E I N S

Gedankenverloren hatte sie aus dem Fenster gesehen, als das leise Knarren der Tür sie aufschrecken ließ. Stumm wandte sie den Blick von den Kindern im Innenhof ab, welche sich laut lachend einen Ball zugeworfen hatten.
Sie hatte sich schon oft dabei erwischt, wie sie tief in ihrem Inneren all diese Kinder dort unten beneidete. Es waren Kinder, denen die Grausamkeiten dieser Welt noch verborgen waren. – Sie konnten mit einer Unbeschwertheit aufwachsen, von welcher sie selbst nur zu träumen vermochte. Diese Kinder hatten die Möglichkeit mit einem sorglosen Leben, aber vor allem auch in Geborgenheit aufzuwachsen.
Desto älter sie wurde, umso mehr verstand sie, was diese Welt mit einem machte, was diese Welt mit ihr gemacht hatte, und sie würde Alles dafür geben, nur noch ein einziges Mal diese Freiheit zu spüren, welche sie in ihrer Kindheit verspürt hatte, wenn sie mit ihrem Bruder und ihrer Mutter unterwegs gewesen ist.
Sie würde Alles dafür geben, nur noch ein einziges Mal in ihre Kindheit zurückversetzt zu werden, in eine Zeit vor dem Fluch.

Als sie sich umdrehte, blickte sie geradewegs in die haselnussbraunen Augen ihres älteren Bruders. Er sah müde und erschöpft aus, unter seinen Augen zeichneten sich deutlich die letzten, schlaflosen Nächte in Form von tiefen, dunklen Augenringen ab und seine Augen waren vor Erschöpfung leicht gerötet. Die blasse Haut seines Gesichtes, welche eindeutig der viel zu selten hervorkommenden Sonne verschuldet war, wurde von tiefen Falten durchzogen. – Keine Falten, welche sein Alter unterstrichen, denn mit seinen 21 Jahren war er noch relativ jung, sondern Falten voller Sorge. – Falten voller Sorge und auch Angst, wie sie überraschend feststellte.
Seine Haltung war leicht zusammengesunken, als würde er jeden Moment einfach umfallen und einschlafen können, aber stets gegen dieses Gefühl, diese endlose Müdigkeit, ankämpfen.
Man sah ihm deutlich an, dass er überlastet war mit den Aufgaben, welche ihr gemeinsamer Vater ihm nach und nach immer wieder auferlegte. Doch wusste sie nur zu gut, dass es ihrem Bruder nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen war oder überhaupt kommen würde, ihrem Vater Widerworte zu geben, sich gegen diese Massen an Aufgaben zu weigern. Das hatte Ciel noch nie getan – und das würde er auch nie.
Jedenfalls nicht, wenn es dabei um ihn selbst, um seine eigene psychische und physische Gesundheit ging.

Leise seufzend ließ er sich auf ihr Bett fallen. Sie war sich nicht ganz schlüssig, ob dieses Seufzen aus der Müdigkeit oder eher aus der Besorgnis entstand, welche man ihm so deutlich ansah. Vielleicht war es auch eine Mischung aus beidem.
»Du solltest endlich damit aufhören, Lumiel.«, er fuhr sich durch seine blonden Haare, schaute seiner Schwester fest in die Augen, ehe sein Blick nachdenklich zum Fenster abdriftete, vor welchem sie eben noch gestanden hatte, und er kaum merklich den Kopf schüttelte.  »Du weißt genauso gut, wie ich, dass das nichts besser macht. Also sag mir, wieso quälst du dich jeden Tag aufs Neue selbst?«
Lumiel presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und schwieg, während sie sich zögernd neben ihm niederließ, woraufhin die Matratze unter ihrem Gewicht leicht nachgab. Vorsichtig wägte sie ihre nächsten Worte ab, darauf bedacht, dass ihr Bruder durch den ganzen Druck, welchen er zurzeit verspürte, ein einziges Pulverfass sein musste. Und das Letzte, was sie derzeit wollte, war Streit mit ihrem Bruder. – Das konnte sie nicht gebrauchen, wo Ciel doch nahezu ihr einziger Verbündeter innerhalb dieser Mauer war. Der Einzige, der wirklich immer zu ihr gehalten hatte, egal was gewesen ist. Und sie war sich sicher, dass er es auch weiterhin tun würde, egal was kommen würde.

