P R O L O G

Unablässig prasselten die Regentropfen gegen die Fensterscheiben, hinterließen einen rhythmischen Klang, welcher ihr nur allzu vertraut war. Das Rascheln der Bäume wurde zunehmend lauter, während sie die umher wirbelnden Blätter durch das Fenster beobachtete.
Das knallige Rot und Gelb der Blätter, welche bereits vor einigen Tagen anfingen, nach und nach von den Bäumen zu fallen, und somit den kommenden Herbst ankündigten, bildete einen starken Kontrast zu dem immer düsterer werdenden Innenhof, auf den sie still hinabschaute.
Ein heftiger Sturm zog über das Land, verschluckte nach und nach ein Stück mehr ihrer Heimat.

Sie konnte sich noch gut an frühere Zeiten erinnern, Zeiten, in denen noch alles anders war.
In ihren Erinnerungen schien ihre Umgebung zu strahlen, alles um sie herum war in ein sanftes Licht getaucht, was ein enormer Gegensatz zu dem war, was sie mittlerweile tagtäglich erblickte.
Noch immer sah sie die vielen, beinahe endlos erscheinenden, leuchtenden Blumenfelder vor ihrem inneren Auge, hörte das Lachen ihrer Mutter dicht hinter sich, während ihr Bruder vorausgelaufen war, woraufhin ihre Mutter ihn abermals ermahnt hatte.
Aber das keinesfalls in einem strengen Ton, wie man vielleicht annehmen würde – nein, ihre Mutter hatte ihre eigene, wunderbare Weise, mit der sie die Welt betrachtet hatte und sich stets Mühe gegeben, diese Sichtweise an ihre Kinder, ihren wertvollsten Besitz, weiterzugeben und sich mit einer solch liebevollen Art um sie beide gekümmert, sodass sie noch heute eine, von ihrem Inneren ausgehende, Wärme verspürte, sobald sie an damals dachte.

Ein tiefes Seufzen ging von ihr aus, während sie missmutig beobachtete, wie draußen alles düsterer wurde, und die letzten verbleibenden Menschen eilig den Hof des Schlosses verließen, um sich in ihren Häusern vor dem unnachgiebigen Regen in Sicherheit zu bringen.
Sie verfolgte, wie die verbleibenden Menschen ihre letzten Geschäfte abschlossen. Ihre Kleidung war bereits aufs Äußerste durchnässt, klebte ihnen unnachgiebig am Körper.
Ein Blitz erhellte das Land, schlug auch die letzten Menschen in die Flucht und sorgte dafür, dass der Hof nun leer war, beinahe gespenstisch ausgestorben wirkte.
Sie zuckte leicht zusammen, als ein Donner ertönte, welcher den bevorstehenden Sturm ankündigte. Ein erneuter Blitz erhellte ihr Zimmer, und während der Himmel immer dunkler, das Geräusch des Regens, welches den Raum erfüllt, immer lauter wurde, wendete sie sich mit gequälter Miene ab.
Für sie war es ein Tag wie jeder andere, und doch kann sie das Elend, welches ihre Heimat ereilt hatte, nicht mehr sehen, nicht länger ertragen.
Jeden Tag zu dieser Uhrzeit schaute sie sich das gleiche Schauspiel an, hoffte, dass es eines Tages aufhören würde, hoffte, dass die ihnen auferlegte Strafe ein Ende finden würde.
Es war ein schrecklicher Fluch, der seit Jahren über ihrer Heimat liegt.
Es war ein düsterer Fluch, welcher jedem, so schien es jedenfalls, nach und nach die Freude nahm.
Schon lange litten sie unter diesem Fluch, allerdings hatten sie das selbst zu verantworten.
Es war ihre Strafe für lange vergangene Taten der letzten Jahre, welche sich gegen die Obersten ihrer Welt gerichtet hatten.

