44. Clouded

Jess

Man konnte eine Stecknadel im Raum fallen hören, so still war es in jenem Moment. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, gleichzeitig drückte ich Nialls Hand so fest, dass ich selbst das Gefühl bekam, ich würde seine Finger brechen.

„Nun, Miss Meyers, die schlechte Nachricht ist, dass ich nochmals eine kurze Untersuchung in Form eines MRTs bei Ihnen durchführen werde. Die gute Nachricht ist, dass dies sofort geschieht und wir nachher gemeinsam über das Ergebnis sprechen werden."

Erleichterung machte sich in mir breit. Eigentlich hatte ich etwas Schlimmes befürchtet, doch mit einem MRT konnte ich durchaus leben. Es tat nicht weh und ich brauchte auch keine Narkose für diese Art der Untersuchung. Auch Niall atmete erleichtert auf, vor allem als er mein mittlerweile entspanntes Gesicht sah. Ich lächelte ihm kurz zu, bevor ich mich erneut auf die Worte des Arztes konzentrierte.

„Sie werden gleich in den zweiten Stock gebracht. Dort wird das MRT gemacht und anschließend kommen Sie wieder zu mir. Mr Horan darf Sie natürlich begleiten."

Dr. Steadmans aufmunterndes Lächeln bewirkte, dass ich kurz aufatmete.

„Wir sehen uns also in Kürze", verabschiedete er sich dann von uns.

Der Begriff in Kürze erstreckte sich über fast vierzig Minuten, da das MRT eine gewisse Zeit in Anspruch nahm. Meine innere Anspannung nahm wieder zu, sobald wir uns Dr. Steadmans Büro nach der Untersuchung näherten. Jetzt kam die Stunde der Wahrheit.

„Oh Gott, mir ist so schlecht", flüsterte ich Niall zu, der beruhigend meine Hand streichelte, als wir da saßen und der Doktor sich das Ergebnis anschaute.

„Also, es ist so, wie ich es mir gedacht habe", begann er und schaute mich jetzt an.

Meine Kehle wurde trocken und mein Herz hämmerte unkontrolliert in der Brust.

„Muss ich..., muss ich operiert werden?", brachte ich mühsam hervor.

Er seufzte kurz. „Es gibt auch hier wieder eine gute und eine schlechte Nachricht. Ich nehme an, Sie möchten die schlechte zuerst hören."

Alles was ich tun konnte, war nicken.

„Sie werden nicht um eine OP herumkommen, Miss Meyers, das ist Fakt."

Ich hatte es schon lange geahnt, aber immer erfolgreich verdrängt. Der Gedanke, wieder ins Krankenhaus einrücken zu müssen, lag mir schwer im Magen. Und vielleicht würde danach alles noch viel schlimmer werden. Ich konnte beispielsweise bleibende Schäden zurückbehalten, die es mir vielleicht nicht einmal mehr erlauben würden, normal zu gehen.

„Und was ist die gute Nachricht?", hörte ich Niall plötzlich fragen, der noch immer meine Hand hielt und meinen negativen Gedankenstrom damit durchbrach.

Dr. Steadman blinzelte kurz, bevor er die nächsten Worte aussprach, die mich völlig außer Fassung brachten.

„Ihr Knie wird danach wieder vollkommen in Ordnung sein."

Es brauchte einige Sekunden, bevor ich den Sinn dieser Mitteilung erfasste.

„Vollkommen?", fragte ich sicherheitshalber nach.

„Ja."

Er wühlte kurz in den Papierunterlagen, um dann mit seiner Erklärung fortzufahren.

„Ich habe gelesen, Sie waren Balletttänzerin."

„Ja, das stimmt." Der Kloß in meiner Kehle wuchs zu einem Felsbrocken heran. „Die Ärzte in London haben mir gesagt, dass ich nie wieder tanzen kann", sagte ich leise.

„So?" Dr. Steadman zog seine Augenbrauen ein wenig nach oben. „Ich vergaß, in Europa ist man noch nicht soweit, eine Knorpelabsplitterung vollends korrigieren zu können, aber Sie sollten wissen, dass dies mein Spezialgebiet ist."

Das Blut pulsierte immer heftiger durch meine Adern. Unfähig, einen Ton von mir zu geben, starrte ich den Arzt an, dessen nächste Worte meine Welt komplett auf den Kopf stellten.

„Wenn ich Sie operiere, Miss Meyers, stehen die Chancen, dass Sie danach wieder tanzen können, neunundneunzig zu eins. Das heißt, von hundert Operationen, gelingt eine nicht. Und das wollen wir in Ihrem Fall nicht annehmen."

„Oh mein Gott", keuchte ich.

