Z W E I

Unschlüssig blickte Lumiel zu ihm auf und überlegte, wie sie sich möglichst schnell aus dieser Situation befreien konnte, denn das Kribbeln, welches von den Stellen ausging, an dem sein Körper den ihren berührte, schien sie schier wahnsinnig zu machen.
»Was hattet Ihr da drinnen zu suchen?«, knurrte er unglaublich leise, ruhig und bestimmt und unterbrach dadurch die Stille zwischen ihnen. Lediglich aus dem Inneren der Taverne war noch leises Stimmengewirr zu vernehmen, welches von Sekunde zu Sekunde, in denen Lumiel ihm in die Augen blickte, leiser zu werden schien, weiter in den Hintergrund rückte. Stumm musterte sie die schwarzen Haare, welchem ihm leicht lockig in die Stirn fielen und durch den Mondschein silbrig glänzten. Ihr Blick wanderte weiter zu seinen dichten, schwarzen Augenbrauen, zwei kleinen Narben, welche dicht an seinem linken Auge entlangliefen, und letztendlich zu seinen grauen Augen, welche einen absoluten Gegensatz zu seiner beherrschten Stimme darstellten, denn sie überschlugen sich geradezu vor Emotionen.
Ein kaum hörbares, bedrohliches Knurren riss sie aus ihrem Starren, weshalb sie sich kurz schluckend von seinen Augen löste und ihren Blick auf seinen Oberkörper heftete, welcher sich ungewöhnlich schnell hob und sank.
»Ich wüsste nicht, was es Euch angehen würde«, erwiderte sie nur wenige Sekunden später, nachdem sie wieder klare Gedanken gefasst hatte, die überwältigende Menge an Emotionen in seinen Augen aus ihrem Kopf verbannte, und schaute trotzig erneut zu ihm auf. Kaum merklich zogen sich seine Augenbrauen zusammen, er legte seinen Kopf leicht schief und lockerte seinen Griff an ihren Schultern, welcher sie zuvor noch immer unnachgiebig an die Hauswand gedrückt hatte, etwas. – Was ihre Möglichkeit war, sich aus dieser Situation zu befreien.
Durch den kräftigen, unerwarteten Stoß gegen seine Brust taumelte er zurück und Lumiel schob sich flink an ihm vorbei, rannte schon beinahe die enge Gasse entlang, welche lediglich durch den scheinenden Mond beleuchtet wurde, um zurück in das Schloss zu gelangen. Ihr Rücken schmerzte noch immer leicht, doch ließ sie sich davon nicht weiter beirren. Ein eisiger Wind zog durch die Gasse hindurch, ließ sie erschaudern.
Es war ein Zeichen dafür, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ein erneuter Sturm unnachgiebig über das Land peitschen würde.

Sie zog sich ihren dünnen Mantel enger um ihren zierlichen Körper, versuchte sich so vor dem Wind zu schützen, doch noch bevor sie das Ende der Gasse erreicht hatte, wurde sie am Arm wieder zurückgezogen.
Unfassbar wütend drehte sie sich um, wollte den großgewachsenen Mann bereits zornig anfahren, allerdings unterbrach er sie mit einem leichten Kopfschütteln. »Nicht«, flüsterte er beinahe schon verschwörerisch und zog sie vorsichtig an den Rand der Gasse in den Schutz der Schatten, welche von den Häusern auf sie beide hinabfielen.
Kurz darauf hörte Lumiel eilige Schritte und sah einige Wachen auf der Hauptstraße, welche zum Schloss führte, entlanglaufen.
»Es sei denn natürlich, Ihr möchtet gern, dass euer Vater von eurem nächtlichen Ausflug in eine der Tavernen erfährt«. Völlig aus ihren Gedanken gerissen, zuckte sie zusammen und schaute mit verengten Augen zu ihm hoch, da er sie fast um einen Kopf überragte. Wollte dieser Mann ihr etwa gerade drohen?
Ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen, entzog sie ihm ihren Arm und lief in die entgegengesetzte Richtung, doch zu ihrem eigenen Leid folgte er ihr sofort.
»Ist euch eigentlich bewusst, was so jemandem wie Euch dort passieren könnte?«, fragte er beinahe tadelnd und blickte dabei kurz hinter sich in Richtung der Taverne. Lumiel atmete tief ein, versuchte sich selbst zu beruhigen, um der in ihr aufkommenden Wut keine Möglichkeit zu geben, die Überhand zu erlangen.
»So jemandem wie mir?«, war das Einzige, was sie ihm fassungslos entgegenbrachte, als sie langsam am Ende der Gasse ankamen und diese sich in drei weitere, weitaus Kleinere aufspaltete. Noch bevor er etwas erwidern konnte, fing sie erneut an, spürte, wie sie immer aufbrausender wurde. »Euch ist aber schon bewusst, dass ich hier aufgewachsen bin, und im Gegensatz zu Euch nicht zu Gast bin?«, sie holte tief Luft, drehte sich in seine Richtung und starrte ihn entrüstet an, »Also sagt mir, wieso genau sollte mir hier, in meiner Heimat, Etwas passieren und Euch hingegen, wo Ihr doch der Fremde seid, nicht?«, ihre Augen verengten sich leicht. Dafür, dass dieser Mann sie kein Bisschen kannte, keine Ahnung davon hatte, was in Soleris vor sich ging, schien er sich seiner Sache recht sicher.

