52. Comeback
Jess
Seit ich wusste, dass ich als die Zweitbesetzung für die Hauptrolle der Schwanenkönigin vorgesehen war, trainierte ich noch verbissener. Manchmal zu verbissen für Matthews Geschmack. Er holte mich oft von diesem Trip herunter, indem er das Training unterbrach und mir begreiflich machte, dass nicht alles perfekt sein müsste. Ich sollte meine spielerische Ader finden, so drückte er sich aus. Es klang im ersten Moment schwierig, aber je mehr ich mich von dem Druck der Perfektion befreite, umso besser gelang es mir.
„Ja, sehr schön, Jess", lobte er mich, als ich einen Sprung, gefolgt von einer Pirouette hinlegte. „So möchte ich das haben."
Ein kleines Grinsen huschte über mein Gesicht, welches sich jedoch sofort wieder verflüchtigte, als ich ihn sagen hörte: „Morgen habe ich einen neuen Partner für dich. Das wird dir helfen, den letzten Schliff zu erhalten."
Für einen Moment stoppten meine Bewegungen. Ich wischte den Schweiß von meiner Stirn und schaute zu Matthew.
„Und wen, wenn ich fragen darf?"
Seine Antwort ließ mich beinahe taumeln. „Victor Hemsworth. Ich nehme an, du weißt noch, wer das ist."
Matthews ironische Ader kam zum Vorschein, denn ihm war selbstverständlich geläufig, dass ich Victor sogar persönlich kannte, eine Tatsache, die meinen Schock jedoch nicht minderte. Es überstieg meine Vorstellungskraft, dass ich mein nächstes Training mit solch einem berühmten Balletttänzer an meiner Seite, absolvieren durfte.
„Was ist denn mit Giulietta?", erkundigte ich mich vorsichtig.
Mit einem Lächeln erwiderte Matthew: „Sie ist die Erstbesetzung, wie bisher auch. Und auch sie wird mit der männlichen Zweitbesetzung üben. Wir tauschen also quasi die Rollen, damit es nicht zu einer Panne kommt, wenn Fall A oder B eintritt."
Fall A bedeutete, dass die Tänzerin ausfiel, Fall B, der Tänzer. Matthews Job war es, dafür Sorge zu tragen, dass die Inszenierung in tänzerischer Hinsicht perfekt lief, und er hatte noch niemals versagt. Zumindest nicht, so lange ich ihn kannte.
Als ich nach dem Training meine Sachen zusammenpackte, fragte ich mich, wie Niall wohl auf diese Neuigkeit reagieren würde. Schließlich wusste er, dass ich früher einmal für Victor geschwärmt hatte. Da ich damals aber ein Teenager gewesen war, sollte er eigentlich damit umzugehen wissen. Teenager, deren Hormone außer Kontrolle gerieten, wenn sie Niall nur sahen, waren ihm ja in den letzten Jahren ständig über den Weg gelaufen.
Kaum trat ich aus dem Saal, kam Niall mir entgegen.
„Das klappt ja heute super", meinte er grinsend und nahm mir sofort die Tasche ab, nachdem wir uns mit einem Kuss begrüßt hatten.
„Ich muss dir was sagen", begann ich ohne Umschweife.
„Was denn?"
„Ich werde ab morgen mit Victor trainieren."
Niall spitzte sofort seine Ohren. „Du meinst, den Victor? Also der, der die Strumpfhosen mit seinem hängenden Teil voll ausfüllt?"
Shit, er hatte sich jeden einzelnen meiner Sätze gemerkt, die mit dem Balletttänzer in Zusammenhang standen.
„Ja, genau, den meine ich", erwiderte ich lässig und beäugte meinen Freund von der Seite.
Nialls Räuspern machte mich unsicher.
„Nun ja", entgegnete er. „Erwartest du jetzt von mir, dass ich eifersüchtig werde?"
„Ich hoffe nicht."
Niall stieß ein kurzes Lachen aus, als er nach meiner Hand griff.
„Keine Sorge, das kriege ich schon gebacken. Aber wie kommt es, dass du plötzlich mit ihm trainieren sollst?"
Als ich es ihm erklärte, reagierte er zum Glück relativ cool, obwohl er mich aufzog.
„Ja, ja, die Strumpfhosen von Victor haben es dir angetan. So ein Mist, dass ich nur Sänger bin."