»Komm.«, unterbrach er sie plötzlich, als sie gerade dazu ansetzen wollte, etwas zu sagen, streckte seinen Arm nach ihr aus und lächelte seine Schwester erschöpft an.
Lumiel rutschte näher zu ihm heran, ließ zu, dass Ciel seinen Arm um sie legte und sie näher an sich heranzog. Eine wohlige Wärme durchflutete ihren Körper, erwärmte sie bis auf ihr Inneres und sie genoss diesen kleinen Moment mit ihm zusammen. Viel zu selten hatten sie beide solche Momente, in denen sie ganz allein waren. Es waren Momente, in denen sie ganz sie selbst sein konnten.
Denn auch wenn es schon lange nicht mehr danach aussah, waren sie beide in Kindheitstagen unzertrennlich gewesen, hatten alles zusammen gemacht und jede noch so kleine Herausforderungen – sei es das Hochklettern eines Felsens oder heimliches länger aufbleiben ohne das Wissen ihrer Eltern – gemeinsam bewältigt.
Sie vermisste diese Zeit, doch wusste sie auch, dass jeder von ihnen eigene Aufgaben und Verpflichtungen hatte, welchen sie nachgehen mussten. – Auch wenn die von Ciel deutlich umfangreicher und belastender waren als ihre eigenen. Als Sohn ihres Vaters, als Sohn eines Alphas und Königs hatte er die Bürde, eines Tages seinen Platz einzunehmen, und daran führte nahezu kein Weg vorbei.
Lumiel hatte lange darüber nachgedacht, aber war nie zu einem eindeutigen Entschluss gekommen, ob sie dieses von Geburt an auferlegtes Schicksal als Fluch oder als Segen bezeichnen würde, denn es hatte ganz klar seine Nachteile, allerdings auch jede Menge Vorteile einen solchen Platz einnehmen zu können. Doch wenn sie ihren Bruder gerade so anschaute, dann war sie sich beinahe sicher, dass es mehr Fluch als Segen war.

»Was wollen sie hier?«, ihre eigene Stimme war nicht mehr als ein Krächzen, sie zitterte und wirkte brüchig, fühlte sich für Lumiel selbst so unglaublich fremd an. Wenn es ging, dann zog Ciel sie noch ein Stück näher an sich heran, als würde er spüren, dass sie gerade Halt brauchte. Als würde er spüren, dass sie gerade jemanden brauchte, der da war.
Ciel seufzte leise und sie merkte, wie sich sein Oberkörper leicht anspannte. »Das weiß ich, um ehrlich zu sein, nicht so recht. Eigentlich weiß es keiner wirklich, aber ich gehe sehr stark davon aus, dass auch sie wieder eine angebliche Lösung haben und nur den richtigen Zeitpunkt abwarten, bis es sich anbietet, diese zu präsentieren.«, sein Blick schweift wieder zum Fenster, während er eine kurze Pause macht, »So lange sind sie jedenfalls auf unbestimmte Zeit unsere Gäste.«.
Die Stille, die daraufhin folgte, war keine unangenehme. Sie verfolgten beide ihre eigenen Gedanken, unschlüssig darüber, was sie von ihren Gästen halten sollten.
Lumiel durchzog ein Schauer, als sie an den jungen Mann zurückdachte, welcher so plötzlich hinter ihr aufgetaucht war. Während der gesamten Besprechung hatte sie seinen Blick auf sich gespürt, und auch Ciel war der eindringliche Blick des Fremden aufgefallen. Doch sie selbst hatte kein einziges Mal aufgesehen, stattdessen hatte sie ihren Blick durchweg auf den vor ihr liegenden Dokumenten gehaftet.
»Denkst du, sie kommen mit guten Absichten?«, unterbrach Lumiel letztendlich die Stille, doch bereute ihre Frage sofort wieder.
Ciel's Augenbrauen zogen sich leicht zusammen, während er sie stumm anblickte. Sie versuchte aus seinem Blick abzulesen, was er wohl gerade dachte, was sich allerdings als schwieriger als gedacht herausstellte, denn in seinen Augen war ein Wirbel aus Emotionen zu sehen.
Doch letztendlich waren sich die beiden in einer Sache einig. – Keinesfalls seien die Gäste mit guten Absichten hier, denn das war seit vielen Jahren niemand mehr gewesen.