Er zog leicht die rechte Augenbraue nach oben, legte seinen Kopf erneut ein Wenig schief, während er langsam, bedächtig ein paar Schritte auf sie zu machte.
»So war das nicht gemeint.«, seine Schultern sanken ein wenig zusammen, ließen ihn weniger bedrohlich erscheinen. »Aber mir wurde erzählt, was geschehen ist. Damals, vor so vielen Jahren.«, flüsterte er kaum hörbar und ließ sie dabei keine Sekunde aus den Augen.
Sein Blick war dabei so intensiv, dass Lumiel einige Male zittrig einatmete und kurz darauf wieder ausatmete. Nur langsam realisierte sie, was ihr Gegenüber gerade gesagt hatte und taumelte einen winzigen Schritt zurück.
Was wirklich geschehen war, war ein wohlgehütetes Geheimnis. – Was er hingegen gehört hatte, was ihm erzählt wurde, war schlichtweg eine Lüge. Eine weitere, grausame Lüge ihres eigenen Vaters, welche dafür gesorgt hatte, dass so viele Menschen in dieser Stadt, in ganz Soleris, sie verachtend anstarrten, sobald ihnen bewusst wurde, wer sie eigentlich war.
»Wenn Ihr meint, die Wahrheit bereits zu kennen, dann wüsste ich nicht, wieso wir dieses Gespräch hier weiter fortsetzen sollten.«, gab sie ruhig von sich, wählte ihre Worte mit Bedacht, versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr diese Lügen sie belasteten. – Wie sehr diese Lügen sich in ihr Inneres gefressen hatten und sie langsam, aber sicher durch den auf sie gerichteten Hass und die Verachtung ihrer Mitmenschen zerstören zu schienen.

Sie richtete sich die Kapuze ihres Mantels, welche durch den Wind verrutscht war, erneut und drehte sich langsam einer der silbrig erhellten Gassen zu, welche sie auf direktem Wege ins Schloss führen würde.
»Wer sagt, dass es die Wahrheit ist?«, zerriss seine dunkle, eisige Stimme die Stille und ließ Lumiel innehalten. Verwirrt richtete sie ihren Blick auf den jungen Mann, welcher ihr unentwegt in die Augen schaute. Langsam setzte er sich in Bewegung, kam beinahe anmutig in ihre Richtung und blieb direkt vor ihr zum Stehen. »Wisst Ihr,« er stockte kurz, musterte sie und hob leicht seine Hand, um vorsichtig eine verirrte, dunkelbraune Haarsträhne aus ihrem Gesicht zu streichen. Aufgrund der leichten, kaum spürbaren Berührung seiner Finger an ihren Wangen, stockte ihr der Atem. »Ich mache mir gern selber ein Bild von der Situation und lasse mich nicht durch irgendwelche Geschichten beeinflussen, Lumiel.«, flüsterte er leise und sein warmer Atem stieß gegen ihr Gesicht, hinterließ ein brennend warmes Gefühl.
Noch immer verwirrt schaute sie zu ihm hoch, der Klang seiner Stimme, als er ihren Namen aussprach, hallte immer und immer wieder durch ihren Kopf. »Aber ich weiß auch,« fuhr er noch immer flüsternd fort, »dass nicht jeder einem unvoreingenommen gegenübertritt.« Er lächelte leicht, doch war sie sich sicher, in seinen Augen einen gequälten Ausdruck aufblitzen zu sehen, und entfernte sich wieder einen Schritt von ihr. Augenblicklich schoss ihr in den Kopf, was Lola ihr im Golden River erzählte hatte. – Dass er einer der Auserwählten sei, einer von denen, die in einer Nacht eines besonderen Ereignisses geboren waren, einer von denen, die die Asteri so verzweifelt versuchten zu kontrollieren.
In diesem Moment war Nichts mehr von dem selbstbewussten Mann zu sehen, wie er ihr noch heute morgen bei der Versammlung gegenübergesessen hatte.

