50. Wonderment

Jess

„Möchten sie Anzeige erstatten, Miss?"

Ich konnte nicht glauben, dass wir auf einem Polizeirevier in Miami Beach saßen und eine Aussage machen mussten. Dies war jedoch nicht das Schlimmste, sondern die Tatsache, dass der Typ, der mich im Club einfach so begrapscht hatte, im Büro nebenan mit einem Polizeibeamten saß, um ebenfalls vernommen zu werden.

Niall und ich schauten uns kurz an, dann antwortete ich: „Was passiert denn, wenn ich ja sage?"

Der ältere Polizist lehnte sich gemütlich in seinem Sessel zurück und drehte einen Kugelschreiber in seinen Händen, bevor er antwortete: „Hören Sie, Miss. Ihr Freund hat diesen Typen geschlagen, weil er Ihnen an die Wäsche wollte. Wenn Sie eine Anzeige erstatten, wird er dies vermutlich ebenso tun. Aber wenn Sie davon absehen, können wir ihn wahrscheinlich davon überzeugen, das Gleiche zu tun. Denn die Strafen in Amerika, wenn man eine Frau in der Öffentlichkeit sexuell belästigt, sind nicht gerade nett."

Wieder schaute ich zu Niall, der laut seufzte.

„Es tut mir echt leid, dass ich so ausgetickt bin, aber..."

„Kein Problem, Sir. Ich hätte vermutlich ebenso reagiert, wenn es meine Frau gewesen wäre", gab der Polizist zu, was Niall nun leicht schmunzeln ließ.

Jetzt war er es, der sich entspannt auf dem Stuhl zurücklehnte.

„Verkaufen Sie dem Typen das so. Wenn er keine Anzeige gegen mich erstattet, dann sieht meine Freundin ebenfalls von einer Anzeige ab."

Das breite Grinsen des Polizeibeamten ließ uns wissen, dass seine Gedanken in die gleiche Richtung flossen. Schmunzelnd griff er zu seinem Telefon, um seinen Kollegen im Nachbarbüro anzurufen. Durch die Glasscheiben konnten wir beobachten, was sich dort abspielte. Der Beamte am anderen Ende der Leitung nickte geflissentlich und wandte sich dann seinem Gegenüber zu; jenem Typen, der mich im Club unsittlich am Po berührte.

Ich war so stolz auf Niall, dass er diesem Ekelpaket gezeigt hatte, wo es lang ging und, dass er mein Freund war. Eigentlich konnte ich Schlägereien nichts abgewinnen, aber in diesem Fall schien es unerlässlich gewesen zu sein. Das Ekelpaket nickte nun ebenfalls, wobei sein Gesicht ziemlich eingeschüchtert wirkte.

„Sieht so aus, als hätten wir gewonnen", meinte Niall lässig.

„Zumindest in dieser Hinsicht", warf der Polizeibeamte ein. „Aber ich würde an Ihrer Stelle keinen Blick in die Klatschblätter riskieren, sonst bekommen Sie vermutlich einen Herzinfarkt, Mr Horan."

Natürlich, die Klatschblätter würden alles breittreten, das war selbst mir klar, aber uns blieb nichts anderes übrig, als diese Dinge auf uns zukommen zu lassen. In der nächsten Sekunde klingelte das Telefon und der Polizist nahm umgehend das Gespräch entgegen.

„Ok, dann ist ja alles in Ordnung", hörte ich ihn sagen.

Gleich darauf beendete er das Telefonat und wandte sich an uns.

„Sie können dann gehen. Es hat sich alles erledigt."

Nialls Satz ließ mich wissen, was uns draußen, auf den Straßen erwartete: „Haben Sie hier so etwas wie einen Hinterausgang?"

„Es gibt einen direkten Zugang zu unserem Hof, der führt nach hinten raus."

Der Polizeibeamte seufzte. „Normalerweise dürften wir das ja nicht tun, aber in Ihrem Fall ist wohl Gefahr im Verzug, also kann ich es rechtfertigen."

Was er damit meinte, sollten wir alsbald sehen.