»So Viele haben es bereits probiert.«, setzte Ciel nach einer gefühlten Ewigkeit an, in der sie sich beide einfach nur stumm angeschaut hatten, versucht hatten, herauszufinden, was der jeweils andere wohl gerade denken mochte. »Wieso sollten ausgerechnet sie nun eine Lösung haben? Nach all den Jahren, in denen wir versucht haben, diesen Fluch zu brechen, sollen ausgerechnet Außenstehende, die es gar nicht verstehen können, die dieses Leiden nicht am eigenen Leib ertragen haben, eine Lösung finden?«, seine Stimme wurde lauter, aufbrausender und Lumiel merkte, wie er sich weiter verspannte, weshalb sie vorsichtig mit ihren Fingern über seinen Rücken strich, um ihn ein wenig zu beruhigen. »Es fordert jedes Mal seine Tribute.«, fügte er hinzu, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und rutschte ein Wenig von seiner Schwester weg.
Ciel schaute sie unglaublich ernst an, die Müdigkeit schien plötzlich vollkommen verschwunden zu sein und in seinem Blick lag etwas Dunkles, was sie nicht richtig zuordnen konnte. »Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie dieses Mal etwas fordern, was alle bisherigen gestellten Forderungen um einiges übertrifft.«, murmelte er leise, ehe er seufzend aufsteht und Lumiel kurz über die Haare strich.
»Nouel hat vorhin nach dir gefragt. Wenn du noch zu ihnen möchtest, dann solltest du bald gehen, Lumiel. Es wird bald dunkel und Vater ist zurzeit noch beschäftigt.«. Überrascht schaute sie ihren Bruder an, nickte dann aber dankbar und beobachtete ihn dabei, wie er zur Tür ging und diese wieder hinter sich schloss.
Kurz blieb sie noch sitzen, sammelte ihre Gedanken, ehe sie ebenfalls aufstand und sich einen braunen, bereits verschlissenen Mantel überzog.


Es war bereits einige Wochen her, seitdem sie ihre Freunde das letzte Mal gesehen hatte, aber umso mehr freute sie sich nun, dass sie nun wieder die Gelegenheit hätte.
Meistens hielt sie sich eher bewusst zurück, umging so die abfälligen Blicke der anderen. – Die meisten gaben ihr die Schuld daran, was die letzten Jahre in Soleris geschehen war und sie hatte sich schon oft gefragt, ob dies nicht sogar gerechtfertigt sei.
Leise öffnete sie die Tür und spähte kurz den Gang entlang, ehe sie, ohne zu zögern los ging, bis sie in einen eher versteckten, dunkleren Gang abbog. Dieser war ursprünglich nur für Bedienstete und Boten gedacht, doch war es der einzige Ausgang des Schlosses, welcher nur selten bewacht war.
Lumiel setzte die Kapuze ihres Mantels auf und versuchte möglichst unauffällig weiterzugehen. Sie hatte diesen Weg zwar schon unzählige Male genommen, doch würde weiterhin sehr vorsichtig sein, denn ihr Vater war strikt dagegen, dass sie sich draußen aufhielt.
Das letzte Mal, als er ihr Verschwinden bemerkt hatte, war er rasend vor Wut gewesen und hatte nicht nur sie dafür bestraft, sondern auch ihren Bruder. – Und das wollte sie ihm kein weiteres Mal antun.

Erleichtert atmete sie auf, als sie den Ausgang erreicht hatte und keine Wachen vorfinden konnte, sodass sie problemlos über den Innenhof gehen konnte und in einer der vielen Gassen verschwand. Es dämmerte bereits leicht, weshalb ihr nur wenige Leute begegneten, denn die meisten hatten sich zu dieser Uhrzeit bereits in ihr eigenes Haus oder eine der zahlreichen Tavernen zurückgezogen.

