51. Uncovered

Niall

Amüsiert beobachtete ich Jess' Gesichtsausdruck, als Anne mit der Wahrheit herausrückte.

„Weißt du, Harry hat meine Kurzgeschichten gelesen, die ich verfasst habe, und nun hilft er mir dabei, diese als Buch herauszubringen."

Jess' Kinnlade klappte nach unten, dann holte sie tief Luft und sagte: „Echt jetzt? Das ist toll! Das ist... einfach riesig! Und du hast es absolut verdient, dass jemand dein Talent fördert!"

Schon vor einiger Zeit erzählte Harry mir im Vertrauen, dass er Annes Schreibkünste, die im Übrigen in einem großen Buchladen arbeitete, sehr schätzte. Kein Wunder, denn Harry las unglaublich gerne und wenn es ihm gefiel, warum nicht? Zudem besaß er Kontakte in alle Richtungen, auch in der Verlagsbranche.

„Und ich dachte, ihr hättet ein Verhältnis miteinander!" Jess klatschte sich die Hand gegen die Stirn, was uns alle zum Lachen reizte.

„Du hast immer nur schweinische Gedanken", rügte Anne ihre Freundin im Spaß, worauf ich mir nicht verkneifen konnte zu sagen: „Das stimmt allerdings."

„Was?! Na warte, ich kann mich auch brav ins Bett legen und alles dir überlassen", schmollte Jess.

„Das schaffst du sowieso nicht", erwiderte ich siegessicher.

„Wetten doch?"

Bevor ich darauf antworten konnte, tauchte der Kellner an unserem Tisch auf, um nach den Essenswünschen zu fragen. Einstimmig wählten alle Filetsteaks, wobei die beiden Damen die kleinere Ausgabe vorzogen, während Harry und ich die neun Unzen bestellten. Es wurde ein ziemlich lustiger und entspannter Abend, den wir sehr genossen.

„Sagt mal, wenn Anne und du morgen nichts vorhabt, dann könntet ihr mir doch auch beim Training zuschauen, oder?"

Jess schaute bittend zu ihrer besten Freundin, sie sogleich nickte.

„Das machen wir, nicht wahr, Harry?"

„Aber sicher doch."

Es war mir klar, was Jess damit bezweckte, oder um es genauer zu definieren, was in ihr vorging. Je öfter sie vor Zuschauern probte, desto besser gewöhnte sie sich wieder an eine Audienz, auch wenn diese im Moment nur einer geringen Größe entsprach. Ich wusste nicht, wie ausgeprägt ihr Lampenfieber war, darüber hatten wir noch nie gesprochen, aber sicher würden wir dies in absehbarer Zeit tun.

Wie versprochen tauchten Anne und Harry am nächsten Tag beim Balletttraining auf. So lange Jess den Einzelunterricht erhielt, war dies auch ohne Probleme möglich. Sie konnte selbst bestimmen, ob sie Zuschauer haben wollte oder nicht. Fiona reagierte ziemlich locker in dieser Hinsicht und begrüßte das neue Publikum eher wohlwollend als ablehnend.

Jess gab alles, in jeder Trainingsstunde verausgabte sie sich total, so wie ich auf der Bühne.

„Oh Gott, sie ist so wundervoll", flüsterte Anne ganz gerührt, als ihre Augen gebannt auf Jess starrten. „Sie wird es schaffen, genau wie früher zu sein."

Ich wünschte ihr dies von ganzem Herzen, ich wollte, dass Jess ihren Traum leben konnte. Und im Moment sah alles danach aus. Ihre Beine wurden mit jedem Tag kräftiger, die Bewegungen geschmeidiger und ich konnte förmlich spüren, wie sehr sie aufblühte.

Es gab nichts, was Jess mehr zum Leben erweckte, als Ballett zu tanzen. Wenn man für etwas geboren war, dann konnte man sich diesem schlecht entziehen. Für mich war es die Musik, für Jess eben das Tanzen.

Jedes Mal, wenn ich ihr beim Training zuschaute, erzeugte dies ein immenses Glücksgefühl in meinem Herzen. Aber Jess trainierte nicht nur in der Ballettschule, sondern auch zuhause. Man konnte dies mit meinem ständigen Gitarrenspiel vergleichen.