Es dauerte etwa zehn Minuten, bis wir in einem Polizeiwagen saßen, welcher im Hof parkte. Das Fahrzeug wies im hinteren Bereich abgedunkelte Scheiben auf. Zu unserem Glück, musste ich sagen, denn kaum fuhren wir auf die Straße, sah ich die Bescherung. Ein Pulk von Paparazzi und Fans hatten vor dem Revier Stellung bezogen. Sie warteten nur darauf, dass Niall und ich dort herauskommen würden, doch wir machten ihnen einen Strich durch die Rechnung.

Ungesehen fuhren wir geradewegs an allen vorbei, denn keiner rechnete damit, dass wir in einem Polizeifahrzeug saßen. Somit wurden wir auch nicht verfolgt, was mich erleichtert aufatmen ließ. Auch Niall wirkte zumindest für diesen Moment entspannt. Doch er griff nach meiner Hand und ließ diese erst los, als der Polizeiwagen vor unserem gemieteten Ferienhaus parkte. Mittlerweile war es vier Uhr früh, nicht mehr lange, und die Sonne würde aufgehen.

„Danke, dass Sie uns zuhause abgeliefert haben", verabschiedete Niall sich von den beiden Polizisten und auch ich murmelte ein „Dankeschön."

Zwei Minuten später saßen wir auf dem Sofa im Wohnbereich und atmeten erstmal tief durch.

„Das war es dann mit unserem Versteckspiel", meinte Niall, als er auf seinem Handy herumscrollte. „Twitter läuft gerade Amok, am besten, du liest es nicht, jedenfalls nicht heute."

Sanft streichelte ich über seinen Arm. „Und das alles nur, weil du mich beschützen wolltest."

Dann hauchte ich ihm einen Kuss auf den Mund. Gleichzeitig spürte ich seine Hände an meinen Hüften und ehe ich mich versah, zog Niall mich auf seinen Schoß. Es kam mir vor wie ein kleines Wunder, als ich mit gespreizten Beinen auf ihm saß, seine Hüften unter mir. Ich hatte keine Schmerzen im Knie, obwohl ich es in dieser Position zwangsläufig beugen musste. Alles fühlte sich perfekt an, Nialls Erektion, die ich sehr deutlich spüren konnte, mit eingeschlossen.

Seine Hände umfassten mein Gesicht und er begann mich gierig zu küssen. Als ich den Kuss leidenschaftlich erwiderte, wanderten seine Hände unaufhaltsam zum Saum meines Minikleids, zogen dieses hastig über meinen Kopf, bevor seine Lippen meinen Hals berührten. Es fühlte sich an, als würde ich verglühen, so heiß und lodernd.

„Scheiß auf die Paparazzi, scheiß auf Twitter, ich will nur dich", vernahm ich sein heiseres Flüstern, was einen wohligen Schauer in mir auslöste.

Ich dachte genauso wie er. Wir hatten Urlaub, es war egal, wann und ob wir überhaupt schliefen. Wir konnten tun und lassen, was wir wollten und wir liebten uns so sehr, dass es ganz natürlich war, unsere Zuneigung auf diese Art und Weise zu zeigen.

Heute schafften wir es nicht bis ins Bett, die Kleidungsstücke lagen verstreut auf dem Boden im Wohnbereich, das Sofa musste herhalten, und zum ersten Mal seit dem Beginn unserer Beziehung befand ich mich oben. Lächelnd blickte ich auf meinen Freund hinab.

„So, Horan, heute gebe ich den Takt an", flüsterte ich Niall zu, dessen halbgeöffnete Augen unsagbar sexy wirkten. Es war ein grandioses Gefühl, ihn in und unter mir zu spüren.

„Dann mach mal, ich ergebe mich", wisperte er mit rauer Stimme, begleitet durch sein freches Grinsen, das ich so sehr liebte.

Unsere Liebe war leidenschaftlich, unkontrolliert und forderte alles. Ich konnte förmlich spüren, dass wir uns beide immer mehr dem Gipfel näherten

„Jess..." Niall stöhnte meinen Namen, was mich unglaublich anmachte. Mit geschlossenen Augen genoss ich den Rhythmus, der uns beide schließlich gemeinsam über eine Klippe springen ließ.

Ich fühlte mich so gut, wie schon lange nicht mehr, als wir später total fertig und nach Atem ringend nebeneinander auf dem Sofa lagen.

„Das war..., wow...", wisperte Niall mir ins Ohr. „Du kannst richtig toll reiten."