Lächelnd machte sie vor einer dieser Tavernen – dem „Golden River" – Halt und vergewisserte sich kurz, dass ihr niemand gefolgt war, ehe sie die Tür aufstieß.
Augenblicklich umhüllte eine Wärme ihren Körper und ein starker Geruch nach Alkohol und anderen, undefinierbaren Sachen stieß ihr entgegen, weshalb sie leicht die Nase rümpfte. Die Taverne war brechend voll, wie es üblich war zu dieser Zeit des Tages. Sie nahm das laute Lachen der Männer, vermischt mit einigen aufdringlich wirkenden Gesprächen, wahr, während sich einige wenige Frauen zwischen den Tischen umher schlängelten. Stets darauf bedacht niemanden zu stören und zeitgleich doch ihre Arbeit erledigen zu können. – Denn nahezu nichts konnte für diese Frauen schlimmer sein als ein verärgerter Gast.
Sie verzog das Gesicht, als sie an die wenigen Auseinandersetzungen dachte, welche sie in dieser Taverne bereits mitbekommen hatte. Es war unvorstellbar für sie, wie man diese Frauen so behandeln konnte.

Suchend blickte sich Lumiel nach ihren Freunden um, erblickte diese an dem üblichen Tisch, und ging unauffällig auf sie zu. Lautlos glitt sie auf den einzigen freien Stuhl und nahm ihre tiefhängende Kapuze ab, um in die überraschten Gesichter ihrer Freunde zu sehen.
»Lumiel«, ein jung aussehendes, braunhaariges Mädchen war die erste, die sich aus ihrer Starre löste und ihr ein strahlendes Lächeln zuwarf. »Wir haben uns schon gefragt, wann du denn mal wieder vorhattest dich hier blicken zu lassen.«, fügte sie schmunzelnd hinzu.
»Ich gebe Lola da recht, wurde ja auch mal wieder Zeit.«, kam es von ihrer Linken. Lumiel wandte sich dem großen, blonden Jungen zu, welcher sie daraufhin sanft anstieß und einen Arm um sie legte. Er winkte eine Kellnerin zu ihnen heran, um ihnen etwas Neues zu trinken zu bestellen.
Bei jedem anderen wäre ihr diese Nähe wohl unangenehm gewesen, doch Nouel und sie hatten bereits in ihrer Kindheit eine enge Bindung gehabt. – Seine Familie war eine der angesehensten Familien Soleris, auch wenn er das nicht hören wollte, und ihre Mütter waren beste Freunde gewesen.
Somit wuchsen sie zusammen auf, womit er für Lumiel ebenso ein Bruder war wie Ciel.

Sie schüttelte nur lächelnd den Kopf und nickte kurz dem Rest der Truppe zu, ehe sie sich wieder Lola und dem Mädchen neben ihr, Helen, welche ihr gegenübersaßen, zuwandte.
Beide schauten sie aus neugierigen, großen Augen an, so als würde sie gleich eine große Ankündigung machen. – Aber Lumiel konnte es verstehen. Jedes junge Mädchen hatte die Hoffnung Soleris entfliehen zu können, dem Fluch entfliehen zu können, und ein Leben außerhalb zu beginnen. Dies war allerdings nur möglich, wenn sie ihren Gefährten fanden, die Person, welche von Beginn an für sie bestimmt war.
Mit jeder Ankündigung neuer Gäste flimmerte der Hoffnungsschimmer dieser Mädchen auf, allerdings wurden die meisten jedes Mal aufs Neue enttäuscht.
Lumiel zuckte kurz mit den Schultern. Noch hatte sie nicht viel von den Gästen erfahren, daher war sie sich unschlüssig, was sie erzählen konnte – aber mehr noch darin, was sie erzählen sollte. »Sie unterscheiden sich nicht wirklich von den Gästen der letzten Monate.«, sie machte eine kurze Pause, überlegte, ob sie ihnen ihr Gefühl, dass Etwas nicht stimmte, preisgeben sollte. Allerdings wollte sie keine unnötige Unruhe aufwerfen, weshalb sie diesen Gedanken mit einem Lächeln wieder verwarf.