Dafür bekam er einen Klaps auf den Po, was er mit einem Augenzwinkern hinnahm.
Das Training am nächsten Tag gestaltete sich wie zu erwarten, überaus anspruchsvoll. Nachdem Victor mich mit einem langen Kuss auf die Wange begrüßt hatte, was bei Niall (der mich heute begleitete), ein Stirnrunzeln verursachte, begannen wir mit den Übungen. Matthew wollte alles perfekt sehen, aber da Victor und ich noch kein eingespieltes Team waren, klappte das nicht so ganz.
„Du musst dich mehr fallen lassen, Jess", kam es von unserem Trainer, was ich seufzend zu verinnerlichen versuchte.
Mehr fallen lassen, bedeutete, sich dem Tanz ganz und gar hinzugeben, ohne über die Schritte nachzudenken. Es fiel mir schwer, dies mit solch einem berühmten Partner an meiner Seite zu tun.
„Du musst sie höher heben, pack sie fester an, sie ist nicht aus Zucker!", musste Victor sich von Matthew anhören.
Aus den Augenwinkeln nahm ich Nialls leicht angepisstes Gesicht wahr. Seine heutige Anwesenheit schien sich nicht gerade zum Vorteil auszuwirken, zumindest fühlte ich mich im Moment unwohl. Victor würde mich nie verletzen, selbst wenn er mich härter anpackte, konnte nichts passieren. Im Gegenteil; je härter der Griff, umso sicherer hielt er mich und die Gefahr eines Sturzes war so gut wie nicht gegeben.
Wie zu erwarten, hielt sich Victor an die Anweisungen unseres Trainers, der daraufhin zufrieden dreinschaute.
Ich durfte ein wenig Atem schöpfen, um den Kopf frei zu kriegen, was mir just in diesem Moment gelang. Als ich erneut zu tanzen begann, trat ich in eine andere Welt. Ich nahm nichts mehr wahr, weder Zeit, noch Raum, sondern nur die Musik und alles, was dazu gehörte.
„Das war großartig, Jess!" Matthews Worte hallten in meinem Kopf, als ich den Weg zurück in die Realität fand. „Genauso habe ich mir das vorgestellt."
Alles was ich tat, war, erleichtert aufzuatmen. Ich befand mich wieder auf dem Weg nach oben, so wie vor zwei Jahren. Aber selbst wenn ich in diesem Jahr nicht die Hauptrolle tanzen würde, was sehr wahrscheinlich war, da Giulietta sich nicht, wie damals, im Ausland befand, konnte ich einen Erfolg verbuchen, mit dem ich nie gerechnet hatte: Die Zweitbesetzung zu sein.
Weniger erfreulich war hingegen die Tatsache, dass Victor mich plötzlich ständig unter irgendeinem Vorwand anrief, was Niall natürlich nicht verborgen blieb.
„Der Typ soll es nicht wagen, dich anzumachen, dann lernt er mich kennen", ließ mein Freund mich wissen, als der Tänzer mal wieder unsere abendliche Kuschelstunde auf dem Sofa störte.
Dieses Mal fragte er sogar direkt, ob wir nach dem morgigen Training zusammen einen Kaffee trinken könnten, was ich jedoch verneinte. Niall holte mich vom Training ab, zumindest hatten wir es so abgesprochen. Aber ich musste meinem Freund Victors Anliegen ja nicht auf die Nase binden, da er nur wieder sauer auf den Tänzer sein würde. Dafür gab es jedoch keinen Grund, da ich nicht an ihm interessiert war.
Das Training am nächsten Tag verlangte uns ziemlich viel ab. Matthew wollte uns den letzten Schliff geben. Dass wir es allerdings so gut hinbekommen würden, hatte keiner von uns beiden gedacht. So gesehen konnten wir uns selbst auf die Schulter klopfen.
Nach dem Training verschwand ich sofort in die Umkleide. Gerade als ich in meine Jeans schlüpfen wollte, meldete sich mein Handy. Niall war der Anrufer.
„Hey, Schatz, was gibt es denn?", fragte ich fröhlich.
„Hey, Prinzessin, ich sitze noch bei Harry fest. Wir sind mitten in einem Song und würden nur sehr ungern aufhören. Ist es ein Problem für dich, mit der U-Bahn oder dem Taxi zu Harrys Haus zu fahren?"