Ein Grinsen zierte meine Lippen. „Das wird noch besser, wenn ich erst wieder mit dem Ballett anfange", ließ ich ihn siegessicher wissen und legte meinen Kopf auf seine Brust.

Die ersten Sonnenstrahlen fanden bereits ihren Weg durch die Jalousien, als wir auf dem Sofa einschliefen.

Dementsprechend spät standen wir am nächsten Tag auf, um genau zu sein war es Mittag, als wir uns erhoben, um Duschen zu gehen. Anschließend bereitete Niall das Frühstück, bestehend aus Rühreiern, Speck und Toast zu, während ich den Tisch auf der Terrasse deckte.

Wir hatten gestern wirklich wahnsinniges Glück gehabt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Paparazzi sich an unsere Fersen geheftet hätten. Dann wäre unser Urlaub gelaufen gewesen, jedenfalls an diesem Ort. Aber wir sollten zumindest in der Nähe des Ferienhauses von nervigen Menschen verschont bleiben.

Immerhin wusste niemand, dass Niall Horan und seine Freundin sich dort aufhielten. Das war das Positive an der Sache; der negative Aspekt bestand aus den wirklich schlimmen Schlagzeilen. Da sich jeden Morgen diverse Zeitungen im großen Briefkasten des Hauses befanden (die Vermieter bestellten diese wohl nicht ab), bekamen wir nun reichlich Lesestoff.

„Droht Niall Horan das Gefängnis?", las mein Freund laut und deutlich vor.

„Gib mal her!" Mit einer schnellen Bewegung hatte ich ihm die Zeitung aus der Hand gerissen und ließ meine Augen über den Text wandern.

Niall Horan, Mitglied von One Direction, die sich derzeit noch in ihrer Pause befinden, wurde gestern Nacht in einem Club in Miami Beach festgenommen, als er sich eine Schlägerei mit einem Gast lieferte. Auslöser der Geschichte soll laut Augenzeugen eine junge Frau gewesen sein, die von besagtem Gast unsittlich berührt wurde. Ob es sich dabei um Horans Freundin handelt, ist noch unklar. Fest steht nur, dass die beiden gemeinsam von der Polizei in Gewahrsam genommen wurden. Es bleibt abzuwarten, wie die Sache ausgeht. Da One Direction im Moment unter keinem Managementvertrag stehen, wird Horan vermutlich seine privaten Anwälte einschalten müssen, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen.

„Na super", entfuhr es mir, während Niall nur mit den Schultern zuckte.

„Ich bin Kummer gewöhnt", meinte er lässig und schob sich den Stuhl am Tisch zurecht, um dann einen Blick auf sein Handy zu werfen.

Nun wirkte sein Gesichtsausdruck nicht mehr ganz so entspannt, wie noch vor einigen Sekunden.

„Mist", stieß er hervor. „Twitter ist gründlicher als die Zeitungen. Sie haben herausgefunden, wer du bist."

„Na und? Ich brauche meinen Twitter Account nicht zwingend, ich kann ihn auch löschen", schlug ich vor.

„Wenn es nicht besser wird, solltest du das tun."

Fortan ignorierte ich die Twitter Meldungen und Niall tat das Gleiche. Somit verbrachten wir trotz der Vorkommnisse im Club eine wunderschöne Zeit in Miami Beach. Zwar blieb der Presse meine Identität nicht auf ewig verborgen, doch damit rechneten wir ohnehin. So lange sie unseren genauen Aufenthaltsort nicht kannten, konnten wir damit umgehen. Allerdings war mir durchaus bewusst, dass man uns in London möglicherweise auf Schritt und Tritt verfolgen würde.

Die Tage vergingen viel zu schnell, wie jeder Urlaub, und mir stand nun die nächste Herausforderung bevor, als wir nach Hause zurückkehrten. Das erste Training in meiner alten Ballettschule, in London.

Selbstverständlich begleitete Niall mich dorthin, aber ich wollte zumindest beim allerersten Mal, wenn ich wieder meine Ballettschuhe anzog, alleine sein. Andererseits brachte ich es nicht übers Herz, ihn wegzuschicken. Zwei Seelen kämpften unentwegt in meiner Brust, als wir gemeinsam das Gebäude betraten. Doch wie so oft, hatte ich Niall unterschätzt.