Lola seufzte enttäuscht und ließ die Schultern zusammensacken. Zwar war die größte Hoffnung dieser Mädchen, einen Ausweg aus Soleris in den neuen Gästen zu finden, aber auch die Hoffnung auf eine Möglichkeit, den Fluch zu brechen, war groß, doch auch dieses Mal, würde sich nichts davon erfüllen.
Und Lumiel war sich nicht sicher, wie lange diese Hoffnung anhalten würde. Wie lange sie noch unter diesen Umständen leben konnten.
»Man erzählt sich Geschichten über den Sohn des Königs.«, warf Helen leise ein und beugte sich näher über den Tisch, als könnte sie sich so davor schützen, dass Inhalte des Gespräches an andere Tische drangen. »Angeblich soll er einer der Auserwählten sein.«, beendete sie ihren Satz und blickte kurz verschwörerisch in die Runde.
Die Auserwählten waren meist hochrangige Adlige, welche unter einem bestimmten Ereignis geboren waren. – Etwa einem neuen Stern oder aber einer Mondfinsternis. Was nicht zwingend hieß, dass alle Kinder, die in einer solchen Nacht geboren waren, gleich Auserwählte seien. Es waren Kinder mit besonderen Gaben, welche sich meist früh entwickelten und so unter Kontrolle gebracht werden konnten. Denn die Asteri, die Obersten dieser Welt, sahen in den Auserwählten eine Bedrohung, etwas Gefährliches. – Vermutlich waren auch aus diesem Grund nicht einmal ein Dutzend Auserwählte bekannt. Sollte es noch mehr von ihnen in Astaria geben, dann würde man sie sicher verstecken.

Aufgeregt tuschelten ihre Freunde über die Auserwählten, während Lumiel schweigend zuhörte. »Ist alles in Ordnung bei dir?«, erklang die Stimme von Nouel dicht an ihrem Ohr. Er lehnte sich ein wenig zu ihr, sodass die anderen ihn nicht hören konnten, was nicht zuletzt der sowieso schon lauten Geräuschkulisse zu verschulden war.
Als sie seinen sorgenvollen, eindringlichen Blick wahrnahm, wollte sie automatisch den Kopf schütteln und ihm alles, was sie befürchtete erzählen, allerdings entschied sie sich dann doch dagegen. Lumiel lächelte ihn möglichst überzeugend an, nickte dann leicht zögerlich und sollte Nouel etwas Gegenteiliges ahnen, dann ließ er sich nichts anmerken. – Das war nicht der richtige Zeitpunkt, geschweige denn der richtige Ort, um über solche vertraulichen Themen zu reden.
Denn Eines wurde ihr früh klar. – Es schien ihr so, als hätten selbst die Wände jedes Gebäudes Soleris' Ohren und einen Mund, sodass alles irgendwie weitergetragen werden würde.

Viele Becher Wein und Bier später hatten sie sich nahezu Alles erzählt, was in den vergangenen Wochen vorgefallen war und Lumiel spürte eine tiefe Welle der Erleichterung. Sie hatte es vermisst so unbeschwert mit ihren Freunden reden zu können. So als wäre nie etwas geschehen, als wäre alles normal.
Sie nahm im Augenwinkel wahr, wie sich die Tür, wie schon so viele Male zuvor an diesem Abend, öffnete, doch dieses Mal war es anders als die Male zuvor. Augenblicklich verstummten die Gespräche und jeder richtete seinen Blick zu dem Eingang, in welchem eine Gruppe, bestehend aus fünf Männern, stand. Der Raum schien düsterer zu werden, die Atmosphäre veränderte sich spürbar. – Etwas Feindseliges lag in der Luft.
Lumiel wusste, dass die Solerier Nichts von den ständigen Besuchern am Hof hielten, sie beinahe verabscheuten, doch noch nie hatte sie eine direkte Konfrontation des Volkes und der Gäste des Hofes gesehen. Für gewöhnlich hielten diese sich eher im Schloss auf, sich dem voreingenommenen Verhalten der Solerier ihnen gegenüber durchaus bewusst.