Prompt musste ich schmunzeln. Wenn die beiden gemeinsam an Songs arbeiteten, konnten sie sich nur sehr schwer davon loseisen.
„Nein, das ist kein Problem."
„Du kannst dir auch Zeit lassen, also nimm lieber das Taxi, denn das braucht eine Weile. Ich komme für die Kosten auf."
Niall klang so süß, dass ich lachen musste.
„Mach dir darüber keine Gedanken, außerdem wollte ich sowieso noch im Harrods vorbeischauen. Das liegt ja auf dem Weg."
„Super, dann sehen wir uns später."
„Bis dann, Niall."
„Bis dann, Jess."
Mit einem Lächeln beendete ich das Telefonat, packte das Handy in die Tasche und zog mich fertig an. Jetzt würde ich alle Zeit der Welt haben, in der Süßigkeitenabteilung bei Harrods zu stöbern. Schnell eilte ich durch den Flur und stieß prompt mit Victor zusammen, der aus den Umkleideräumlichkeiten der Männer trat.
„Sorry, ich habe dich nicht gesehen", stammelte ich.
„Alles gut. Du hast es wohl sehr eilig, hm?"
Für einen Moment dachte ich nach. Hatte Niall nicht gesagt, ich sollte mir Zeit lassen?
„Eigentlich nicht, ich wollte nur zu Harrods", erklärte ich ehrlich.
Victor nickte, dann fragte er: „Holt Niall dich heute nicht ab?"
„Nein, er ist bei einem Freund. Wir treffen uns dort."
Inzwischen hatten wir uns synchron in Bewegung gesetzt und die Tür zum Ausgang erreicht, welche Victor nun galant für mich öffnete.
„Also wenn du Zeit hast, könnten wir doch eigentlich einen Kaffee trinken gehen, oder?"
Eigentlich hatte ich nein sagen wollen, doch als Victor noch einen Satz hinzufügte, wurde meine Neugier geweckt.
„Ich möchte die etwas erzählen. Es geht um Giulietta."
Dies gab schließlich den Ausschlag.
„Ok, also für einen Kaffee hätte ich wohl Zeit", lautete meine Antwort nun, was er mit einem Lächeln quittierte.
„Ok, gleich um die Ecke ist eines."
„Ich weiß."
Vor meinem Unfall war ich dort öfter gewesen, eigentlich nach jeder zweiten Probe.
„Die bieten leckeren Kuchen an", meinte ich grinsend, worauf Victor lachte.
„Dann lass uns losziehen."
Im Café angekommen, suchten wir uns einen Platz am Fenster und bestellten zwei Milchkaffees. Ich nahm noch ein Stück Schokoladentorte dazu, da es mir nach etwas Süßem gelüstete.
„Also was wolltest du mir über Giulietta erzählen?" Fragend richteten sich meine Augen auf den blonden Tänzer, dessen Grinsen immer breiter wurde.
„Du bist eine fantastische Tänzerin, Jess."
Stöhnend rollte ich meine Augen. „Das wollte ich jetzt nicht hören, Victor."
„Es ist aber die Wahrheit und deshalb sind Giuliettas Tage gezählt."
Augenblicklich legte sich meine Stirn in Falten, als ich auch schon hervorstieß: „Wie meinst du das denn?"
Als hätte er alle Zeit der Welt, rührte Victor genüsslich seinen Kaffee um. Am liebsten hätte ich ihn durchgeschüttelt und ihm die Worte herausgeprügelt, auf die ich so gespannt wartete. Dann begann er endlich zu reden.
„Nun, sie wird neununddreißig, sie hat ihre beste Zeit hinter sich. Aber du hast deine beste Zeit noch vor dir."
„Neununddreißig? Ich dachte immer, sie sei fünfunddreißig", gestand ich erstaunt.
„Sie hat sich ziemlich gut gehalten, würde ich sagen", lautete seine Antwort, begleitet durch ein leichtes Grinsen.
„Ich denke, du könntest ihre Nachfolgerin werden und Matthew ist bestimmt der gleichen Ansicht", ließ er sich noch vernehmen.
„Ach Unsinn. Ich bin gerade erst wieder von einer langen Pause zurückgekehrt und habe bei weitem noch nicht meine alte Form gefunden", warf ich ein.
