Selbst schuld

Dieser Text wurde inspiriert von den obenstehenden Worten, die ich wieder einmal in einem meiner Meinung nach völlig unpassenden Kontext zu hören, bzw. zu lesen bekam. Meine ausführliche Antwort im Blog bekam dann tatsächlich einige wenige Zustimmungen.

Jetzt gerade habe ich das Thema erneut auf einer anderen Plattform. Und da mindestens zwei meiner Gesprächspartner auch hier vertreten sind, hole ich diesen Text mal wieder aus der Versenkung.

"Dein Bericht gefällt mir sehr gut", lautete der Kommentar damals. "Aber es stört mich aggressiv, dass du da einfach Bilder von Kindern veröffentlichst. Damit leistest du doch dem Verbrechen Vorschub."

Bericht und Bilder sind über zehn Jahre alt. Bis heute war die Polizei noch nicht bei mir, offenbar ist man wenigstens dort nicht der Meinung, dass ich mit den Veröffentlichen von Bildern Beihilfe oder sogar Verleitung zu einer Straftat betreibe - beides nämlich ist strafbar und wird üblicherweise geahndet. Würde heute meinen Kindern etwas passieren, wäre die allgemeine Beurteilung trotzdem: "Selbst schuld!" Schließlich habe ich vor zehn Jahren Bilder gezeigt, die den Kindern nicht im mindesten mehr ähnlich sehen und damit einen "Perversen" geradezu aufgefordert, meine Kinder zu schänden.

Tatsächlich wurde meine Tochter schon zweimal Opfer von Übergriffen. Beide Täter kannten allerdings die Bilder nicht. Beim ersten Mal war sie 7, der Täter 11. Beim zweiten Mal hatte sie mit einem 17jährigen Täter zu tun, als sie gerade 10 war.

Bei der ersten Tat wurde ich aufgefordert, meine Tochter "psychologisch auf ihre Sexualität untersuchen zu lassen". Schließlich hatte sie sich dem verbalen Zwang eines 4 Jahre älteren Mitschülers ergeben und seine perversen Befehle ausgeführt. Das Jugendamt sah die Sache allerdings aus einer anderen Warte und entfernte den hoffnungsvollen Burschen erstmal aus der Schule und dann auch aus dem prägenden Umfeld. Um die Hilfe für meine Tochter durfte ich mich alleine kümmern. "Selbst schuld, warum schickt sie das Kind auch auf so eine Schule." Die nebenbei gesagt das Jugendamt vermittelt hatte, da sie für neurodiverse Kinder besser geeignet sei.

Das zweite Mal hatte meine Tochter bereits gelernt, sich nicht die Schuld aufbürden zu lassen. Sobald ihr klar wurde, was der 17jährige von ihr wollte, riß sie aus und rannte zur nächsten Autoritätsperson. Die war ebenfalls überzeugt davon, dass die Schuld nicht bei meiner Tochter läge - zumal 5 Minuten später ein gleichaltriges Mädchen dazukam und genau dieselbe Geschichte erzählte. Wenn hier eine Schuld der Mädchen vorlag, so war es nur der Umstand, dass sie beim Pilzesammeln im Wald für Minuten aus dem Sichtfeld der Erzieher gerieten und sich somit als Opfer für einen älteren Mitschüler anboten.

Als Opfer anbieten - auch das ist so ein Begriff, der dem Opfer die Schuld gibt. Sich auf diese Weise anbieten tut jede Frau, die im Dunkeln oder alleine unterwegs ist; jeder Teenager, der in die Disco geht; jedes Kind, das ohne Begleitung Erwachsener zur Schule läuft. Sprich, jeder, der ohne massiven Schutz unterwegs ist.

Das habe ich selbst einmal erlebt - ich wurde am Vormittag, auf dem Weg zu meinem Makler angesprochen. Erst wurde um Sex gebettelt, sogar Geld angeboten, dann gedroht, zum Schluss fand ich mich in einem Hauseingang wieder und in den Armen des Mannes. Zu seinem Pech fand ich eine Schwachstelle zum Hineintreten und entwischte. Ein Passant, der das beobachtet hatte, fragte, ob ich Streit mit meinem Freund gehabt hätte. Einen Fremden hätte eine anständige Frau schließlich nicht so nah an sich herangelassen. Mein Fehler war offensichtlich, dass ich an einer Ampel auf Grün gewartet hatte - das gab ihm die Zeit, mich anzusprechen.

Auch im Schwimmbad wurde ich mehrheitlich belästigt. "Selbst schuld, wenn sie nur 'nen Badeanzug trägt, das muss Männer doch reizen." Auch wenn es sich um einen Sportbadeanzug handelt und man erst 13 ist.
Einmal wurde es so schlimm, dass Schwimmen unmöglich war, der Kerl war dauernd um mich und wollte mich aus dem Wasser zerren/tragen. Meine kleine Schwester, die das für ein Spiel hielt, feuerte ihn an. "Selbst schuld, wenn sie nicht deutlich genug sagt, dass sie das nicht will." Schreie, Tritte, Schläge und Bisse meinerseits nützten nichts; solange er darüber lachte, griff kein Badegast, geschweige denn der Bademeister ein. Schließlich war ja nicht klar erkennbar, dass ich den Mann als Belästigung empfand.

