alles beisammen, doch das würde wohl nicht mehr gehen. Schmollend baute sie die Puppe ohne das Haupt zusammen und stellte sie neben ihre beiden Kameradinnen.

21:49.

Das Handy klingelte und Prude zuckte zusammen. Sie griff danach und las die eingehende Nachricht. Der fehlende Kopf und die Kleidung ihrer Nummer Eins waren fertig und wurden gerade geliefert. Ein heißes Kribbeln durchlief ihren Körper, als sie hektisch eine Antwort tippte. Sie dankte und betete innerlich zu Gott, bevor sie sich schwungvoll erhob und sich auf den Weg zum Parkhaus begab.

Prude lief auf dem roten Teppich bis zum Ausgang des Ausstellungsraums. Außerhalb gab es einen Lift, den sie betrat, um ins unterste Geschoß zu gelangen. Sie tippte zittrig die entsprechende Taste. Die Tür schloss sich und sie fuhr runter. Irgendwie war ihr flau im Magen. Mit dem Fuß tippte sie ungeduldig auf dem Boden herum und starrte eine Ecke an.

Unten angekommen, stürmte sie hinaus, sobald sich die Lifttüre geöffnet hatte. Das Parkhaus war schlecht beleuchtet und außer dem weißen Van mit ihrer heißbegehrten Lieferung parkte hier niemand. Sie joggte hinüber zum Auto, wo ein Mann gerade ein großes Paket herausholte und sich ihr zuwandte.

"Vielen Dank!", rief Prude strahlend und nahm die Lieferung entgegen. Ohne auf Widerworte zu warten, kehrte sie dem Van den Rücken zu und rannte zum Lift. Sie wollte keine Zeit verlieren. Noch heute würde sie mit allem fertig werden. Noch heute.

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