„Ach ja? Und was denkst du, warum Matthew dich zur Zweitbesetzung berufen hat? Er tut das nicht aus Mitleid, oder weil er etwas ausprobieren möchte, Jess. Matthew ist knallhart. Wenn du nicht genug wärst, hätte er dich wieder rausgeworfen. Aus dir wird mal etwas Großes werden, lass dir das gesagt sein."
Victors Worte hallten in meinem Kopf, als ich später das Café verließ, um zum Harrods zu fahren. Ich nahm die U-Bahn, weil es um das schnellste Verkehrsmittel handelte. Außerdem befand sich die Haltestelle Covent Garden nur wenige Gehminuten von meiner Trainingsstätte und dem Café entfernt.
Es wäre eine Lüge zu behaupten, dass mir Victors Komplimente nicht schmeichelten und es war ebenso falsch zu sagen, dass ich nicht die Beste sein wollte. Aber Giulietta war so ein großes Vorbild für mich, dass ich nie auf den Gedanken gekommen wäre, eines Tages ihren Platz einzunehmen.
Nachdem ich drei Schokobars in der Süßwarenabteilung im Harrods erstanden hatte, machte ich mich mit der U-Bahn auf den Weg zu Harrys Heim. Dort wurde ich freudestrahlend begrüßt, sowohl von Harry, als auch von Niall. Ihre Freude weitete sich noch mehr aus, als sie feststellten, dass ich für jeden Schokolade mitgebracht hatte. Zum Dank spielten sie mir einige Takte des Songs vor, an welchem sie gerade arbeiteten.
„Das klingt cool", lautete mein Urteil, begleitet von einem Lächeln.
„Er ist fast fertig, wir arbeiten morgen weiter, aber jetzt soll Niall mit dir nach Hause fahren", erklärte Harry wie eine fürsorgliche Mutter, die sich um ihre Kinder kümmerte.
Meine Gedanken verweilten noch immer bei Victors Worten bezüglich Giulietta, als wir uns auf dem Heimweg befanden. Und sie stoppten auch nicht, als wir gemeinsam das Essen zubereiteten und verdrückten. Erst als Niall plötzlich sein Handy auf den Tisch klatschte und mich anschaute, erwachte ich aus meinen Träumen.
„Ich hab ja nichts dagegen, dass du mit anderen Typen einen Kaffee trinken gehst, aber warum sagst du es mir nicht einfach?", pfefferte er mir ins Gesicht.
Als ich auf das Handy schielte, sah ich es. Irgendjemand musste Victor und mich fotografiert haben! Die Fotos geisterten nun im Internet umher. Nicht, dass ich damit ein Problem hatte, aber ich wusste, dass Niall nicht besonders gut auf ihn zu sprechen war.
„Er ist mein Kollege, ok? Wir hatten etwas Berufliches zu besprechen", erwiderte ich lauter als beabsichtigt.
„Du musst mich nicht anschreien, Jess, ich bin nicht taub", murmelte Niall, worauf ich meinen Kopf nach unten senkte.
Ich wollte mich nicht mit ihm streiten, ich wollte nur, dass er mich verstand. So, wie er es ansonsten immer tat. Aber alles was mit Victor in Zusammenhang stand, schien wie ein rotes Tuch auf Niall zu wirken. Ich musste verhindern, dass er einen falschen Eindruck von der ganzen Sache erlangte.
„Es ging um Giulietta", würgte ich schließlich hervor. „Victor hat mir erzählt, dass Matthew mich als ihre Nachfolgerin ansieht."
Es war so still im Raum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Nialls blaue Augen schauten zu mir, sein Gesichtsausdruck blieb dabei für einige Sekunden undefinierbar. Doch dann zeigte sich ein Strahlen auf seinem Gesicht.
„Echt? Das ist ja, wow! Mir fehlen die Worte!"
Urplötzlich wirbelte er mich durch die Gegend, so sehr, dass ich lachen musste.
„Ja, das ist es, und jetzt kannst du aufhören, eifersüchtig auf Victor zu sein", sagte ich.
„Ich bin nicht eifersüchtig, nur in meiner Eitelkeit gekränkt", ließ Niall mich mit einem Augenzwinkern wissen. „Wie kannst du einen Balletttänzer einem Sänger vorziehen?"