Gedankenverloren schaute sie erneut aus dem Fenster. Sie hatte Vieles über damals gelesen, hatte verstehen wollen, was ihre Vorfahren dazu bewegt hatte, sich gegen die Obersten zu stellen. Doch weder in den unzähligen Büchern noch von den übrigen Überlebenden – denen, die man am Leben gelassen hatte – hatte sie die wahren Gründe erfahren. Jedenfalls glaubte sie nicht, dass das, was man ihr erzählt hatte, die Wahrheit war.
Sie konnte es unmöglich sein.
Und auch wenn die Lage nahezu aussichtslos erschien, so war sie doch fest davon überzeugt, dass eines Tages der Fluch brechen würde.
Ihre Erinnerungen an vergangene Tage stärkten diese Hoffnung – die Hoffnung darauf, dass eines Tages alles wieder so unbeschwert sei, wie es einst war. Die Hoffnung darauf, dass sie eines Tages wieder zusammen mit ihrem Bruder durch die leuchtenden Blumenfelder streifen konnte, das Lachen ihrer Mutter, welches sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte, wieder hören könnte und eine Welle der Unbeschwertheit ihren Körper erwärmen würde.

Knarrend ging die Tür ihres Zimmers auf, woraufhin sie einen Schritt von dem Fenster zurücktrat und sich langsam umdrehte. Sie wusste, was ihr nun bevorstand und hoffte heimlich noch immer, dass sie sich davor drücken konnte. Doch dass das nahezu unmöglich war, wusste sie ebenso gut wie die Frau vor ihr, welche ihr einen kurzen, mitleidigen Blick zuwarf.
Die goldbraunen Haare, das rundliche Gesicht und die schmalen Lippen, welche stets zu einem warmen Lächeln geformt waren, waren ihr so bekannt und zeitgleich doch wieder fremd, allerdings schien das auf Alles in ihrer Umgebung zuzutreffen in letzter Zeit. Dass der Fluch schwer auf ihnen lastete, hatte sie schon früh bemerkt, hatte sie schon früh am eigenen Leib erfahren müssen, doch zurzeit verhielten sich Viele noch ungewöhnlicher als üblich.
»Sie erwarten dich schon, Liebes.« Mitleid lag in ihrer Stimme, doch in ihrem Blick lag etwas Bestärkendes. Kurz nickte sie ihr dankbar zu, richtete sich auf und strich ihr Kleid mit einer flüssigen Bewegung glatt.
Es war die flüchtige Berührung an ihrer Hand, als sie an der Frau mit den goldbraunen Haaren vorbeiging, welche ihr zusätzlich Kraft spendete. Eine Berührung, welche so viel mehr aussagte, als Worte es jemals könnten. Selbstbewusstsein durchströmte ihren Körper, während sie mit einem mulmigen Gefühl den Raum vollends verließ und den Weg zu den Sälen einschlug.
Die eisige Kälte, welche von den grauen Wänden ausging, umhüllte ihren zierlichen Körper. Beunruhigt blickte sie kurz nach hinten. Ein ungutes Gefühl bereitete sich in ihr aus, ein Gefühl, welches ihr verriet, dass Etwas ganz und gar nicht stimmte.
Die Fackeln, welche ein wenig Licht spendeten, erzitterten unter dem eisigen Wind, der durch die Gänge wehte. Das unangenehme Geräusch des Windes hallte in den Wänden wider.
Wachsam beobachtete sie ihre Umgebung, nahm jedes noch so kleine Detail in sich auf.
Seit Jahren sah sie jeden Tag die gleiche, triste Umgebung, und doch erschien es ihr mit jedem Tag anders.
Denn schließlich veränderte sich alles.

Sie lauschte dem Regen, welchen man noch immer deutlich hören konnte, während sie mit festen Schritten durch die Gänge schritt, doch desto näher sie ihrem Ziel kam, desto langsamer wurde sie.
Ihre Gedanken rasten, sie dachte über jeden möglichen Ausgang des folgenden Treffens nach, über jedes mögliche Thema, welches zu Wort kommen könnte.
Es kam nicht häufig vor, dass es ihr erlaubt war, an solchen Treffen teilzunehmen. Viele Leute waren der Meinung, dass sie dort nichts zu suchen hatte.
Und es verärgerte sie schon lange, dass sie anders behandelt wurde, als man andere in ihrem Alter behandelte. Doch so sehr sie sich auch dagegen gewehrt hatte, es hatte sich nichts geändert, und das würde es zukünftig auch nicht. – Nicht, solange die Last der letzten Jahre noch immer auf den Schultern so vieler Menschen lag.

