gewidmet Nataliamoeller07, die  meine "Schreibpause" schon am ersten Tag mit ihren aufmunternden Worten unterbrach
hier: https://www.wattpad.com/1339408070-autor-des-monats-%E2%AD%90-mai-2023
und zweifellos an diesem Prompt schuld ist. Nicht an dem Thema, sondern an dem selbstbewussten Auftreten der Erzählerin.
Nochmals vielen Dank für deine einfühlsamen Worte!

„Hey! Geh mir aus dem Weg, du fette Kuh!"

Der Ruf schallte durch das ganze Büro. Ich hörte nicht hin; schließlich bin ich keine Kuh. Aber als mich der Stoß in den Rücken traf, erkannte ich, dass wohl doch ich damit gemeint war.

Hinter mir stand eine Kollegin, hübsch, elegant und so schlank, dass sie dreimal in mich hineingepasst hätte. Aber auch in dreifacher Ausfertigung mühelos an mir vorbeigekommen wäre, denn der Gang zwischen den Schreibtischen ist sehr breit. Also drehte ich mich wieder um und ging ruhig weiter. Weniger schnell als sonst, denn die fünf Ordner, die ich mir geholt hatte, waren ziemlich schwer.

„Du sollst mir aus dem Weg gehen!" Ein weiterer Stoß traf mich. Ich teilte ihr mit: „Hier ist es erlaubt, rechts zu überholen. Du kannst ruhig vorbei!"

„Willst du mich veralbern?"

„Nein. Wusstest du nicht, dass die Stvo nicht in Büros gilt?"

„Sag mal, was willst du eigentlich hier?"

„Im Moment nur mit diesen Ordnern an meinen Platz zurück."

„Das ist zuviel! Dumm, frech und fett – ich meinte, was du hier in dieser Firma machst!"

„Arbeiten. Und du?"

„Das würde ich auch gerne! Aber leider muss ich dauernd kotzen gehen, weil mir übel wird von deinem Anblick! Wie kann man bloß so fett sein!?!"

„Das kann ich dir genau erklären. Willst du's hören?"

Da lachte sie hämisch auf. „Für mich bist du ein Schwein ohne Disziplin, das alles in sich reinstopft. Glaubst du wirklich, du findest eine gute Entschuldigung für dein Übergewicht?" Bei diesen Worten gab sie mir einen Schubs, der die Ordner auf meinen Armen ins Rutschen brachte.

Ich lächelte sie freundlich an. „Hör einfach zu, dann werden wir's ja sehen.

Als ich noch sehr klein war, kam ein Engel zu mir und fragte, was ich mir für mein Leben wünsche. Ich sagte ihm, dass ich gerne ein gutes Herz hätte und viel über die Welt wissen möchte. Und wenn es ginge, würde ich auch gerne hübsch und schlank sein.

Da seufzte der Engel und teilte mir mit, dass das so nicht möglich ist. Er erklärte mir, dass ein großes Herz und umfangreiches Wissen nicht in einen dünnen Körper passen. Je mehr Menschen ich in mein Herz schließen würde und je mehr Wissen ich mir aneignen würde, umso mehr würde ich auch an Gewicht zunehmen. Ich würde also wählen müssen, was mir wichtiger sei.

Nun, du siehst, wofür ich mich entschieden habe. Und ich sehe auch, wie deine Wahl ausgefallen ist."

Ich sammelte meine Ordner auf und ging weiter. Meine Kollegin hatte schon bald die Sprache wiedergefunden und schimpfte mir hinterher. Aber ich verstand kein Wort davon.

Ihr Geschrei ging gänzlich unter – im lauten Beifall unserer Kollegen.