„Ich hab ihn nicht vorgezogen. Du hattest keine Zeit, oder besser gesagt, du warst am Arbeiten", bemerkte ich grinsend, worauf Niall einen Kuss auf meine Wange drückte.
„Ich habe immer gewusst, dass du es schaffen würdest. Aber das es so schnell geht, davon hatte ich keine Ahnung."
„Ich würde sagen, du hast einen großen Teil dazu beigetragen und tust es auch immer noch", gab ich ehrlich zu.
Seine Finger streiften kurz meine Wange, als er leise sagte: „Ich gebe mir Mühe, Prinzessin."
Als ich am Montagmorgen zum Balletttraining aufkreuzte, hatte ich noch keine Ahnung, was auf mich zukommen würde. Alle Blicke richteten sich auf mich, als ich die durch die Tür marschierte und jegliches Gerede verstummte. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte ich sofort. Hatte ich plötzlich Ausschlag im Gesicht oder warum starrten mich alle so an?
Ich schluckte, als ich meinen Weg durch die Tänzerinnen antrat und fühlte mich von ihren Blicken durchbohrt. Matthew, der wie üblich mit Victor zusammenstand, bevor wir unser Training begannen, schaute nun in meine Richtung.
„Ah, da bist du ja, Jess."
Als er meinen zweifelnden Gesichtsausdruck bemerkte, zog er seine Augenbraune in die Höhe.
„Du weißt es noch nicht, oder?"
„Was soll ich denn wissen?", würgte ich leicht zitternd hervor, worauf er erneut zu reden begann.
„Giulietta hatte einen kleinen Unfall. Ihr Sprunggelenk ist gebrochen, was natürlich bedauerlich ist. Aber zum Glück bist du ja bestens vorbereitet. Du wirst die Hauptrolle in Schwanensee tanzen."
Es war ein Schock das zu hören, denn auf diese Art und Weise seine Karriere zu beenden, war wohl das Schlimmste, was einer Balletttänzerin passieren konnte. Im ersten Moment realisierte ich auch gar nicht, was dies für mich bedeutete, obwohl Matthew es klar und deutlich ausgesprochen hatte. Erst, als lauter Applaus ertönte, wurde es mir bewusst.
Ich würde der Star der Aufführung sein, welche in zwei Wochen stattfand. Hoffentlich konnte ich Matthews hohen Erwartungen, die er an mich stellte, gerecht werden. War es nicht eigentlich viel zu früh, dass ich mit dieser wichtigen Rolle betraut wurde?
Zweifel und Ängste stiegen in mir auf, doch ich kämpfte dagegen an, so gut es ging. Und es gab einen Menschen, der mir enorm dabei half, Niall. Er geriet ganz aus dem Häuschen, als ich ihm die Neuigkeit später verkündete.
„Oh mein Gott, das ist so toll, Jess!", sagte er und drückte mich an sich. „Ich freue mich so für dich, das glaubst du nicht. Und ich bin ziemlich stolz, dass du das alles so gut hinbekommen hast."
„Auch, wenn ich mit Victor tanzen muss?", konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen, worauf mein Freund mir lässig ins Ohr flüsterte: „So lange er seine Strumpfhosen beim Tanzen nicht auszieht, ist mir das egal."
In den nächsten beiden Wochen lebte ich quasi von Training zu Training und Niall unterstützte mich, so gut es ihm möglich war. Seine aufmunternden Worte gaben mir jeden Tag Kraft und den Willen, die beste Darbietung aller Zeiten abzuliefern. Ich wollte an die Spitze und dort bleiben, so lange es ging.
Die Konkurrenz beim Tanzen war riesengroß und es gab viele Neider, die versuchten, einem Steine in den Weg zu legen. Aber Matthews Entscheidung stand fest. Für die Zweitbesetzung hatte er nun Mila Adams, eine überaus ehrgeizige Tänzerin vorgesehen, die ständig versuchte bei Victor zu landen.
Vielleicht rechnete sie sich auf diesem Weg Chancen für die Hauptrolle aus, doch so funktionierte es nicht. Auch Victor musste sich Matthews Entscheidungen stets beugen, sonst war er nämlich weg vom Fenster, wie man so schön sagte.