Die große, braune Tür, die sich in ihr Blickfeld schob, ließ sie innehalten. Die Tür war durch viele Verschnörkelungen verziert, machte einen majestätischen Eindruck, doch beim genaueren Hinsehen, fielen einem deutlich die vielen Kerben und Löcher auf, welche sich teils über das ganze Holz zogen.
Sie spürte ihren eigenen, unregelmäßigen Herzschlag. Spürte, wie er sich mit den vielen Herzschlägen hinter der Tür vermischte und anfing im Einklang mit ihnen zu schlagen. Alle waren angespannt, aufgewühlt und lautes, eindringliches Gemurmel drang durch die schwere Tür aus Ebenholz hindurch. Die unruhige Atmosphäre, welche aus dem Inneren drang, veranlasste sie dazu, innezuhalten, als sie die Hand an den Türknauf legte und tief Luft holte.
Sie wollte sich ihre Nervosität nicht anmerken lassen, schließlich hatte man sie früh gelehrt, dass das negative Gefühle seien. – Gefühle, welche man gegen sie benutzen könnte und auch würde, sollte sich die Gelegenheit ergeben.
Doch für sie gab es nun kein Zurück mehr, was sie in dem Moment realisierte, als sie die Tür zögerlich öffnete und sich augenblicklich eine erdrückende Stille verbreitete. Unbehagen verbreitete sich in ihr, denn unzählige Augenpaare verfolgten sie dabei, wie sie die Tür wieder schloss und erhobenen Hauptes durch den großen Raum nach vorne ging. Kurz flog ihr Blick durch den Raum, nahm die immer noch zitternden Fackeln wahr, die den Raum in ein schummriges Licht tauchten.

Sie fühlte sich erdrückt von den kalten, hohen Wänden, aber am meisten von den vielen Blicken, welche jede noch so kleine Bewegung von ihr registrierten. Ein leises Tuscheln verbreitet sich, während sie vor ihrem Bruder zum Stehen kam.
Er lächelte sie kurz an, gab ihr dadurch einen kleinen Funken Sicherheit, und sie erwiderte dieses Lächeln erleichtert. Sie hatte lange darüber nachgedacht, was ihr Bruder über ihre Anwesenheit denken würde. In letzter Zeit hatten sie nicht viele Gelegenheiten gehabt, miteinander zu reden, da ihr Vater ihn in eine Angelegenheit nach der anderen verwickelte, aber sie wusste, wie sehr er es verabscheute, wie andere über sie dachten, und hatte daher befürchtet, dass er sich vehement gegen ihr Kommen wehren würde.
Die haselnussbraunen Augen ihres Bruders, die Augen ihrer Mutter, welche von langen, tiefschwarzen Wimpern umrahmt waren, strahlten ihr warm entgegen, während er ihr zunickte.
Wie sehr sie sie vermisste.

»Du bist spät.« Stellte er murmelnd fest, während sie sich langsam zu ihren Plätzen begaben. »Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, dass du kommen würdest.« Fügte er dann hinzu, als er neben ihr an den Tisch herantrat. Ein knappes Schulterzucken ging von ihr aus. Sie war sich selbst nicht sicher gewesen, ob sie wirklich kommen wollte, vor allem hätte sie vorher gern mit ihm darüber geredet, doch ahnte sie, dass ihr Nichterscheinen einige unschöne Konsequenzen mit sich getragen hätte. Ihr Bruder erwiderte daraufhin nichts mehr, sondern wandte sich einem der vielen Zettel und Karten zu, welche sich über den Tisch erstreckten.