Als wir vor der Tür zum Übungsraum standen, nahm er kurz meine Hand.

„Ich denke, du solltest beim ersten Mal alleine sein. Ich störe da nur", meinte er.

Mein Herz machte einen großen Satz. Er lebte wirklich in meiner Seele, zumindest was diese Dinge betraf.

„Also ich", stotterte ich unbeholfen, wurde aber von ihm unterbrochen.

„Es ist ok, Jess. Du kannst das alleine durchziehen. Ich hole dich in einer Stunde wieder ab, ok?"

Als er einen Kuss auf meine Stirn hauchte, fühlte ich ein Flattern in meiner Bauchgegend, gleichzeitig wurde mir leicht ums Herz. Meine Lippen trafen sanft auf seine, ließen ihn wissen, dass ich ihn vermissen würde, aber dies wirklich alleine hinter mich bringen wollte.

„Danke für dein Verständnis", flüsterte ich ihm ins Ohr.

„Bis später, Prinzessin, du schaffst das schon."

Er drehte sich um und weg war er.

Ein tiefes Durchatmen und ich drückte die Türklinke nach unten. Als ich den Raum betrat, richteten sich zwei Augenpaare auf mich, eines davon gehörte meiner ehemaligen Ballettlehrerin, das andere einem Tänzer. Ich schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er trug enganliegende Strumpfhosen, so wie sie beim Ballett üblich waren. Gott Sei Dank war Niall jetzt nicht hier, denn ich wusste nicht, wie er darauf reagiert hätte.

„Jess, es ist so schön, dich zu sehen!"

Fiona, meine Ballettlehrerin umarmte mich und verteilte zwei Küsschen auf meine Wangen. Sie hatte sich seit unserem letzten Zusammentreffen vor einem Jahr kaum verändert. „Wir werden heute nur ganz locker trainieren, zieh dich erstmal in Ruhe um", forderte sie mich freundlich auf.

Es fühlte sich merkwürdig an, die Umkleide aufzusuchen und noch viel surrealer, in die Kleidung zu schlüpfen, welche ich früher täglich getragen hatte. Gott sei Dank dehnten sich die Sachen ein wenig, denn ich hatte im Urlaub ein bisschen zugenommen.

Vor Freude und Aufregung zitternd, steckte ich meine Füße in die Ballettschuhe. Das Gefühl, als ich die Bänder um meine Fußgelenke schlang, ließ mich vor Freude beinahe weinen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich jemals wieder imstande sein würde, so etwas zu tun, zu erleben, wie es war, über dem Boden zu schweben. Ein tiefes Dankbarkeitsgefühl stieg in meinem Innersten auf und im gleichen Augenblick fühlte ich mich schuldig.

Ich verdankte Niall alles und ließ ihn nicht an diesem einzigartigen Moment teilhaben. Nur weil ich dachte, dass ich es vielleicht vermasseln könnte. Aber wer würde mich besser trösten können als er, wenn dies wirklich geschehen sollte? Bei ihm konnte ich mich immer fallen lassen; er hielt meine Seele in seinen Händen. Es gab keinen Ort, an dem sie sicherer aufgehoben war. Zwei Sekunden später fummelte ich mit Tränen in den Augen, mein Handy aus der Tasche, um meinen Freund anzurufen.

„Niall?"

„Alles in Ordnung, Prinzessin?" Seine Stimme klang besorgt.

„Nein, ich möchte, dass du kommst. Ich will, dass du siehst, wie ich trainiere", schniefte ich ins Telefon.

„Bist du dir sicher, Jess?"

„Ja, ich bin mir nie sicherer gewesen." Meine Stimme wurde Gott sei Dank wieder ein wenig fester. „Also Schwing deinen süßen, irischen Hintern hierher. Ich warte so lange."

Nialls Lachen drang bis zu meinem Herzen vor.

„Ich bin schon unterwegs, keine Sorge, ich war nur im Zeitungsladen um die Ecke."

Erleichtert atmete ich auf, als ich das Handy wieder in die Tasche gleiten ließ. Wenn es jemanden gab, der es verdiente, Zeuge meiner ersten Trainingsstunde zu sein, dann war er das.