Jeden Tag fieberte ich dem großen Ereignis ein wenig mehr entgegen und als die Stunde der Wahrheit schlug, war ich beinahe zu einem Nervenbündel mutiert. Es war üblich, dass wir uns spätestens zwei Stunden vor der Aufführung im Gebäude einfinden mussten. Umziehen, schminken und Dehnübungen waren angesagt, bevor es letztendlich auf die Bühne ging.
Niall blickte bei all diesen Dingen hinter die Kulissen. Er durfte sogar in meine persönliche Garderobe, was ansonsten nur dem Trainer und dem Tanzpartner vorbehalten war. Selbst den Familienmitgliedern war der Besuch erst nach dem Auftritt gestattet, denn man wollte Nervosität für die Tänzer vermeiden. Diese konnte durchaus aufkommen, wenn sich zu viele Leute in der Garderobe aufhielten.
Aber Niall war der Ruhepol, den ich am heutigen Tage dringend benötigte. Er versorgte mich mit Getränken und schaffte es tatsächlich, meine Nervosität auf ein sehr geringes Level zu bringen. Ein bisschen Lampenfieber war ganz normal, damit konnte ich letztendlich umgehen.
Wir wärmten uns in einem Nebenraum auf, welcher auch nur von den Tänzern betreten werden durfte. Hier musste ich mich nun von meinem Freund verabschieden.
„Alles Gute, Prinzessin, du schaffst das schon", flüsterte er mir beruhigend ins Ohr, bevor er einen Kuss auf meine Wange hauchte.
Nun war ich auf mich alleine gestellt. Konzentriert führte ich die Dehnübungen aus, bis Victor auftauchte, der nochmal eine der Hebefiguren, die uns bis zum Schluss Probleme bereitet hatte, gemeinsam mit mir übte. Es klappte zwar aber trotzdem hatte ich Bammel davor. Hoffentlich hielten meine Nerven das aus. Eine Minute später hatte ich jedoch keine Zeit mehr darüber nachzudenken, denn jetzt wurde es Ernst; mein großer Traum würde sich gleich erfüllen.
Victor und ich standen schon bereit, als die ersten Takte der Musik erklangen. Ich spürte diese innere Anspannung und Freude, die nur das Ballett mir geben konnte, in mir aufsteigen, als ich auf die Bühne sprang. Ab diesem Zeitpunkt befand ich mich in meiner eigenen Welt, umgeben von Musik, Leidenschaft und Hingabe.
Man dachte niemals über eine Choreografie nach, die man gelernt hatte, man beherrschte sie einfach. Pirouetten, Arabèsque, Plié und Passé verbanden sich zu einem magischen Tanz, in welchen ich vollständig eintauchte und aufging. Mit Victor hatte ich einen Tänzer an meiner Seite, dessen Sicherheit sich auf mich übertrug.
Die Hebefiguren klappten perfekt, ich kam gar nicht dazu, darüber nachzudenken, ob vielleicht etwas schief gehen könnte. Und am Ende der Darbietung blieb nur noch der tosende Applaus, der sich mit meinen Freudentränen vermischte. Als ich vor das Publikum trat, schwoll der Geräuschpegel mächtig an, was erneut Tränen des Glücks in meine Augen trieb.
Als meine Augen durch die Menge wanderten, entdeckte ich zu meiner Überraschung nicht nur einige Prominente, welche damals an der Charity Veranstaltung teilgenommen hatten, sondern auch eine Reihe Fußballspieler, sowie José Mourinho und seine Familie. Matilde strahlte über das ganze Gesicht und warf mir eine Kusshand zu, die ich prompt erwiderte. Auch Louis, Liam, Zayn und Harry waren gekommen. Letzterer saß neben Anne, die heulend da stand, weil sie sich so für mich freute. Direkt neben ihr befanden sich meine Eltern, sowie Malcolm und seine Freundin.
Alle applaudierten, als ginge es um ihr Leben. Dann suchte mein Blick nach Niall und als unsere Augen sich trafen, konnte ich das Glitzern in seinen sehen. In jenem Moment stieg eine unendlich tiefe Dankbarkeit, sowie Liebe in meinem Herzen auf. Ohne ihn wäre das alles nie möglich geworden. Ohne ihn hätte ich nie wieder richtig gelebt.
Als ich den Weg zu meiner persönlichen Garderobe antrat, zitterte ich am ganzen Körper; vor Aufregung, vor Freude und vor Erleichterung, dass ich es geschafft hatte, in meine Welt zurückzukehren.