Tränen rannen unaufhaltsam meine Wangen hinab. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Auch Niall schien vollkommen überrascht zu sein, denn es hatte ihm ebenfalls die Sprache verschlagen, was sehr selten vorkam.

Da saßen wir nun zu zweit vor dem Doktor, und keiner von uns machte Anstalten irgendetwas von sich zu geben. Wir schienen beide in eine Art Schock verfallen zu sein, was Dr. Steadman glücklicherweise zu verstehen vermochte.

„Ich weiß, das ist jetzt vermutlich eine Aussage, mit der Sie nicht gerechnet haben", meinte er, und unterbrach damit die Stille im Raum. „Aber es entspricht der Wahrheit. Ich beschönige nie etwas, wenn es um Operationen geht. Sie, Mr Horan, können das sicher bestätigen."

Als Niall nickte, schaute ich zu ihm. Sein Gesichtsausdruck wirkte in gewisser Weise erleichtert, so, als ob eine tonnenschwere Last von seinem Herzen gefallen wäre. In jenem Moment konnte ich fühlen, wie sehr er sich für mich freute.

„Das ist so krass", sagte er plötzlich. „Und die beste Nachricht seit langem. Jess, du wirst wieder tanzen! Hast du das kapiert?"

Seine blauen Augen glänzten vor Freude, doch in meinem Hinterkopf befand sich das eine Prozent der Operationen, das schief laufen konnte. Was, wenn es ausgerechnet bei mir geschah? Pessimismus war nicht unbedingt eine Eigenschaft, die ich mochte, doch die vielen, schlimmen Erlebnisse in meiner Vergangenheit hatten mich gelehrt, vorsichtig zu sein und gegebenenfalls mit schlechten, unvorhersehbaren Dingen zu rechnen.

„Ich glaube, Ihre Freundin muss das erstmal verdauen, Mr Horan", erklärte Dr. Steadman ruhig, bevor er sich wieder an mich wandte. „Miss Meyers, ihre OP ist unumgänglich, das möchte ich noch einmal betonen. Es liegt allerdings bei Ihnen, von wem und wo Sie sich operieren lassen möchten. Ich würde diese OP gerne durchführen, schon alleine, um Ihnen den Traum vom Tanzen wieder erfüllen zu können. Glauben Sie mir, es gibt viele Spitzensportler, die ich operiert habe, Fußballspieler zum Beispiel. Alle konnten danach wieder dem Tagesgeschäft, nämlich ihrem Sport, nachgehen."

Der Sinn dieser Worte begann langsam aber sicher in mich einzudringen. Ich würde wieder tanzen, vorausgesetzt, die Operation glückte. Die Chancen dafür standen jedoch mehr als hervorragend, wenn man die Quote in Betracht zog, welche der Arzt genannt hatte. Warum zum Teufel musste ich noch überlegen? Darauf gab es nur eine Antwort. Ich war zu perplex, als dass ich es hätte in jenem Augenblick entscheiden können. Mein weiteres Leben hing schließlich davon ab.

„Sie müssen das nicht gleich entscheiden, Miss Meyers", vernahm ich Dr. Steadmans ruhige Stimme. „Schlafen Sie eine Nacht darüber und rufen Sie mich morgen an. Mr Horan hat ja die Nummer."

Fünf Minuten später saß ich noch immer wie betäubt in Nialls Auto, der durch die belebte Straßen fuhr. Hin wieder warf er mir einen Blick zu, sprach jedoch kein Wort. Erst als wir vor einer Shopping Mall parkten, sagte er etwas.

„Ich glaube, ich brauche jetzt erstmal einen Kaffee, wie sieht es mit dir aus?"

„Keine Einwände", erwiderte ich sofort.

Hand in Hand liefen wir auf das riesige Gebäude zu. In den USA zeichneten sich sämtliche Dinge durch ihre überdimensionale Größe aus, ob es dabei um einen Supermarkt oder ein Einkaufszentrum handelte, spielte keine Rolle. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Dieser Spruch gewann für mich seit heute einen tieferen Sinn.

Vor nicht ganz einer Stunde hatte Dr. Steadman mir das Tor zu einer Welt geöffnet, die ich längst verloren glaubte. Je länger ich darüber nachdachte, umso absurder wurde es für mich. Wir lebten doch alle auf dem gleichen Planeten. Wie konnte es sein, dass die Entfernung von siebentausendfünfhundert Meilen Luftlinie, den weiteren Verlauf eines Lebens, in diesem Fall, meinem, ausmachte?

„Es ist unfassbar", murmelte ich, als ich meinen Milchkaffee umrührte.

„Ich weiß."

Niall streichelte mit seinen Fingern über meine Hand.

„Freust du dich denn nicht? Wenigstens ein bisschen?"