Schon nach dem Aufstehen tänzelte sie meist auf Zehenspitzen durch das Haus, bis zur Küche, wo sie sich an der Arbeitsplatte festhielt, um einige Übungen zu absolvieren. An diesem Morgen lief ich ihr lächelnd hinterher, kreuzte die Arme vor meiner Brust und genoss die Darbietung meiner wunderschönen Freundin.

„Das sieht sexy aus", meinte ich grinsend.

„Du siehst auch sexy aus, Niall", kam es prompt zurück.

Trotzdem ließ sie sich nicht stören, sondern verfolgte weiterhin ihre Übungen. Zumindest so lange, bis ich mich näherte, um meine Hände an ihrer schlanken Taille zu platzieren. Diese war ein wenig schmaler geworden, seit Jess wieder regelmäßig trainierte, doch ihre Beinmuskulatur hatte zugelegt. Somit war ich Gewicht ziemlich gleich geblieben.

Mit einem Ruck hob ich sie kurz an und flüsterte ihr ins Ohr: „Was dieser Typ in den schwulen Strumpfhosen kann, bringe ich schon lange."

Ihre Lippen wurden von einem schelmischen Lächeln umspielt.

„Redest du etwa von Roger?"

„Von wem denn sonst? Es gibt ja nicht so viele Männern, die dich so anfassen, es sei denn, du würdest mir etwas verschweigen", neckte ich sie.

„Wie kommst du denn darauf? Ich würde dir nie etwas verschweigen, Süßer."

Kaum hatte ich sie auf dem Boden abgestellt, versanken wir in einem tiefen Kuss, der erst endete, als mein Handy zu vibrieren begann.

Da dieses in der Tasche meiner Jogginghose steckte, kicherte Jess und meinte: „Willst du mich neuerdings mit einem vibrierenden Handy befriedigen?"

„Das kannst du vergessen, denn dafür bin immer noch ich zuständig, oder besser gesagt, gewisse Körperteile", gab ich kontra und fischte das nervige Telefon aus meiner Hosentasche.

„Wer ist das denn so früh am Morgen?", maulte ich, um Sekunden später auf Harrys Namen zu blicken, den ich unter Curly Head in meinen Kontakten eingespeichert hatte.

„Hey, Harry was gibt's denn?", begrüßte ich meinen Freund.

Zu meiner Überraschung meldete sich Anns Stimme. „Hey, Niall, ich wollte eigentlich nur Bescheid sagen, dass mein Bookdeal in trockenen Tüchern ist", sprudelte sie hervor.

„Wow! Echt?! Du möchtest es sicher Jess persönlich erzählen. Sie wird begeistert sein", entfuhr es mir, bevor ich meiner Freundin das Handy übergab.

Harry musste sich wirklich mächtig angestrengt haben, zudem ging ich davon aus, dass Anne ziemlich gut schreiben konnte. Man bekam nämlich nicht einfach so einen Autorenvertrag, weil ein bekannter Sänger eine Empfehlung aussprach. Sicher machte es das einfacher, doch wenn der Autor nichts Gutes ablieferte, half auch kein Vitamin B. Ähnlich verhielt es sich nämlich mit den Songtexten.

„Oh mein Gott, das ist so toll! Es war immer Annes Traum, mal ein Buch herauszubringen. Und Harry hat es wahr gemacht", sagte Jess euphorisch, nachdem sie ihrer besten Freundin gratuliert, und das Gespräch beendet hatte.

Ihre braunen Augen schauten zu mir. „Weißt du was, Niall? Es sollte wohl so ein, dass ich dich kennenlerne, damit Annes und meine Träume sich erfüllen."

Lachend schloss ich sie in meine Arme, versenkte meine Nase in ihren langen Haaren und murmelte: „Wer weiß, welche höhere Macht da ihre Hände im Spiel hatte."

„Oh, diese Frage ist leicht zu beantworten, denn in meinem Fall heißt die höhere Macht Niall James Horan", flüsterte Jess in mein Ohr, was ich mit einem Schmunzeln quittierte.

„Weißt du eigentlich was für ein Tag heute ist?", richtete sie kurz danach ihre Frage an mich, die mich scheinbar erstaunt aufsehen ließ.

„Ja, Freitag", antwortete ich prompt.

Ein wenig genervt rollte Jess ihre braunen Augen, als sie sagte: „Ich wusste, dass du es vergessen würdest."