Lächelnd stieß ich die Tür auf, um plötzlich auf ein Blumenmeer zu schauen, welches den kleinen Raum förmlich überflutete. Weiße Lilien, roséfarbene Gerbera, rote und weiße Nelken, alles duftete nach ihnen. Und dann erblickte ich ihn, den Strauß roter Rosen.
Mit klopfendem Herzen schritt ich darauf zu. Eine kleine Karte steckte darin, befestigt mit einer winzigen Klammer, welche durch ein kleines, rotes Herz geziert wurde. Meine Finger zitterten, als ich diese öffnete, obwohl ich genau wusste, von wem sie stammte.
„Herzlichen Glückwunsch zur Premiere. Alles Liebe von jemandem der dich gern hat. N."
Ein breites Lächeln zierte meine Lippen, denn der zweite Satz entsprach exakt dem Wortlaut der Karte, welche dem ersten Strauß beigefügt wurde, den Niall mir zu meinem Geburtstag im letzten Jahr hatte zukommen lassen. Ein leises Klopfen an der Tür ließ mich unmerklich zusammenzucken.
„Komm rein", sagte ich, noch immer etwas außer Atem.
Meine Augen folgten seinen Bewegungen, und als Niall mich in seine Arme schloss, war mein Glück perfekt.
„Ich bin so stolz auf dich, Jess. Du warst wundervoll", wisperte er.
„Danke." Mehr brachte ich nicht hervor, weil ich vor lauter Glückseligkeit schon wieder heulte.
Niall hielt mich fest und gleichzeitig sanft umschlungen, küsste meine Tränen weg und sagte dann: „Diese Minute durftest du dir gönnen, aber jetzt wird gefeiert. Draußen warten alle auf dich. Dein Trainer, deine Kollegen, deine Familie, deine Freunde und die Jungs."
„Und der FC Chelsea?"
Sein Schmunzeln wurde breiter. „Der natürlich auch."
Es wurde eine lange Nacht, in welcher Unmengen an Champagner und anderen alkoholischen Getränken flossen. Balletttänzer waren nicht nur in der Lage mit Spitzenschuhen über die Bühne zu schweben, sondern auch zu trinken.
Im Kreise meiner Familie, die unglaublich stolz auf mich waren, meiner Freunde und Kollegen, feierte ich mein Comeback in die Welt des Balletts. Es wurde eine rauschende Party und als Niall und ich endlich gegen vier Uhr morgens im Bett lagen, murmelt ich nur: „Willkommen zurück, Jess."
Das Letzte, was ich spürte, bevor ich einschlief, waren Nialls Lippen, die meine Stirn berührten.
Während der kommenden Wochen tanzte ich regelmäßig die Hauptrolle in Schwanensee. Die anfänglichen Unsicherheiten verschwanden komplett, trotzdem ging ich stets kritisch mit meinen eigenen Leistungen um. Jeder Fehler konnte mich die Hauptrolle kosten und das wollte ich unter allen Umständen vermeiden.
Umso ärgerlicher war ich über mich selbst, als Matthew mich beim heutigen Training ständig korrigierte. Er sprang so hart mit mir um, dass ich mich wie eine blutige Anfängerin fühlte. Innerlich reagierte ich fast schon trotzig darauf, doch äußerlich ließ ich mir nichts anmerken. Vielmehr fragte ich mich, welche Laus ihm über die Leber gelaufen war.
Trainer konnten bisweilen genauso launisch agieren wie eine Diva, doch Matthew hatte in der Vergangenheit niemals ein solches Verhalten an den Tag gelegt. Die Krönung kam jedoch zum Schluss, als er mir an den Kopf warf: „Du musst wahrlich noch viel üben, Jess, um in der großen, weiten Welt bestehen zu können."
Mein empörtes Schnaufen überhörte er großzügig, drehte sich zur Seite und sagte: „Ich möchte dich, wenn du umgezogen ist, in meinem Büro sehen."
Das klang alles andere als gut.
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Cliffhanger, haha :D Ich habe euch ja gesagt, dass noch mehrere kommen werden und falls nicht, dann wisst ihr es jetzt.
Danke für die vielen Kommentare und Votes zum letzten Kapitel! Bitte lasst mich wissen, was ihr über dieses hier denkt ;)
LG, Ambi xxx
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