Überfordert von all den Gefühlen, die sich elektrisierend durch ihren gesamten Körper zogen, räusperte Lumiel sich leise, wandte ihren Blick von ihrem Gegenüber ab und drehte sich erneut der Gasse zu. »Ich sollte wohl besser zurückgehen.«, murmelte sie leise und verschwand im Schatten der Gasse, doch blieb sie sofort stehen, als sie merkte, dass er ihr nicht folgte. »Kommt Ihr?«, fragte sie daher in die Dunkelheit hinein, erkannte lediglich aufgrund ihrer überaus guten Augen, welche nicht zuletzt daher kamen, dass sie nicht menschlich war, eine schemenhafte Gestalt.
»Ich bin schon viel zu lange fort, meine Freunde werden sicherlich gleich nach mir suchen.«, hörte sie seine dunkle Stimme und wusste in diesem Moment nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht darüber sein sollte, dass er sie nicht begleiten würde.
»Schließlich bin ich hier zu Gast, da muss man sich anscheinend hüten.«, beendete er seinen vorherigen Satz und seine Stimme triefte nur so vor Belustigung.
Lumiel schnaubte verärgert auf. Für einen kurzen Moment hatte sie doch tatsächlich gedacht, dass weitaus mehr hinter dem eisigen Blick, dem undurchlässigen Selbstbewusstsein steckte, mit dem er seine Mitmenschen auf Abstand hielt. Doch ihr wurde in dem Moment, in dem sie auf dem Absatz kehrt machte und letztlich vollends aus seinem Blickfeld verschwand, schmerzlich bewusst, dass auch er genauso war, wie nahezu jeder andere eben auch. Dass er nur ein weiterer Mensch, ein weiterer Wolf war, der sich seinen Weg durch diese grausame Welt suchte. – Ohne Ausnahme auf Verluste, vollends aufs eigene Überleben fixiert.



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Leicht zögernd stieß er die Tür der Taverne auf, durch welche bereits lautes Stimmengewirr drang, und atmete unverzüglich den strengen Geruch von Alkohol und Schweiß ein. Ein leichtes Grummeln kam ihm über die Lippen, während er hinein ins Warme trat und seinen Blick zu dem Tisch schweifen ließ, an welchem Lumiel noch vor wenigen Minuten gesessen hatte. Noch immer befanden sich die Jungen und Mädchen, scheinbar ihre Freunde, an diesem Tisch, lachten und redeten unbeschwert miteinander.
Sein Blick blieb einige Sekunden länger, als er es ursprünglich beabsichtigte, an dem muskulösem, blonden Jungen hängen, welcher zuvor noch neben ihr gesessen hatte, versuchte dabei dem Drang zu widerstehen, hinüberzugehen und diesem Jungen verstehen zu geben, dass er sich künftig von ihr fernzuhalten hatte. – Denn ihm waren die flüchtigen Berührungen und Blicke seinerseits keinesfalls entgangen, ganz im Gegensatz zu Lumiel wie es schien. Allerdings wurde ihm im selben Augenblick bewusst, wie töricht diese Gedankengänge waren, schließlich hatte er keinesfalls das Recht, sich in diese Angelegenheit einzumischen.

