Höflichkeit
Wer diese Story für übertrieben hält, dem sei an dieser Stelle gesagt: Ich habe tatsächlich nur gesammelt, was ich tatsächlich von Nachbarn zu hören bekam. Und ja, solche Menschen gibt es - ich frage mich nur, warum die alle mir über den Weg laufen müssen.
„Ihre Tomaten sind scheußlich", sagt mein Nachbar. „Werfen Sie die gefälligst weg."
Ich sage nur „guten Morgen" und gehe weiter zu meinem Auto. Mein Nachbar hat eine seltsame Art, mich zu begrüßen, wenn er mich im Hausflur trifft. In der Regel erklärt er mir nur irgendetwas, was ich anders machen soll. Seiner Meinung nach. Meine interessiert ihn nicht.
Nun also sind es die Tomaten, die ich auf meiner Terrasse ziehe. Ich weiß nicht, was ihm an ihnen nicht gefällt, doch es kümmert mich nicht. Der Nachbar hat eine eigene Terrasse und dort werkelt er auch eifrig. Fast jeden Monat setzt er neue, blühende Pflanzen in seine Blumenkästen und wenn sie verblüht sind, ersetzt er sie durch andere. Kann er auch machen. Schließlich gehört ihm seine Terrasse. Und meine gehört mir.
Als ich zurückkomme, begegnet mir mein Nachbar erneut. „Warum setzen Sie Ihre Pflanzen in angemalte Dosen? Sowas gehört auf den Müll!"
„Guten Abend", sage ich. Über mein Hobby Upcycling diskutiere ich nicht mit ihm. Er versteht sowas nicht. Jedes Ding hat für ihn nur einen Zweck und wenn es den nicht mehr erfüllen kann oder nicht mehr wie neu aussieht, gehört es fortgeworfen und ersetzt, anders kennt er es nicht. Seine Sache. Aber nicht meine.
Ich liebe Wochenende, wenn es morgens schon warm ist. Dann setze ich mich gerne auf die Terrasse und werkele vor mich hin. Heute will ich erst die Jeans meiner Tochter flicken, dann die Schubkarre meines Sohnes neu lackieren und später bauen wir zusammen aus Eierkartons eine Burg für die Playmobilritter. Beide Kinder sind mit Feuereifer dabei
Feuer sprüht mein Nachbar auch. Aus den Augen. „Sie haben schon wieder alles voller Müll hier! Das sieht unordentlich aus! Werfen Sie das doch endlich weg."
„Ich wünsche Ihnen auch ein schönes Wochenende", erwidere ich. Er brummt etwas und geht fort.
Es wird immer wärmer. Die Kinder ziehen sich um und holen ihre Wasserpistolen. Zehn Minuten später tobt eine wilde Wasserschlacht. Nachdem noch einige Freunde aufgetaucht sind, mischt schließlich auch Papa mit, indem er jedem Kind, das ihm zu nahe kommt, einen Eimer Wasser über den Kopf gießt. Die Antwort ist dann jedes Mal ein vergnügtes Kreischen.
„Ziehen Sie den Kindern doch was an!" Ich schrecke zusammen. Im Bemühen, die beste Position zum Fotografieren zu finden, habe ich nicht bemerkt, dass der Nachbar auf der anderen Zaunseite steht. „Die haben fast nichts an und Sie machen auch noch Bilder davon! Man fotografiert keine Kinder in Badezeug!"
Da ich die Bilder weder ins Netz zu stellen gedenke noch verkaufen will, sondern lediglich den jeweiligen Eltern überreichen möchte, interessiert mich der Einwand nicht. „Ich hoffe, Sie genießen diesen Sommertag ebenfalls", erwidere ich darum und wechsle die Position, da mir der Wassereimer gefährlich nahe kommt.
Der Nachbar folgt mir. „Ziehen Sie die Kinder anständig an! Das geht nicht, dass hier halbnackte Mädchen herumlaufen! Man sieht die Beine!"
Die Mädchen sind 5 Jahre alt und alle tragen Badeanzüge, zwei sogar T-Shirts darüber. Ich verstehe nicht, was den Nachbarn stört, aber ich gehe auch nicht darauf ein.
Als die Rasselbande abgetrocknet und zwar angezogen, aber immer noch nacktbeinig ist, holt mein Mann den Grill hervor. Ich pflanze währenddessen meine neuen Kräuter ein.
„Setzen Sie doch Stiefmütterchen! Jeder hier hat Stiefmütterchen, nur Sie pflanzen natürlich Oregano ein!"
„Sie haben schöne Stiefmütterchen", gebe ich zu und setze den Basilikum neben den Borretsch.
Mein Mann kommt mit den Briketts vorbei. Er fährt zusammen, als von nebenan kommt: „Warum grillen Sie nicht mit Holzkohle? Briketts stinken!" Er zuckt jedoch nur die Achseln und kippt die Briketts auf den Grill.
„Man grillt mit einem ordentlichen Kugelgrill, nicht mit so einem komischen Campinggrill! Und schon gar keine Kartoffeln!" stöhnt der Nachbar, als er sieht, was mein Mann auflegt. „Auf einen Grill gehören nur Würstchen! Schweinswürstchen! Warum hören Sie eigentlich nie auf mich?"
Auf unseren gusseisernen Grill lasse ich nichts kommen. „Vielleicht, weil mir Ihre Meinung schlicht und ergreifend vollkommen egal ist?" frage ich darum.
Der Nachbar explodiert: „Sagen Sie mal, wo kommen Sie eigentlich her? Hat Sie nie jemand Benehmen gelehrt, dass Sie so unverschämt sind? Ich glaube, Sie wissen gar nicht, was Höflichkeit bedeutet!"
Doch, das weiß ich. Höflichkeit ist das, was ich unbedingt zu wahren habe, aber niemand mir gegenüber einzuhalten verpflichtet ist.
Warum, habe ich allerdings nicht kapiert.
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