Da ich es liebte, sie zappeln zu lassen und auf den Arm zu nehmen, spielte ich das Spiel einfach mit.

„Ist heute irgendetwas Besonderes?", meinte ich und riss gleichzeitig meine Augen auf, um dem theatralischen Effekt mehr Wirkung zu verleihen.

Jess' entrüstetes Schnauben zeigte mir, dass meine Schauspielkünste durchaus passabel waren. Zudem zog sie eine beleidigte Schnute, als sie ihre Arme vor der Brust kreuzte. Ich wartete nur darauf, dass sie gleich mit dem Fuß aufstampfen würde.

„Niall James Horan, es kann nicht dein Ernst sein, dass du es wirklich vergessen hast, oder?", schnaufte sie brüskiert.

„Hm, also heute ist Freitag, der achte Juli", begann ich langsam, in ihre braunen Augen schauend, die mich noch immer ungläubig musterten. Sollte ich es gleich aufklären oder nicht? Ich entschied mich dafür, den Unschuldigen zu spielen.

„Also, wenn du mir jetzt sagen willst, dass wir heute etwas Bestimmtes vorhaben, dann tut es mir leid, wenn ich es vergessen haben sollte. Ich war nämlich so frei, heute Abend für uns einen Tisch in unserem Lieblingsrestaurant zu reservieren", plapperte ich drauflos.

Jess runzelte ihre Stirn, nachdem ich diese Aussage getätigt hatte.

„In unserem Lieblingsrestaurant?"

„Ähm, ja. Ich dachte, wir könnten heute mal wieder essen gehen."

Mein Grinsen wurde breiter, als ich ihren Gesichtsausdruck bemerkte. „Du dachtest echt, ich hätte vergessen, dass wir uns heute vor einem Jahr im Internet kennengelernt haben?", schmiss ich ihr lachend an den Kopf.

„Oh, Niall, du bist einfach..., mir fehlen die Worte. Und ja, ich dachte für einen Augenblick wirklich, dass es dir entfallen sei", gab sie ehrlich zu.

„Da habe ich ja nochmal Glück gehabt, dass mein Gedächtnis mich nicht im Stich lässt, hm?"

Als Jess sich an mich schmiegte und einen Kuss auf meine Wange drückte, musste ich schon wieder grinsen. Es war einfach zu süß, wie leicht sie sich von mir auf den Arm nehmen ließ. Doch Gott sei Dank nahm sie mir das nicht übel.

An diesem Abend suchten wir ein Restaurant in jenem Bezirk auf, in dem ich wohnte. Jess und ich waren schon öfter dort gewesen und hatten immer vorzüglich gespeist. Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb wir ausgerechnet dieses Lokal bevorzugten. Vielmehr spielte die Tatsache, dass man dort als Prominenter seiner Ruhe hatte, eine nicht gerade unerhebliche Rolle.

Ich wollte diesen Abend ohne Störungen mit meiner Freundin verbringen. Paparazzi verirrten sich nie hierher und auch keine Fans. Wir speisten in angenehmer Atmosphäre und gönnten uns sogar einen Nachtisch.

„Jetzt, da ich wieder trainiere, kann ich mir das auch erlauben", meinte Jess, als sie das Eis in sich hineinschaufelte, als seien morgen alle Vorräte an Eiscreme auf der ganzen Welt restlos aufgebraucht.

Ich tat es ihr gleich und auch mein Gewissen war rein, denn seit dem Beginn unserer Pause hatte ich nicht wirklich an Gewicht zugelegt. Immerhin stattete ich Mark Jarvis, unserem Fitnesstrainer, regelmäßig einen Besuch ab, bei welchem er mich stets durch die Mangel drehte. So gesehen hatte ich gar keine Chance, fett zu werden. Mehr als ein halbes Jahr unserer Auszeit war schon vorbei, daran merkte ich, wie schnell die Zeit verging. Dies wurde mir in den nächsten Tagen und Wochen jedoch immer bewusster.

Auch das nächste Wochenende verging wie im Flug, zumal Jess und ich dieses in Irland verbrachten. Wir konnten sogar noch einige Tage dranhängen, da Fiona sich ebenfalls einen Kurzurlaub gönnte. Aber die kleine Unterbrechung schadete Jess nicht, im Gegenteil. Sie begleitete mich jeden Morgen beim Joggen durch Mullingar und hielt super gut mit, was das Tempo und die Ausdauer angingen. Das galt auch für den abendlichen Bierkonsum im Pub, wo ich meine Jugendfreunde traf.