Mit klopfendem Herzen betrat ich schließlich den Übungsraum, nachdem ich meine langen Haare zu einem Knoten zusammengesteckt hatte. Fionas Augen richteten sich erneut auf mich. Ihr aufmunterndes Lächeln gab mir Kraft. Dies mochte sich zwar seltsam anhören, doch es entsprach der Wahrheit.

„Jess, das ist Roger. Er wird heute nur zuschauen, aber in den kommenden Tagen mit dir trainieren, doch nun wärmen wir uns erstmal auf."

Ich nickte, setzte mich auf den Boden und lockerte meine ausgestreckten Beine ein wenig, bevor ich mit den Dehnübungen begann. Es war nichts, was ich nicht auch in der Physiotherapie absolviert hatte. Somit hatte ich damit keine Probleme.

„Ok, Jess, ich denke, du kannst jetzt loslegen." Fiona schaute mich aufmunternd an, doch ich war noch nicht soweit, nicht ohne Niall.

„Fiona, könnten wir noch einen Moment warten? Mein Freund müsste gleich hier sein und ich möchte, dass er dabei zuschaut."

Meine Worte klangen entschlossen, was sie zu bemerken und vor allem zu verstehen schien.

„Sicher, ein paar Minuten sind schon drin." Sie nickte mir freundlich zu und lächelte.

Da klopfte es auch schon an der Tür und Sekunden später streckte Niall seinen Kopf hinein.

„Bin ich zu spät?"

„Nein, nein, komm ruhig herein. Wir fangen nicht ohne dich an", erklärte Fiona schmunzelnd.

Als Nialls und meine Blicke sich trafen, begann mein Herz zu rasen. Seine blauen Augen schienen auf den Grund meiner Seele zu blicken, zu wissen, dass ich ihn brauchte, jetzt und hier.

Ich atmete tief durch, bevor ich zu den Haltestangen an der Wand schritt, um meine Hand darauf zu legen. Wissend, dass Nialls Blick auf mir ruhte, fand ich mein inneres Gleichgewicht und die Sicherheit, die ich benötigte, um den nächsten Schritt auszuführen. Langsam und unendlich vorsichtig stellte ich mich auf die Zehenspitzen.

Das Blut pulsierte durch meine Adern und ließ mich sofort in diesen Rausch verfallen, dessen Einzigartigkeit ich nur beim Balletttanzen spürte. Als die ersten Takte der Musik einsetzten, verlor ich mich in einer anderen Welt.

Man verlernte es nicht, zumindest nicht die Basis. Ich spürte nur, dass meine Bewegungen nicht so akkurat wie früher wirkten, aber in jenem Augenblick tat dies nichts zur Sache. Ich tanzte, und das war das Wichtigste von allem. Mein Herz flatterte aufgeregt bei jeder Drehung, bei jedem Schritt, doch ich hatte mich nie lebendiger gefühlt. Es war ein neuer Anfang, ein Geschenk, mein Lebenstraum.

Als die Musik stoppte, kehrte ich abrupt in die Wirklichkeit zurück. Drei Augenpaare starrten mich an, so als ob sie nicht glauben würden, was sie sahen. Sofort formte sich ein Kloß in meiner Kehle. War ich so schlecht gewesen?

Erst als alle drei zu applaudieren begannen, realisierte ich, dass das Gegenteil der Fall war.

„Jess, das war großartig!", lobte Fiona und auch Roger zeigte mit den Daumen nach oben.

Am schönsten war jedoch Nialls Reaktion. Er strahlte über das ganze Gesicht und ich glaubte kleine Tränen in seinen blauen Augen glitzern zu sehen; Glückstränen, nichts anderes.

„Wirklich?" Noch immer etwas unsicher blickte ich zu Fiona, die jedoch zufrieden nickte.

„Es wird zwar noch eine Weile dauern, bis du wieder auf dem alten Stand bist, aber wir kriegen das gemeinsam hin."

Solche Worte aus ihrem Mund zu hören, bedeutete alles für mich. Aber Nialls Blicke waren in jenem Moment das Wertvollste, was ich mir vorstellen konnte. Seine Augen tasteten jeden Zentimeter meines Körpers ab, aber sie fanden ebenfalls ihren Weg zu meiner Seele. Er schien haargenau zu spüren, was sich gerade in meinem Inneren abspielte.

