Kein Platz für Blumen

Rickelmann885 kann es nicht lassen: Auf seinem Discord-Server veranstaltet er immer wieder Wettbewerbe. Meistens gehts ums Zeichnen oder Fotografieren, aber auch immer mal ums Schreiben. Zum Thema im März 2022 "Eine einsame Blume auf einer Wiese" fielen mir gleich zwei Geschichten ein - eine sehr düstere und zeitaktuelle und eine sentimal-rührende. Zu meiner Überraschung hat die letztere sogar gewonnen.

„Keine Blumen!", sagt Seth kategorisch. „Das ist nur Platzverschwendung!"

Bess seufzt. Es ist nicht das erste Mal, dass sie es versucht. Und scheitert.

Von seiner Warte aus hat Seth recht. Sie haben genug zu kämpfen. Ihr Hof ist nur klein, die wenigen Wiesen reichen gerade für ihre paar Kühe aus. Das fruchtbarere Ackerland ist für Weizen, Mais und Rüben reserviert. Für Schönes, aber Nutzloses bietet die Farm keinen Raum.

Aber Bess will ja kein ganzes Feld voller Blumen. Sie träumt von einem einzigen abgezwackten Quadratmeter, den sie bepflanzen kann. Für Seth besteht das Leben nur aus Notwendigkeit. Aber Bess braucht auch ein klein wenig Überflüssiges. Etwas, das keinen Zweck erfüllt, sondern einfach nur hübsch ist und der Seele guttut.

Für Seth ist das Humbug. Ihm ist es genug Seelentrost, wenn er die glänzenden Felle und die prallen Euter seiner Kühe sieht, den Blick über ordentlich gesetzte Reihen Mais und Rüben schweifen lässt oder den Anblick des reifen Weizens genießt, der im Wind regelrechte Wellen wirft. Und sich dabei ausrechnet, wieviel Käse und Brot dann die Speisekammer füllen wird und wieviel Münzen ihm der Händler für das geben wird, was sie nicht selbst verbrauchen.

Das Brot ist gerade in Arbeit. Während Bess den Teig knetet, fallen einige Tränen in den großen Trog. Sie versteht sich selbst nicht mehr. Warum versucht sie immer wieder, ihren Mann zu überreden? Und ist so unglücklich nach jedem gescheiterten Versuch?

Eigentlich führen Bess und Seth doch eine glückliche Ehe. Seth schlägt sie nicht, behandelt sie mit Respekt und berät sich sogar mit ihr über Neuanschaffungen. Er ist stets bereit, ihr zu helfen, wenn sie mit der Arbeit im Haus nicht fertig wird, repariert sofort alles, was nicht funktioniert und füllt ihr morgens das große Fass mit Wasser aus dem Brunnen, damit sie sich nicht mit den schweren Eimern abplagen muss. Abends sitzt er nicht schweigend am Tisch, sondern spricht mit ihr. Über die Farm, aber auch über alles, was ihm am Tag passiert ist, was er in der Stadt gehört oder was in der wöchentlich erscheinenden Zeitung steht. Lacht mit ihr über die Witze in der „Gazette" und über die Tollpatschigkeiten, die sich der junge Farmhelfer leistet und tröstet sie, wenn ihr ein Kuchen angebrannt ist oder ihre Schwester mal wieder hämisch-herablassend geschrieben hat. Und er bedankt sich jedes Mal bei ihr, wenn sie ihm seine Lieblingsgerichte kocht. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Nachbarn betrachtet Seth seine Frau weder als Sklavin noch als Selbstverständlichkeit.

Die Nachbarinnen beneiden Bess um ihren Mann. Und Bess weiß selbst, wie gut sie es hat. Sie weiß schon, warum sie sich gerade in Seth verliebt hat. In einen ruhigen, zuverlässigen, humorvollen, fürsorglichen Mann, der weder mit materiellen Gütern noch mit gutem Aussehen punkten kann. Und auch Seth hat sich damals in sie verliebt. Während er um sie geworben hat, kam er fast jede Woche in die Stadt. Damals spotteten ihre Freundinnen über den zurückhaltenden Freier, jetzt weiß Bess, was es für ihn bedeutet hat, die Farm beinahe jede Woche für einen Tag in Stich zu lassen. Damit hat er ihr gezeigt, welchen Wert sie für ihn hat.

Und dennoch lässt sie nicht locker, bittet ihn immer wieder um die Blumen. Irgendwie hat sie sich in diese Idee verrannt. Vielleicht sind es die Briefe ihrer Schwester, in denen sie ihr berichtet, was ihr Mann ihr wieder Nettes geschenkt hat. Schmuck, Kleider, kostbaren Nippes – all das braucht und will Bess ja gar nicht. Sie ist mit ihrem Leben und mit ihrem Mann durchaus zufrieden.

Nur eine einzige Geste wünscht sie sich. Ein Geschenk, welches keinen Nutzen hat und sie nur erfreuen soll. Obwohl sie nicht daran zweifelt, dass Seth sie nach wie vor liebt, scheint es ihr, als ob sie diese eine Bestätigung braucht.

Wütend klatscht sie den Brotteig auf den Tisch, bevor sie aus ihm Laibe formt. Es wird Zeit, dass sie sich diese backfischhaften Gedanken abgewöhnt. Schließlich und endlich ist sie doch eine erwachsene Frau. Und eine glückliche Frau.

Die Hammerschläge von draußen sind verstummt. Ist Seth schon fertig damit, die Wiese vor dem Haus einzuzäunen? Neugierig geht Bess ans Fenster.

Der Zaun steht bereits entlang des Weges zum Haus und am Haus vorbei. Seth ist an der großen Eiche angelangt, welche die Grenze zwischen ihrem Hof und den der Andrews markiert. Von dort aus muss der Zaun wieder in Richtung Westen führen.

Aber Seth hantiert mit einer Sense. Sehr vorsichtig, als wäre dort etwas, was er nicht beschädigen wolle. Bess schlüpft aus der Tür und nähert sich ihrem Mann.

Unter der Eiche ist etwas gewachsen. Gerade noch auf ihrem Grundstück. Unter dem hohem Gras hat man es nicht sehen können. Ein Rittersporn, leuchtend rot und bereits fast einen Meter hoch.

Bess kehrt ins Haus zurück. Darum also die Sense. Aber warum lässt er die Kühe nicht einfach diese einzelne Blume abfressen? Dann fällt ihr ein, dass Rittersporn zwar schön, aber giftig ist.

Nun setzen die Hämmerschläge wieder ein. Bess wirft einen Blick aus dem Fenster. Der Rittersporn ist nun in seiner vollen Größe zu sehen. Nicht als rotes Signal auf dem kleinen Haufen abgemähten Grases, der neben dem Stacheldraht und den Pfählen liegt, sondern stolz aufgerichtet und frei vom erdrückenden Gras. Und die Pfähle, die Seth nun einsetzt, verlaufen anders als er es geplant hat. Bess' Tränen laufen über die Wangen und ihr Lächeln, als sie erkennt, was ihr Mann dort tut.

Seth baut einen Zaun um den Rittersporn herum.

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