Wir verbrachten einige schöne Tage in Irland, im Kreise meiner Familie und meinen engsten Freunden. Theo klebte ständig an uns, doch Jess liebte den Kleinen total und nahm ihn so oft es ging auf ihren Schoß. Das Abschiednehmen fiel uns dann auch ziemlich schwer, aber es musste sein, denn in London warteten neue Herausforderungen auf uns. Mehr auf Jess, als auf mich, da One Direction sich immer noch in ihrer Pause befanden.

Jeden Tag begleitete ich sie zum Training und nach wie vor konnte ich mich nicht an ihren Fortschritten und den grazilen Bewegungen satt sehen. Jess wirkte wie eine kleine Prinzessin, die über dem Boden schwebte, wenn sie mit all ihrer Hingabe Ballett tanzte.

Manchmal fragte ich mich selbst, wie es dazu gekommen war, dass das Ballett mich so begeisterte. Aber die Antwort darauf lag klar auf der Hand. Jess gewährte mir einen tiefen Einblick in ihre Welt, die unsagbar schön war. Ihre Begeisterung für diesen Sport steckte mich einfach an, so, wie ich sie mit meiner Musik ansteckte.

Seit wir uns in London zum ersten Mal persönlich begegnet waren, hörte Jess sämtliche Alben von One Direction rauf und runter. So sehr sie früher Boy Bands verabscheute, so sehr mochte sie unsere Band jetzt. Auf der einen Seite war es natürlich schade, dass wir in diesem Jahr keine Konzerte gaben, aber auf der anderen Seite hatte ich somit mehr Zeit für Jess und das Ballett.

Mehr als einmal durchblätterte ich ihre Zeitschriften, welche sie nun regelmäßig las und sogar abonniert hatte. Dance, Pointe und Ballet2000 befanden sich nun stets in meinem Briefkasten und somit bekam auch ich die Chance, mich in das Thema einzulesen. Die Konkurrenz war hart, wie im Musikbusiness, und jede noch so kleine Verletzung konnte eine Tänzerin ihre nächste Hauptrolle kosten.

Mit wie vielen psychischen Ängsten musste Jess täglich zu kämpfen haben? Furcht, über die sie nicht redete, sondern einfach hinunterschluckte. Je tiefer ich einen Einblick bekam, desto besser wurde mir klar, dass ich noch viel Arbeit haben würde. Ich musste Jess nach wie vor psychisch aufbauen, es reichte nicht, dass sie im Training Fortschritte machte. Sie brauchte einfach jemanden, der ihr immer wieder Mut zusprach.

Fiona zeigte sich sehr zufrieden, auch an diesem Tag. Sie lobte Jess, auch wenn sie hin und wieder ihre Haltung korrigierte. Aber das schien durchaus normal zu sein, denn Roger wurde ebenso verbessert.

Obwohl ich mich inzwischen daran gewöhnt hatte, dass Jess mit einem Mann trainierte, machte sich trotzdem ein komisches Gefühl in mir breit, sobald er sie anfasste. Manchmal hätte ich ihm gerne auf die Finger geschlagen, aber das war amateurhaft und würde im Zweifel zu meinem Rauswurf führen, was ich keinesfalls riskieren wollte. Als das heutige Training sich dem Ende zuneigte, schickte Fiona sich an, etwas zu sagen.

„Jess, du wirst vielleicht jetzt überrascht sein, aber ich habe für das morgige Training einen speziellen Gast eingeladen."

Ich konnte sehen, wie Jess schluckte. „Wen denn?", fragte sie.

„Matthew O'Brien."

Es herrschte eine unheimliche Stille im Raum und hätte ich nicht regelmäßig meine Nase in die Ballettzeitschriften gesteckt, wüsste ich nicht, was dies bedeutete. So atmete ich jedoch erstmal tief durch. Bei Matthew O'Brien handelte es sich um einen Trainer, aber nicht irgendeinen, sondern um den Cheftrainer des Royal Ballet in London. Es war eine ziemlich große Sache, wenn er sich die Ehre gab. Und er kannte Jess. Sie hatte vor ihrem Unfall einen Vertrag für das Royal Ballet unterschrieben.