Glück, Unsicherheit, Freude und Zweifel verbanden sich zu einer merkwürdigen Kombination. Würde ich es wirklich schaffen, wieder zur alten Form aufzulaufen? Ich wollte es so sehr, es gab nichts, was ich mir mehr wünschte, und doch regte sich in meinem Herzen die Befürchtung, dass es nicht klappen könnte.

„Ok, Jess, nochmal von vorne", holte mich Fionas Stimme aus meinen Gedanken.

Sie war schon immer eine perfekte Trainerin gewesen, die wirklich alles aus ihren Schülern herausholte.

Nach einer Stunde hatte ich es geschafft; mein erstes Training nach der OP. Niall lief mit schnellen Schritten auf mich zu, als ich schwer atmend einfach nur dastand und noch immer nicht begriff, dass ich wieder tanzte.

„Hey, Prinzessin, du warst spitze!" Er hauchte mir einen Kuss auf die Wange und umfasste meine Taille mit seinen Händen.

„Ich bin vor allem eines, total fertig und ausgepowert", gab ich ehrlich zu. „Morgen werde ich bestimmt Muskelkater haben."

„Das macht nichts, das gehört dazu", erwiderte er grinsend.

Als Fiona auf uns zukam, lächelte sie breit.

„Also, Jess, das war für den Anfang eine super Leistung. Du solltest dich nicht so unter Stress setzen, ok? Du schaffst das und morgen trainieren wir wieder."

Nialls Blick fiel nun auf Roger. „Wird er auch wieder dabei sein?", fragte er mit einem nicht zu deutenden Gesichtsausdruck.

„Nicht nur das, er wird mit Jess tanzen, zumindest ein paar Minuten", entgegnete Fiona fröhlich.

„Nun denn, das kann ich wohl nicht verhindern", seufzte mein Freund. „Aber wehe, er fasst dich unsittlich an."

Sein Grinsen ließ mich wissen, dass er nur Spaß machte, deshalb antwortete ich vergnügt: „Ereilt ihn dann das gleiche Schicksal, wie den Typen in Miami Beach?", worauf Niall zu lachen begann.

„Lass es nicht darauf ankommen", wisperte er mir ins Ohr.

An diesem Abend redeten wir noch lange über mein erstes Training, als wir nach dem Essen gemütlich auf dem Sofa saßen.

„Ich hatte richtig Gänsehaut, als du dich auf die Zehenspitzen gestellt hast", gab Niall zu.

„Wirklich? Warum denn das?"

„Weil es sich für mich toll angefühlt hat, dich so zu sehen. Du bist dazu geboren, Jess, und das merkt man."

Ja, ich war für das Ballett geboren, ich hatte dies nie verleugnet und doch schien es nun klarer zu sein als jemals zuvor. Meine Zukunft lag nicht mehr im Dunkeln, zumindest nicht gänzlich. Selbst wenn ich nicht mehr ganz an meine alte Form herankommen sollte, blieb immer noch die Alternative als Tänzerin in einer Gruppe. Damit verdiente man zwar nicht ganz so viel, aber das war mir egal. Hauptsache Ballett, denn darin fand ich meinen Seelenfrieden, was Niall sehr wohl erkannte.

„Kommst du morgen wieder mit zum Training?", erkundigte ich mich hoffnungsvoll.

Ich wollte ihn unbedingt wieder dabei haben, er war so eine wichtige Stütze.

„Also wenn es dir nichts ausmacht, dass ich mich vielleicht irgendwann auf diesen Typen in Strumpfhosen stürzen werde, dann sage ich zu", zog Niall mich auf.

Prompt musste ich lachen.

„Ok, wenn er mich wirklich unsittlich berührt, darfst du ihn k.o. schlagen, ok?", lautete meine Antwort.

„Deal?"

„Deal!"

Wir schlugen ein, wie beim Kuhhandel, und konnten dabei nicht aufhören zu kichern.

