Missverständlich

Auch dies ist für einen Wettbewerb auf einem gewissen Discord-Server. Die Abstimmung läuft noch und es sieht nach einem feinen letzten Platz aus. 

Das Thema war diesmal "Erzähle aus der Sicht eines Tieres". Hier habe ich etwas Neues versucht. Denn was ich bisher an Derartigem gelesen habe, ist meiner Meinung nach eher aus der Sicht eines philosophierenden, belesenen Menschen, der in einem Tierkörper gelangt ist. Ich glaube zwar, dass die meisten Tiere viel  intelligenter sind, als wir ahnen, aber auch, dass sich diese Intelligenz von der unseren unterscheidet. Ein Tier denkt nicht darüber nach, ob seine Beute Schmerzen hat, ob  ihm die Färbung eines Artgenossen gefällt oder wie es der toten Mutter wohl im Himmel ergeht. Es lebt im Hier und Jetzt und hält vermutlich uns Menschen oftmals für ziemlich tölpelhaft, weil wir Dinge nicht können, die für das Tier selbstverständlich sind.

Mir ist nach dem Schreiben aufgefallen, dass ich nicht erwähnt habe, welches Tier Strider (auf deutsch Streicher) eigentlich ist. Ich denke aber, das wird der Leser schnell herausfinden. Strider selbst ist es völlig egal, wie wir Menschen seine Art nennen.

Ich kauere bewegungslos vor dem kleinen Loch in der Mauer. Die Augen halte ich halb geschlossen; selbst ein schwacher Schimmer könnte mich verraten. Mein Atem geht flach und unhörbar. Ich lauere geduldig.

Zuerst höre ich das Schnüffeln. Dann sehe ich eine winzige, schwarze Nasenspitze am Rand des Lochs. Ich bleibe weiter unbeweglich.

Die Nase verschwindet, kommt aber bald wieder zum Vorschein. Diesmal folgen ihr lange Schnurrhaare, ein spitzes Schnäuzchen, große Knopfaugen und kleine, runde Ohren.

Das Zirpen einer Grille erschreckt uns beide. Ich reagiere nicht, aber das Geschöpfchen zieht sich gleich wieder in sein Loch zurück. Pech für mich.

Die Grille beruhigt sich wieder. Erneut werden Schnauze, Augen und Ohren sichtbar, dann folgt der Körper. Das Tierchen setzt sich unmittelbar vor dem Ausgang seines Baus auf, dreht den Kopf in alle Richtungen, äugt, lauscht und schnüffelt mißtrauisch. Mich scheint es nicht wahrzunehmen. Das liegt auch daran, dass Menschin darauf besteht, mich alle paar Tage zu waschen. Ich hasse es, weil es meinen arteigenen Geruch mildert. Schlecht, wenn ich anderen meiner Art begegne. Gut, wenn ich auf der Jagd bin.

Das Tierchen wagt sich mutig einige Schritte weiter, dann sichert es erneut. Ich halte den Atem an. Noch ist es zu nah an seinem Bau.

Aber der Hunger treibt es weiter. Es braucht Nahrung, wie jedes Tier und muss für die Suche danach den sicheren Hort verlassen. Bisher ist es ja auch immer gut gegangen. Bis heute.

Es kommt noch etwas näher. Jetzt ist der rechte Moment.

Unvermittelt springe ich auf die Maus zu. Mit beiden Pfoten presse ich sie an den Boden und beiße kräftig zu. Nicht zum Todesbiss in den Nacken, sondern in den Leib. Damit verletze ich meine Beute so schwer, dass sie nicht mehr entkommen kann, aber noch eine Zeitlang am Leben bleibt.

Ich habe nicht zum Fressen gejagt. Es wird Zeit für eine weitere Lektion für die Mitglieder meines Familienverbandes. Und dazu soll mir diese Maus dienen.

An der kleinen Tür unseres Baus zögere ich einen Moment und lausche. Menschin und Jungmensch sind nicht in diesem Raum. Sehr gut. Ich schlängele mich durch den schmalen Eingang und lasse die Maus frei.

Mit einem lauten Gurren rufe ich die Menschen zum Fressen herbei. Jungmensch kommt zuerst. „Mama, Strider ist wieder da!" Es läuft auf mich zu, hebt mich hoch und drückt mich. „Mama, er hat geschnurrt, er will schmusen!"

Ich hasse es, wenn mich Jungmensch so hochzerrt und meinen Unterkörper baumeln lässt. Grundsätzlich werde ich ungern auf den Arm genommen, aber Jungmensch tut es besonders grob und ohne Vorwarnung. Es erinnert an den Überfall eines stärkeren Jägers als ich es bin. Aber Jungmensch weiß es nicht besser. Ich halte meine Instinkte im Zaum, die mir raten, Jungmensch zu kratzen. Es wird noch lernen, wenn es erwachsen wird. Allerdings brauchen Menschen sehr lange dazu.

Menschin kommt ebenfalls herbei. Sie sieht als erstes die Maus, die schwerfällig über den Boden kriecht. „Eine Maus!" Sie wenigstens hat verstanden, dass ich sie nicht zum Kuscheln, sondern zum Fressen gerufen habe.

Jungmensch lässt mich fallen. Aus so geringer Höhe kann ich mich nicht in die Landeposition drehen. Aber ich habe damit gerechnet und sie schon vorher eingenommen.

Jungmensch klatscht in die Hände. „Auja, eine Maus! Darf ich mit ihr spielen, Mama?" Es übt bereits das Fassen der Beute, traut sich aber noch nicht an das Tier selbst heran.