„Oh Gott, Matthew kommt hierher? Fiona, das..., ich bin doch noch lange nicht gut genug..."

„Das wird er entscheiden, nicht du."

Es waren Fionas letzte Worte, bevor sie sich von uns verabschiedete. Nun hatte ich eine aufgeregte Jess zu betreuen, die nicht fassen konnte, was morgen auf sie zukommen würde. Ich tat mein Bestes, um sie an diesem Abend zu beruhigen, und wie durch ein Wunder gelang es mir sogar. Vielleicht spielte die Tatsache, dass ich ihr irgendwann nach dem Abendessen heimlich einen kleinen Schuss Whiskey in die Cola kippte, eine Rolle, denn sie wurde nämlich ziemlich schnell müde und schlief bis zum nächsten Morgen durch.

Um auf keinen Fall zu spät zu kommen, fuhren wir sogar früher los, denn Jess war total aufgeregt. In der Ballettschule angekommen, rannte sie in die Umkleide, während ich wie üblich meinen Platz im Raum einnahm.

Roger und Fiona begrüßten mich schon wie einen guten Freund und als ich mich gerade umdrehte, betrat ein Mann, den ich auf Anfang vierzig schätzte, den Saal. Das musste O'Brien sein, ich hatte ihn bereits auf Fotos gesehen. Er schritt direkt auf Fiona und Roger zu und musterte mich erst, als Fiona mich heranwinkte.

„Das ist Niall, Jess' Freund. Er schaut immer beim Training zu und ist ihr eine wichtige Stütze", erklärte sie freundlich.

„Nun, wenn das so ist, dann sollte Niall hierbleiben", meinte O'Brien grinsend, dessen Lässigkeit mir durchaus gefiel.

Sekunden später tauchte Jess im Raum auf.

„Hallo Matthew", begrüßte sie den Trainer.

„Hallo Jess, wie geht es dir?"

„Ganz gut, danke."

„Fein, dann lass uns anfangen. Lass dich von meiner Anwesenheit nicht stören, ich bin heute nur Gast, ok?"

Natürlich wollte er sie damit beruhigen, aber es klappte nicht so ganz, zumal Jess wusste, was für sie auf dem Spiel stand. Aber notfalls würde sie einfach noch länger mit Fiona trainieren müssen. So sah ich das Ganze.

Ich spürte ihre Nervosität aber gleichzeitig diesen eisernen Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie war voll konzentriert, schaute nicht einmal zur Seite, um sich vielleicht ablenken zu lassen, und meisterte das Training besser als erwartet. Viel besser, um genauer zu sein, wie wir alle gleich erfahren sollten.

„Nun, Jess, es hat mich gefreut, dich wieder zu sehen und es würde mich noch mehr freuen, wenn du morgen beim Training in der Royal Ballet erscheinst. Es beginnt wie üblich um neun."

Ich konnte sehen, wie ihre Augen sich vor Freude mit Tränen füllten.

„Ist das denn Ernst?", fragte sie atemlos.

„Mein voller Ernst, ich scherze bei so etwas nie", entgegnete Matthew O'Brien lächelnd. „Also bis morgen dann, und Niall kann ruhig mitkommen."

„Ich kann es nicht fassen", sagte Jess immer wieder, als wir uns auf dem Heimweg befanden. „Ich freue mich total! Weißt du, was das bedeutet, Niall?"

„So ungefähr, ich lese nicht umsonst deine ganzen Ballettzeitschriften", erwiderte ich grinsend. „Ich weiß sehr wohl, dass dieser Typ bestimmt, wer die Hauptrollen tanzen darf."

Damit machte ich Jess zunächst sprachlos, bevor sie tief durchatmete um dann zu sagen: „Sein Training ist kein Zuckerschlecken, es ist hart und unbarmherzig, aber ich werde alles versuchen, um sein Wohlwollen zu erlangen."

„Das klingt ganz nach Kampfgeist", erwiderte ich erfreut. „Du schaffst das, Jess."

„Weißt du, es geht nicht nur darum, von ihm trainiert zu werden, Niall. Er hat ein Auge für die Talente und er sucht diese sehr präzise aus."

„So, wie er dich schon einmal ausgesucht hat?"

„Ja." Jess wurde für einen Moment still, dann flüsterte sie: „Und ich hoffe, er gibt mir nochmal eine Chance."