Ich war ein komplett anderer Mensch, als noch vor einigen Monaten. Es gab keinen Grund mehr Trübsal zu blasen, denn alles hatte sich zum Guten gewendet. Einem inneren Reflex folgend, legte ich meine Arme um Niall und presste meinen Körper fest an seinen. Es tat so gut, seine Umarmung zu spüren, den Duft seines Aftershaves aufzunehmen und einfach zu wissen, dass er komplett hinter mir stand. Dass er es gewesen war, der mich aus diesem Tief herausholte, und dass er es war, den ich liebte.

Jeder Tag wurde zu einer neuen Herausforderung für mich, doch mit Niall an meiner Seite, schaffte ich das spielend. Ich ertrug selbst die Fotos in der Klatschpresse, welche man von uns geschossen hatte, als wir die Ballettschule betraten. Auf die Paparazzi war echt Verlass. Sie würden in den nächsten Wochen ganz sicher nicht von unserer Seite weichen. Aber das war eben der Preis, wenn man mit einem Prominenten eine Beziehung einging.

Wie versprochen, begleitete Niall mich auch am nächsten Tag zum Training. Er winkte den Paparazzi sogar zu, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihr Lager aufgeschlagen hatten. Doch wir ließen uns nicht beirren, sondern betraten einfach das Gebäude, ohne uns weiter um die ungebetenen Gäste zu kümmern.

Während Niall später brav am Rand des Saals saß, absolvierte ich zunächst meine Dehnübungen, bevor ich erneut den Tanz auf Spitzenschuhen wagte. Meinen Muskelkater ignorierend, drehte ich sogar eine kleine Pirouette, worauf alle wieder klatschten. Dann forderte Fiona Roger auf, mit mir zusammen einige Figuren zu versuchen, zumindest die einfachen. Es war wichtig, gleich wieder voll ins Training zu kommen, denn sollte ich wieder auf einer großen Bühne stehen, und die Hauptrolle tanzen, wurde dies auf jeden Fall verlangt.

Im ersten Augenblick kam es mir komisch vor, die Hände eines fremden Mannes an meiner Taille zu spüren, doch ich ließ es mir nicht anmerken. Er war nur mein Tanzpartner, mehr nicht, und dies musste Niall sich ebenfalls eingestehen.

Natürlich klappte es gerade am Anfang nicht perfekt, was die Figuren betraf, aber es wurde mit der Zeit besser. Selbst Fiona musste das zugeben, obwohl sie eher zu den strengen Trainerinnen zählte. Ihren wachsamen Augen entging nicht der kleinste Fehler und sie korrigierte mich sofort.

„Du musst dich konzentrieren, Jess, und versuchen total abzuschalten", lauteten ihre Worte. „Also bitte nochmal von vorne!"

Insgesamt wiederholten wir eine der Übungen sechs Mal, bis Fiona zufrieden strahlte.

„So ist es besser, darauf können wir aufbauen", sagte sie.

Das Training dauerte heute eineinhalb Stunden, die übliche Zeit. Gestern war wohl der Tag, an welchem ich noch Schonfrist eingeräumt bekam.

„Wir sehen uns dann morgen wieder, Jess", verabschiedete sie sich lächelnd von mir, als ich total verschwitzt und keuchend auf dem Boden lag.

Von der Anmut einer Ballerina konnte man in diesem Augenblick nicht viel spüren, doch das wurde am Ende des Trainings auch nicht verlangt. Die Hand, die sich mir entgegenstreckte, gehörte keinem Geringeren als Niall, der mir mit dieser Geste auf die Beine half.

„Ich bin beeindruckt, Jess", meinte er grinsend.

Als Belohnung bekam ich einen Kuss auf die Wange gedrückt.

„Ich muss duschen", seufzte ich laut. „Und dann können wir zusammen nach Hause fahren."

„Irrtum, meine Liebe, wir gehen dann essen", überraschte er mich schmunzelnd. „Denn das hast du dir verdient."

Eine Stunde später trafen wir im Restaurant ein, in welchem Niall einen Tisch reserviert hatte. Zu meinem Erstaunen war dieser jedoch mit vier Gedecken versehen.

„Erwartest du noch jemanden?", fragte ich argwöhnisch in seine Richtung schauend.

„Lass dich überraschen", bekam ich zur Antwort, worauf ich eine Schnute zog.

Eigentlich wäre ich viel lieber mit ihm alleine gewesen und ich hoffte nicht, dass es sich um nervige Gäste handelte, die nun mit uns zusammen speisen würden. Aber so cool wie Niall sich gab, sollte es eigentlich ein entspannter Abend werden.