„Die lebt ja noch! Das arme Tier!", jammert Menschin. Ihr Tonfall sagt mir, dass sie glaubt, es nicht fangen zu können. Aber darum habe ich die Maus ja verletzt. Ich gurre beruhigend und stupse Menschin ermutigend. Sie wird es schon schaffen.

Sie versteht mich und macht sich auf die Jagd nach der Maus. Mehrmals entkommt sie ihr, dann hat sie endlich die Maus in den Händen. Jungmensch jubelt: „Klasse, Mama! Können wir sie behalten?" Es freut sich offenbar bereits auf ein feines Fressen.

„Sie ist verletzt. Wir müssen sie zum Tierarzt bringen, wenn Papa kommt. Hol mal den Korb."

Jungmensch saust fort und holt den Korb, in dem ich immer zu dem Mensch gebracht werde, der mich betastet, piekt und mir unangenehme Dinge ins Maul steckt. Ich verstehe das nicht. Es gab keine Anzeichen wie sonst, dass sie mich wieder zu ihm bringen wollen.

Menschin steckt die Maus in den Korb. Ich maunze verärgert. Menschin soll die Maus töten! Warum tut sie das nicht?

Jungmensch hebt mich unversehens wieder hoch und schlenkert mich herum. „Strider, du Böser! Du hast der Maus wehgetan. Aber Papa sagt, ich soll dich loben, wenn du eine Maus bringst, weil das ein Geschenk für uns sein soll." Jungmensch klingt enttäuscht. Wahrscheinlich, weil Menschin ihn die Maus nicht fressen lässt. Vielleicht will sie die Maus für sich allein. Aber an Menschin traut sich Jungmensch nicht heran, darum lässt es seinen Frust an mir aus.

Ich winde mich aus seinem Arm, gehe zum Kratzbaum und kratze demonstrativ, um Jungmensch daran zu erinnern, dass ich hier der Anführer bin. Auch wenn Jungmensch noch Kätzchenschutz genießt, muss es lernen, Respekt vor mir zu haben.

„Schau, er arbeitet jetzt den Stress durch die Jagd ab", stellt Menschin fest. Sehr gut, sie erinnert Jungmensch auch noch einmal daran, wie man mit Anführern umgeht.

Ich höre nun das Brummen, das Klappen und die Schritte, die Mensch ankündigen. Mensch geht jeden Tag auf Jagd, solange es hell ist, aber er ist selten erfolgreich. Wenn er aber Beute mitbringt, dann in solchen Mengen, dass es einige Tage für uns alle reicht.

„Papaaaa!" Jungmensch hat nun auch gemerkt, dass Mensch da ist. Auch Menschin läuft gleich zu ihm. Er beschnuppert Menschin und Jungmensch wie jeden Abend. Menschin beginnt dann immer gleich zu reden. Sie redet sehr viel. Manchmal bedauere ich, dass ich die Menschensprache nicht verstehe, oft bin ich froh drum.

„Liebling, Strider hat eine lebende Maus mitgebracht. Sie ist verletzt. Können wir sie zum Tierarzt bringen?" Offenbar erzählt sie Mensch von meinem Jagderfolg. Er besieht sich die Maus und schüttelt den Kopf. „Das ist sinnlos. Sie hat sicher innere Blutungen. Wir sollten sie erlösen." Er trägt die Maus in die Küche. Dort fressen die Menschen immer. Mein Napf steht auch dort. Mensch hat also begriffen, dass die Maus zum Fressen ist. Das ist ein Fortschritt. Die letzte Maus, die ich ihm geschenkt habe, hat er nach draußen gebracht.

„Du kannst sie doch nicht einfach töten", jammert Menschin. Sicher fleht sie ihn an, die Maus für sie zu töten. Mir ist schon aufgefallen, dass die Menschen keine Krallen und nur kleine Zähne haben. Menschs Zähne sind größer als die von Menschin und er wird einen besseren Tötungsbiss ansetzen können.

Aber Mensch greift zu den glänzenden Krallen, die Menschin in einem Stück Baum aufbewahrt. Damit zerreißt sie immer das Fressen für die Menschen, denn mit ihren schwachen Zähnen bekommen die das nicht hin.

Menschin dreht sich um und hält sich die Hände vor die Augen. Ich wundere mich, dass sie sich in diesem Moment das Gesicht putzen will. Aber Menschen sind nunmal so. Ich putze mich nach dem Fressen, nicht vorher.

Die Maus quiekt kurz, als Mensch ihr mit der Kralle den Kopf abreißt, dann erschlafft sie. Ich bin stolz auf Mensch. Er hat die Maus schnell und präzise getötet. Allmählich sehe ich Erfolge in meinem Bemühen, ihn die Jagd zu lehren.

Aber – jetzt wirft Mensch die Maus in den Abfall! Was soll das denn? Er soll sie fressen. Oder wenn er schon satt ist, wenigstens Jungmensch und Menschin geben.

„Das arme Tier! Ich weiß ja, dass es richtig ist, aber wie du sie so einfach töten kannst ...", weint Menschin. Die Arme hat sicher Hunger und Mensch gibt ihr einfach nicht die leckere Maus. Sie tut mir leid und ich reibe meinen Kopf an ihrem Bein.

„Oh, Strider hat Hunger! Warte, du bekommst gleich etwas!" Menschin greift zu einem der Steine, die im Inneren feines Futter für mich haben, öffnet ihn und leert ihn in meinem Napf. Das ist wohl ihr Dankeschön für meinen Trost.

Während ich fresse, überdenke ich den Tag noch einmal. Wenigstens hat Menschin die Maus gefangen und Mensch begriffen, wie man eine Maus tötet. Er wird es auch noch lernen, sie zu fressen.

Morgen bringe ich ihm wieder eine mit.

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