Da sich die meisten von uns nunmal keine gepanzerte Limousine und ein Dutzend Leibwächter leisten können, sollten wir wohl alle zu Hause bleiben, um uns nicht als Opfer anzubieten. Aber das ist auch keine Lösung, schließlich können wir auch zu Hause überfallen werden. "Selbst schuld, wenn man Geld/Computer/Fernseher/Schmuck/Heimkino/ Möbel zuhause hat."
Auch wenn man keinem davon erzählt hat. Oder man tatsächlich nichts besitzt, die Einbrecher das aber doch nicht wissen konnten. "Selbst schuld, wenn man in so eine Gegend zieht."
Eine gute Gegend zieht Einbrecher an, in einer schlechten wohnt man in der Nachbarschaft von allen möglichem Gesindel. Eine sichere Gegend suche ich noch ...
Möglich ist auch, dass man im eigenen Heim von Fremden mißbraucht wird. "Selbst schuld, wenn man öffnet, wenns klingelt." Bisher war der Eismann immer nett und freundlich, beim hundertsten Besuch plötzlich nicht mehr ... "Selbst schuld, wenn man Leuten traut, die man oft sieht, aber eigentlich nicht kennt."

Trauen wir also nur den Leuten, die wir kennen. Dem eigenen Ehemann - bis sich herausstellt, dass er die Kinder schlägt und mißbraucht. "Selbst schuld, wenn sie den Kerl heiratet."
Dem besten Freund - bis er verschwindet und man mit massiven Schulden dasitzt. "Selbst schuld, wenn er mit dem ein Geschäft aufmachen will."
Den Eltern - bis sich herausstellt, dass sie das Erbe der Tante, welches für dich gedacht war, verprasst haben. "Selbst schuld, man sollte doch wissen, was die eigenen Eltern für welche sind."

Auch wer sich einschließt und alles nur per Telefon und Internet erledigt, fordert geradezu zur Belästigung auf. Da sind öbzöne Anrufe, 10 pro Stunde, Tags und Nacht, es gibt keine Ruhe mehr. "Selbst schuld, wenn man Telefon hat und auch noch nen Eintrag im Telefonbuch."
Mails, Tweets, Kommentare auf Blogs, mal werbend, mal drohend. "Selbst schuld, wenn man Internet hat." - und evtl. da auch noch seinen Lebensunterhalt verdient.
Briefe, Pakete, unbestellte Sendungen, Einkäufe von Fremden, aber auf den eigenen Namen, die Schulden bleiben einem. "Selbst schuld, wenn der Name an der Klingel steht, kann ja jeder die Adresse rausfinden."
Und alles zusammen von einer Person, die man eigentlich nicht kennt. Man hat nur einmal einen ebay-Artikel gekauft oder mal in der Disco miteinander getanzt. "Selbst schuld, da muss ja was gewesen sein, sonst wäre er nicht so dahinterher."
Stimmt, man hat bedauernd gelächelt, als man klar und deutlich NEIN sagte. Das war eine Einladung. "Selbst schuld, man weiß ja, dass die immer nein sagen und ja meinen."

Auch das Schicksal kann zuschlagen. Man kann krank werden. "Selbst schuld, hätte man sich halt impfen lassen."
Nicht gegen alles gibt es eine Impfung. "Selbst schuld, wer ein gesundes Leben führt, bekommt das nicht."
Manchmal stellen sich Krankheiten, die angeboren wurden, erst später heraus. "Selbst schuld, das kommt nur daher, wenn man der Impfindustrie glaubt und sich impfen läßt."
Der Druck kann einen zerbrechen und man sucht haltlos nach Trost. Oft ist es dann der Teufel, der den Beelzebub austreiben soll. "Selbst schuld, keiner hat ihn gezwungen, das Zeug zu nehmen."
Oder es gibt Nebenwirkungen, sei es durch Medikamente oder durch physische oder psychische Krankheiten. "Selbst schuld, man sollte eben keine Medikamente nehmen. Ist doch klar, dass die Leber geschädigt wird." Auch dann nicht, wenn sie lebensnotwendig sind. "Selbst schuld, andere überleben auch, ohne dauernd Pillen zu schlucken.
Krankheiten können das Essverhalten beeinflussen, jegliche Motivation rauben oder bewegungsunfähig machen. "Selbst schuld, wenn man zunimmt, das passiert nur, wenn man mehr ißt als der Körper braucht und keinen Sport treibt." Oder andersrum: "Selbst schuld, wenn man magersüchtig wird, man braucht doch nur genug zu essen."

Aus alledem ergibt sich ein zwingender Schluß: An allem, was einen zustößt, ist man selber schuld. Oder anders gesagt: Die Schuld liegt immer beim Opfer, niemals beim Täter. Denn der hätte ja das alles nicht tun können, wäre das Opfer nicht dagewesen. Gäbe es keine Opfer, würde es auch keine Verbrechen geben. Vielleicht wäre es also besser, die Polizei würde nicht die potientiellen Täter beobachten, sondern die potientellen Opfer. Die nämlich sind die Ursache für alles. Schließlich hat einen keiner gezwungen, zu leben. Aber wenn man das korrigieren will, ist es auch nicht richtig: "Selbst schuld, das machen nur die, die ihr Leben nicht in den Griff bekommen."

Weiß jemand, wie man Täter wird? Offenbar bleibt uns nur die Wahl, Täter oder Opfer zu sein. Dabei wollte ich eigentlich nur in Frieden leben.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top