„Können wir schon etwas zu trinken bestellen? Ich bin am Verdursten!", seufzte ich.

„Na klar, ich nämlich auch."

Sogleich winkte Niall den Kellner herbei, der einstweilen unsere Getränkewünsche notierte und diese auch binnen kürzester Zeit an den Tisch brachte. Obwohl ich direkt nach dem Training eine Flasche Wasser getrunken hatte, fühlte sich meine Kehle bereits wieder trocken an und mein Körper lechzte geradezu nach einem Erfrischungsgetränk, vorzugweise Wasser mit ein wenig Kohlensäure versetzt. Dankbar nahm ich dieses entgegen, als Niall das Glas vollschenkte, um es dann an mich zu reichen.

„Hier, Jess, das hast du dir verdient."

„Das hoffe ich doch."

Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er sagte: „James wäre stolz auf dich, wenn er sehen würde, wie toll es mit deinem Training klappt. Ach, was rede ich da, der ganze FC Chelsea wäre vermutlich aus dem Häuschen."

Ich nahm noch einen Schluck aus dem Wasserglas und lächelte in mich hinein. Als ich das Glas wieder abstellen wollte, ging mein Blick zufällig in Richtung Eingang. Die beiden Menschen, die nun von einem Kellner an unseren Tisch geführt wurden, kannte ich nur allzu gut. Anne und Harry.

Was hatte das nun schon wieder zu bedeuten? Es war nicht so, dass ich mich nicht freute, die beiden zu sehen, doch meiner Ansicht nach wäre es nicht verkehrt gewesen, ein wenig Klarheit in die Beziehung zu bringen, zumindest den besten Freunden gegenüber.

„Schön, dass ihr kommen konntet", begrüßte Niall die zwei und umarmte zunächst Anne, dann Harry, bevor letzterer mich in den Arm nahm.

„Na, Jess, warum schaust du so verdrießlich?", meinte er augenzwinkernd.

„Ich schaue nicht verdrießlich, ich wundere mich nur, weshalb meine beste Freundin", - mein Blick fiel fast schon strafend auf Anne -, „es nicht für nötig hält, mir zu sagen, dass sie sich in London aufhält."

„Süße, ich bin erst seit gestern Abend hier, außerdem habe ich Urlaub", versuchte Anne sich rauszureden, was jedoch nicht gut funktionierte, denn ich sagte sofort: „Dann hättest du gestern Abend schon Bescheid geben können, oder wart ihr so beschäftigt, eure Körperflüssigkeiten auszutauschen?"

Mein beleidigter Unterton entging wohl keinem, auch Harry nicht, der nun zum Reden ansetzte. „Warum denken eigentlich alle von mir, dass ich ein Aufreißer bin?"

„Das habe ich nicht gesagt, immerhin besteht ja die Möglichkeit, dass ihr beiden euch ineinander verliebt habt und dann hätte es mit Aufreißen nichts mehr zu tun", entgegnete ich mit einem Blick auf Niall, der beharrlich schwieg.

Er wusste mehr als ich, das wurde mir gerade klar, und es machte mich fast schon ein wenig wütend. Warum spielte jeder dieses Versteckspiel mit mir? Was war denn so schlimm daran, dass ich es nicht wissen durfte?

„Ok, ihr habt euch ineinander verknallt und seid jetzt zusammen. Gebt es endlich zu, sonst raste ich noch aus", murmelte ich.

Nun war es Anne, die redete. „Nein, so ist es nicht, Jess. Es ist anders."

Meine innere Anspannung wuchs ins Unermessliche und als Anne die nächsten Sätze sprach, klappte meine Kinnlade vor Überraschung nach unten.

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Ich hoffe nicht, dass Wattpad heute wieder spinnt und das Kapitel nicht anzeigt oder euch nicht werten lässt, so wie gestern. ^^ Auf jeden Fall würde ich mich über Votes und Kommentare freuen, wenn es euch gefallen hat. Sorry, aber es endet schon wieder mit einem kleinen Cliffhanger. Aber hey, bald kommt ihr dem Geheimnis von Anne und Harry auf die Spur :)

LG, Ambi xxx




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