Leise seufzend wandte er sich ab, zwängte sich zwischen den Tischen in Richtung des langen Tresens hindurch, an dem seine eigenen Freunde saßen und sich angeregt miteinander unterhielten.
Mit einem Nicken quittierte er ihre überraschten Blicke, sie hatten wohl nicht damit gerechnet, dass er zurückkommen würde, und setzte sich auf den Hocker, von dem er vor einigen Minuten ohne ein weiteres Wort aufgesprungen war. Die Aussage gegenüber Lumiel, dass sie vermutlich bald nach ihm suchen würden, war eine Lüge. – Keineswegs die Einzige, welche ihm am heutigen Tage über die Lippen gegangen war, aber eine, welche ihm schmerzlich bewusst werden ließ, in welcher Situation er sich derzeit befand.
Der Plan seines Vaters schien perfekt durchdacht, offensichtlich schöpfte keiner auch nur den leisesten Verdacht mit welchen Absichten sie wirklich hier in Soleris waren.
Sie waren jede einzelne Variable durchgegangen, hatten für jeden möglichen Ausgang einen Plan. Nur eine Sache war ihnen und vor allem nicht ihm selbst dabei in den Sinn gekommen. – Dass er in diesem Land das finden würde, was dafür bestimmt war, am meisten von ihm begehrt zu werden. Dass er in diesem Land jene Person fand, welche er so lange heimlich versucht hatte zu finden, und bisher doch erleichtert darüber war, dass seine Suche erfolglos geblieben war.
Wie könnte er dieses heimtückische Spiel seines Vaters guten Gewissens weiterspielen, in dem Wissen, dass Soleris mit jedem weiteren Zug einen gefährlichen Schritt dem Abgrund entgegen rutschte, dass er mit jedem weiteren Zug jene Person verlieren würde, die es mit einem einzigen Blick in ihre grünen Augen geschafft hatte, seine Welt so dermaßen auf den Kopf zu stellen, wie zuvor keine andere Person.

»Amon.«, ein Rütteln an seiner Schulter riss ihn rigoros aus den Tiefen seiner Gedanken, verwirrt schaute er in die braunen Augen seines besten Freundes, seines zukünftigen Betas, der ihn eindringlich musterte. »Hast du uns überhaupt zugehört?«, fragte jener leicht vorwurfsvoll, wobei ein sorgenvoller Ausdruck auf seinem Gesicht lag.
»Ich war wohl ein Wenig in Gedanken.«, erwiderte Amon schmunzelnd, verbannte augenblicklich jeden Gedanken an das Mädchen aus seinem Kopf und straffte seine Schultern. Er betrachtete seine vier Freunde, welche sich kurz gegenseitig anschauten und dann wieder zu ihm blickten. Sie waren es gewohnt, dass er stets wachsam war, immer darauf bedacht, Alles aufmerksam im Auge zu behalten und jedem anderen einen Schritt voraus zu sein.
»Ezra hatte gefragt, ob wir aufbrechen wollen. Es war schließlich ein langer, kräftezehrender Tag und der morgige wird vermutlich keineswegs besser«, meinte sein Beta bedächtig, schaute ihm dabei unbeirrt in die Augen, wahrscheinlich um herauszufinden, was in seinem Kopf vorging. Sein Blick huschte zu Ezra, seinem kleinen Bruder, unter dessen grauen Augen sich tiefe Schatten gelegt hatten. Seine Haare lagen verwuschelt auf seinem Kopf, seine Haltung wirkte erschöpft und schläfrig. Amon nickte leicht, wandte den Blick von seinem Bruder ab und stand auf. 

Ihm war bewusst, dass sein kleiner Bruder schon immer mehr mit seinem Gewissen zu kämpfen hatte, als er selbst und diese ganze Situation ihn wahrscheinlich von innen heraus auffraß, daran zweifelnd, ob er ihrem Vater bedingungslos Folge geleisten würde. Ezra handelte ungemein durch seine Emotionen geleitet, was ihn zu einem Dorn im Auge ihres Vaters werden ließ. Wenn es nach dem Alpha ging, dann würde sein Bruder irgendwo in ihrer Heimat Ephyra bei einem alten Freund bleiben und dort vermutlich versauern.
Ohne dass er es wollte, hing er in Gedanken erneut bei Lumiel, dachte darüber nach, was sein Vater wohl mit ihr machen würde, wenn er erfahren würde, welche Rolle sie in seinem Leben spielen würde, es jetzt schon tat. – Wie kostbar sie für Amon bereits nach so kurzer Zeit war. Grimmig folgte er seinen Freunden als Letztes aus der Taverne, trat in die kühlende, erfrischende Nacht, während eine kleine verräterische Stimme in seinem Kopf ihm immer und immer wieder mögliche Reaktionen seines Vaters zuflüsterte, eine grausamer als die Andere.

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Huhu,

ein kleiner Einblick in die Welt von Amon, hehe.

Ein schönes Wochenende euch! ❤️

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