Angestrengt musterte sie den Mann, der zusammen mit ihrem Vater ebenfalls an den großen Tisch herantrat, und leise auf ihn einredete. Es schien ihrem Vater selbst nicht aufzufallen, niemandem von den Anwesenden hier, doch hatte er etwas Hinterhältiges an sich, was sie nicht zuletzt an seinem falsch aufgesetzten Lächeln festmachte.
Die eisige Kälte ließ sie erneut erzittern, woraufhin ihr Bruder ihr einen flüchtigen, nachdenklichen Blick zuwarf, ehe er sich räusperte und seinen Blick für den Bruchteil einer Sekunde zu ihrem gemeinsamen Vater schweifen ließ. Ob ihm wohl aufgefallen war, dass der Mann ihnen Etwas vorzumachen schien? Vermutlich nicht – denn ihr Bruder hatte noch nie ein besonders feines Gefühl im Umgang mit anderen Menschen gehabt.
Und sie selbst würde sich davor hüten, diese Bemerkung jemand anderem gegenüber zu erwähnen, denn das war eine Anschuldigung, welche sie schlichtweg nicht beweisen konnte. Eine solche Anschuldigung konnte sie sich nicht leisten zu äußern, wo es doch nur ein einfaches Gefühl war, welches ihr das zu verstehen gab.
Denn es würde sonst niemand von ihnen verstehen.

Auch sie überflog nun die vielen Dokumente, die vor ihr lagen, versuchte den Zusammenhang zwischen ihnen zu verstehen. Doch es waren so viele verschiedene Texte und Karten, auf denen nahezu willkürlich immer wieder Stellen eingekreist waren, sodass es lediglich ein einziger Wirrwarr zu sein schien. Gerade als sie die Hand nach einer der Karten ausstrecken wollte, veränderte sich Etwas in der Atmosphäre.
Es schien, als hätte der Wind nachgelassen und die Fackeln würden nicht länger gefährlich unzuverlässig zittern. Die eisige Kälte war verebbt, stattdessen fühlte sie plötzlich eine starke, dunkle Präsenz hinter sich, welche ihr einen Schauder über den Rücken jagte. Ihr Bruder neben ihr hielt in seiner Bewegung inne, drehte sich angespannt zu ihr hin und schaute der Person hinter ihr mit eiserner Miene entgegen.
Noch bevor er Etwas sagen konnte, lehnte die Person sich leicht nach vorne, woraufhin ein heißer Atem gegen ihren Nacken prallte, welcher sie erneut erschaudern ließ und ihr eine Gänsehaut verschaffte. Sie war unfähig sich selbst umzudrehen, zu schauen, wer eine solche Reaktion auf sie ausüben konnte. Stattdessen blieb sie wie ein verängstigtes Reh starr stehen und hielt die Luft an.
»Hallo.« Raunte die Person hinter ihr leise, gefährlich und ein überraschtes Keuchen verließ ihren Mund.
Kurzzeitig hatte sie das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wo sie überhaupt gerade war. Doch so schnell wie dieses Gefühl kam, so schnell wie er hinter ihr aufgetaucht war, genauso schnell verschwand es auch wieder, und hinterließ eine stechende Leere hinter ihr.
Unbeholfen beobachtete sie, wie der Fremde, unberührt von dem, was eben geschehen war, auf ihren Vater und den Mann an seiner Seite zuschritt und sich mit einem kaum merklichen Nicken neben diese stellte.
Der Blick ihres Bruders brannte sich förmlich in ihre Seite, während sie ihren eigenen nicht von dem Fremden nehmen konnte.
Ihre Gedanken überschlugen sich, fieberhaft versuchte sie herauszufinden, was diese Wirkung auf sie verursacht hatte. Doch dabei stellte sie sich eine Frage umso mehr.
Wer er war, der eine solche Wirkung auf sie hatte.

Ab diesem Zeitpunkt war sie sich sicher, dass sich ihre Vermutung bestätigen würde. – Etwas hier stimmte ganz und gar nicht.



꧁⸻꧂

Hui,

Fängt ja bereits ganz schön heikel an, nicht wahr? 🌚

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