Beruhigend legte ich eine Hand auf ihren Arm. „Das wird schon, Jess."

Ihr Lächeln, welches sie mir schenkte, erfüllte mein Herz.

„Danke für alles, Niall. Du hilfst mir so unglaublich, ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen sollte."

Als ihre zarten Finger sanft über meinen Handrücken streichelten, sagte ich leise: „So etwas tut man, wenn man jemanden liebt."

Das Training bei Matthew war ganz und gar anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Er teilte die Tänzer gleich zu Beginn in zwei Gruppen auf, eine größere und eine kleinere. Jess landete in der kleineren Gruppe, was mich irgendwie nicht verwunderte. Vermutlich konnte Matthew sich dort besser auf den Einzelnen konzentrieren.

Ich sah, wie Jess nach wenigen Minuten der Schweiß auf der Stirn stand, aber ich bemerkte auch, dass sie voll in diesem Training aufging, noch mehr als bei Fiona. Sicher war es anstrengender, aber ich konnte ihre Hingabe sehen. Sie war dafür geboren, daran bestand kein Zweifel. Doch Jess zweifelte oftmals an sich selbst. Sie ging kritisch mit ihren Leistungen um und war fast nie zufrieden.

Fortan begleitete ich sie nicht mehr jeden Tag zum Training, sondern brachte sie oftmals nur hin und hing dann bei Harry ab. Es war wichtig für Jess, dass sie gewisse Dinge alleine auf die Reihe bekam, und dazu zählte auch das Absolvieren des Trainings.

Für mich war es ebenso wichtig, Zeit für die Musik zu haben. Harry und ich begannen an neuen Songs zu arbeiten, was unheimlich Spaß machte. Ich hatte noch nie alleine mit ihm geschrieben, sondern immer nur in kollektiver Zusammenarbeit mit Liam und Louis. Aber warum sollten wir es nicht einfach mal ausprobieren?

Es klappte sehr gut, um nicht zu sagen perfekt, denn Harry war echt ein As, was Songtexte anging. Ich spielte dazu auf meiner Gitarre und steuerte den Text des Refrains bei.

„Das klingt cool, Niall", meinte er und grinste spitzbübisch drein.

„Cool, weil es versaut ist, oder cool, weil es einfach nur cool ist?", meinte ich grinsend.

„Beides, es ist cool und versaut. Unseren Fans wird es auf jeden Fall gefallen, da bin ich mir sicher."

Die Fans. Sie warteten geduldig auf das Ende unserer Pause. Den genauen Zeitpunkt unserer Rückkehr hatten wir uns offengelassen, doch ich wusste, dass Harry genauso darauf brannte, wieder auf der Bühne zu stehen wie ich. Anfangs hatten wir einen Zeitraum von achtzehn Monaten vorgesehen, dieser war dann jedoch auf fünfzehn geschrumpft, und jetzt war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob wir es so lange durchhalten würden, oder ob aus den fünfzehn Monaten vielleicht nicht doch nur zwölf werden würden.

Natürlich bedeutete dies nicht, dass wir sofort im Januar auf Tour gehen konnten, denn wir mussten zunächst wieder proben. Und das schafften wir garantiert nicht in vier Wochen. Ich rechnete mir aus, dass sich dies nicht vor März in die Tat umsetzen ließ.

„Niall, träumst du?" Harrys Stimme holte mich zurück in die Realität.

„Sorry, ich war gerade in Gedanken", murmelte ich.

„Das habe ich gemerkt", grinste er. „Jess befindet sich immer in deinem Kopf, stimmt's?" Seine grünen Augen blickten zu mir.

„Ja, das tut sie", seufzte ich mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen.

Harry tätschelte kurz meine Hand. „Du bist so süß, wenn du verliebt bist, Nialler."

Unsere Bromance war eindeutig die Beste.

Es war unglaublich, wie die Zeit verrann. Eben stand noch der Sommer vor der Tür und nun brach bereits der Herbst an. Harry und ich hatten inzwischen drei Songs zusammen geschrieben, aber am heutigen Tag begleitete ich Jess mal wieder zum Training.