Alle Anwesenden schienen angestrengt jede noch so kleine Bewegung der Gäste zu beobachten, und dass, obwohl sie sich noch immer nicht vom Eingang gerührt hatten. Die Spannung war beinahe greifbar und sie machte sich bereits auf das Schlimmste gefasst. – Bis sich der Größte von ihnen an seinen Gefährten vorbeischob und unbekümmert, nahezu anmutig zur Theke schritt. Seine vier Begleiter folgten ihm unwillkürlich und ließen sich neben ihm auf den Stühlen nieder.
»Sind sie das?«, vernahm sie Lolas Flüstern und löste ihren Blick von den Männern. Kurz zog sie die Augenbrauen zusammen, überlegte, ob die Frage rhetorisch gemeint war. Denn eigentlich sollte es mehr als offensichtlich sein, dass diese Männer nicht aus Soleris kamen. Doch als sie Lolas ernsten, brennenden Blick sah, nickte sie schließlich.

Einige Minuten waren vergangen und allmählich schienen sich die Gäste der Taverne wieder zu entspannen. Auch ihre Freunde unterhielten sich wieder unbeeindruckt von dem, was eben geschehen war, doch Lumiels Blick lag noch immer auf den fünf Männern. Sie war verwundert darüber, dass sie nicht im Schloss geblieben waren.
Plötzlich drehte sich einer der fünf Männer, jener der zuerst zur Theke gegangen war, nach hinten um, so als hätte er ihr Starren bemerkt. Sie verkrampfte sich, als er seinen Blick über die Tische gleiten ließ, und hielt angestrengt die Luft an, als sie ihn erkannte.
Wenn der fremde Mann – jener, der heute morgen noch dicht hinter ihr gestanden hatte – sie hier sah, dann würde sehr wahrscheinlich auch ihr Vater von ihrem Ausflug erfahren.
Noch immer konnte sie seinen Atem in ihrem Nacken spüren, hörte seine raue Stimme in ihren Ohren. Es war nur ein einziges, winziges Wort gewesen, und doch konnte sie diese Begegnung einfach nicht vergessen.

Durch einen leichten Stoß an ihren Rippen erwachte sie aus ihrer Starre, wendete sofort den Blick ab. Nouel musterte sie verwirrt, als sie sich ohne zu zögern ihren Mantel nahm, und ihn anzog.
»Wo willst du hin?«, vernahm sie Helens Stimme, als sie erneut einen kurzen Blick zur Theke warf. Noch hatte er sie nicht gesehen, noch hatte sie die Möglichkeit unbemerkt zu verschwinden.
»Es ist bereits dunkel und ich habe Ciel versprochen nicht allzu spät zurück zu sein.«, erwiderte sie daraufhin knapp und warf ihren Freunden ein entschuldigendes Lächeln zu.
»Soll ich dich begleiten?«, fragte Nouel sofort, doch noch bevor er aufstehen konnte, schüttelte Lumiel bereits den Kopf. Sie würde allein vermutlich eher unbemerkt verschwinden können als mit ihm an ihrer Seite.
Sie zog ihre Kapuze tief in ihr Gesicht, wank ihren Freunden noch kurz zu, und ging dann mit zügigen Schritten zur Tür, ohne den Blick nochmal zu heben. Erleichtert umfasste sie bereits den Türgriff, als plötzlich eine große, männliche Hand ihren Arm umgriff. Lumiel musste nicht hinsehen, um zu wissen, wer dieser Mann war. – Der Schauer, welcher ihren Rücken hinunterlief, verriet ihn.
Angst machte sich in ihr breit, als er beinahe gewaltsam die Tür aufriss und sie unnachgiebig hinter sich her ins Freie zog. Die Kälte der Nacht legte sich auf ihren Wangen nieder, ihr Atem stieß zittrig in kleinen Wölkchen empor, und dennoch war sie unfähig die aufkommende Hitze in ihrem Inneren zu unterdrücken, welche durch seine alleinige Berührung verursacht wurde.
Bereits im nächsten Moment spürte sie die kalte, raue Hauswand der Taverne an ihrem Rücken. Kleine spitze Steine der Hauswand bohrten sich durch den Stoff ihrer Kleidung in ihren Rücken, hinterließen einen unangenehmen, leichten Schmerz in ihr, welcher sie kurz schmerzvoll aufstöhnen ließ. Allerdings verstummte sie im selben Moment wieder, als sie in seine wütenden, aufblitzenden Augen blickte.

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Heyhooo,

Es wird spannend, hehe.
Hab ein wenig Angst, dass "längere" Kapitel abschrecken. – Was denkt ihr?

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