Ich war lange nicht mehr zugegen gewesen, doch Matthew begrüßte mich sogleich freundlich, bevor ich meinen Platz im oberen Bereich, auf der Zuschauerplattform einnahm. Staunend beobachtete ich, welche Fortschritte Jess gemacht hatte. Diese waren wirklich enorm und trotzdem ging sie noch immer kritisch mit sich und ihren Leistungen um. Bis zu dem Moment, als Matthew sie nach dem Training zur Seite nahm. Da sich außer uns niemand mehr in der Halle aufhielt, winkte er mich ebenfalls herbei.

„Dein Freund kann ruhig mithören, Jess", begann er seine Rede. „Ich habe heute eine Entscheidung getroffen."

Unsere Augen richteten sich automatisch auf ihn, während Jess nach meiner Hand tastete.

„Es kann so nicht weitergehen."

Mein Herz sank in die Hose und ich spürte, wie ihre Hand zu zittern begann. Hoffentlich waren es keine schlechten Nachrichten.

„Es kann so nicht weitergehen, dass eine talentierte Tänzerin wie du, weiterhin in der Menge untergeht. Deshalb habe ich beschlossen, dass du die Zweitbesetzung für die Hauptrolle in Schwanensee sein wirst."

„Oh mein Gott!" Jess schlug die Hände vors Gesicht. „Danke! Das ist... ich weiß nicht, was ich sagen soll, Matthew!" Freudentränen glitzerten in ihren Augen.

„Am besten gar nichts. Dein Training beginnt morgen um neun in der kleinen Halle. Sei bitte pünktlich."

Nachdem wir uns von Mathew verabschiedet hatten, liefen wir zu meinem Wagen.

„Ich kann es nicht glauben! Weißt du, was das bedeutet, Niall? Ich habe immer noch die Chance auf die Hauptrolle, denn wenn die Tänzerin, die dafür vorgesehen ist, seinen Erwartungen nicht gerecht wird, kann er sie einfach austauschen."

„Das bedeutet Konkurrenzkampf ohne Ende", stellte ich nüchtern fest.

„Ja, aber so ist das nun mal", seufzte Jess, in deren Augen noch immer Freudentränen glänzten. „Also werde ich mein Bestes geben."

„Das tust du doch immer", sagte ich lächelnd.

Binnen Sekunden sah ich es ganz klar vor mir: Sie würde kämpfen bis zum Schluss und alles aus sich herausholen. Meine Aufgabe war es nun, ihr bei diesem Kampf zur Seite zu stehen, damit sie die letzte, wichtige Hürde nehmen konnte. Denn Jess würde nur vollends glücklich sein, wenn sie an der Spitze stand. Dies war ihr vorherbestimmt, und der Inhalt ihres Lebens.

An diesem Abend widmete ich mich ihren vom Training zerschundenen Füßen. Sie hatte es mir vorher prophezeit, dass dies irgendwann eintreten würde, aber die blutigen Zehen mit eigenen Augen zu sehen, war dann doch eine harte Nummer.

Ich ließ ihr ein Kamille-Fußbad in einer großen Plastikschüssel ein und brachte diese ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa sitzend, stellte Jess ihre Füße in das warme Bad und seufzte: „Danke, Niall. Das ist echt lieb von dir."

Als ich meinen Platz neben ihr einnahm, lehnte sie sich zu mir und hauchte einen Kuss auf meine Wange.

„Du bist echt der beste Freund, den man sich nur wünschen kann."

„Das will ich doch hoffen. Tut es eigentlich sehr weh?", erkundigte ich mich mit einem Blick in das Kamille-Bad.

„Es geht, aber bis morgen habe ich das schon wieder vergessen. Wir Tänzerinnen sind in dieser Hinsicht abgehärtet, verstehst du? Irgendwann bildet sich genügend Hornhaut und dann kommt das nur noch selten vor."

Nachdenklich betrachtete ich meine Hände. „Du meinst, so wie bei meinen Fingerkuppen, wenn ich Gitarre spiele?"

„Ja, so in etwa."

Als die das aussprach, lachte sie, griff nach meinen Händen, zog diese zu ihrem Gesicht und begann meine Finger sanft und zärtlich zu küssen. Dies war der Moment, in dem ich mir wünschte, die Zeit einfach anhalten zu können, für immer.

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Kein Cliffhanger zum Abschluss, das freut euch doch, oder?

Ich habe jetzt über 90k reads erreicht, das ist Wahnsinn! Danke an alle, die immer eifrig lesen, voten und kommentieren! Ich hab euch total lieb! :)

LG, Ambi xxx




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