Als ich in seine blauen Augen schaute, wurde ich von so vielen Gefühlen überwältigt, wie schon lange nicht mehr. Eine tiefe Dankbarkeit stieg in mir auf. Ohne Niall würde ich jetzt nicht hier sitzen, ohne ihn wäre mein Leben noch immer trist und einsam. Wie viel Liebe musste er für mich empfinden, um all diese Dinge mit mir durchzustehen? Es war seine Freizeit, die er dafür opferte und es würde nicht bei diesen sechs Tagen bleiben. Durfte ich ihm das überhaupt zumuten?

Zwei Seelen kämpften in meiner Brust. Fakt war, dass ich es ohne ihn mental vermutlich gar nicht schaffen würde. Er war so eine große Stütze für mich, wie niemand sonst in meinem Leben. Keiner konnte mir diese Kraft und Ruhe geben, welche er ausstrahlte, wann immer ich diese benötigte. Niemand verstand mich besser als er.

„Doch..., es... es kam nur so plötzlich, verstehst du? Ich war nicht darauf vorbereitet", versuchte ich zu erklären.

Seine Antwort war ein stummes Nicken, gefolgt von einem aufmunternden Lächeln.

„Es ist so, als ob dich jemand ins kalte Wasser geworfen hat, richtig?", meinte er.

„Ja, so in etwa. Ich kann das gar nicht beschreiben. Ich meine, du denkst, dein Leben verläuft anders, als du es eigentlich geplant hattest, freundest dich mit diesem Gedanken an und dann kommt wie aus dem Nichts jemand daher, der dir sagt, dass alles wieder wie früher sein könnte", sprudelte es aus mir hervor.

Nialls Lächeln sagte mir, dass er jede einzelne meiner Gefühlsregungen verstand. Es bedurfte keine große Erklärung meinerseits, um ihm einen Blick in meine Seele zu gewähren. Er lebte sozusagen darin. So war es auch nicht verwunderlich, dass er nicht erschrak, als ich plötzlich, ohne Vorwarnung, in Tränen ausbrach. Zu viele heftige Emotionen hatten sich binnen kürzester Zeit in meinem Innersten angestaut, und genau diese suchten nun ihren Weg nach draußen.

Da es sich jedoch um Freudentränen handelte und nicht um Tränen der Trauer, konnten wir beide relativ gut damit umgehen. Niall reichte mir ein Taschentuch und streichelte beruhigend meine Hand. Sein Blick wirkte sanft und irgendwie total glücklich. Er freute sich so sehr für mich, dass ich dies förmlich spüren konnte.

„Ich kann's nicht fassen", schluchzte ich leise. „Vielleicht wirst du mich eines Tages doch tanzen sehen."

„Immer positiv denken, ich werde dich eines Tages tanzen sehen, davon bin ich überzeugt", kam es von ihm.

Selbst durch den Tränenschleier nahm ich seine vor Freude glänzenden Augen wahr. Obwohl es mir noch immer schwer fiel, Dr. Steadmans Äußerung bezüglich meiner OP zu begreifen, fühlte ich, wie auch mein Herz und meine Seele langsam aber sicher von dieser immensen Glückseligkeit erfasst wurden. Ballett war mein Leben gewesen, ein Leben, das mir gestohlen wurde. Doch nun schien es, als könnte ich dieses wieder zurück erhalten. Es befand sich in greifbarer Nähe, ich musste nur dieser OP zustimmen, mehr nicht.

Trotzdem traf ich die Entscheidung, eine Nacht darüber zu schlafen. Niall respektierte dies ohne mich vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Er konnte durchaus verstehen, dass ich zunächst meine Gedanken sammeln wollte, bevor ich ein Urteil fällte. Somit fiel unsere gemeinsame Nacht ein wenig anders aus, als die vorherigen. Ich kuschelte mich in seinen Arm und lag, den Kopf auf seine Brust gebettet, ganz still da, um in mich hineinzuhorchen.

Niall hielt mich fest, er startete nicht einmal den Versuch, mit mir schlafen zu wollen. Es war unbeschreiblich, wie gut er mich kannte und wie tief unsere Seelen miteinander verknüpft zu sein schienen. Früher spürte ich das mit jeder Zeile, die er mir schrieb, heute einfach nur durch seine Gesten. Und wieder musste ich daran denken, was geschehen wäre, wenn wir uns niemals kennengelernt hätten. Gott sei Dank sah das Schicksal es an jenem Tag, an dem ich mich bei der E-Mail Adresse vertippte, anders vor.

Ich lag noch eine ganze Weile wach, bevor mir endgültig die Augen zufielen und ein traumloser Schlaf mich gefangen nahm.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, durchzog ein einziger Gedanke meinen Kopf. Ich wollte diese OP wagen, denn ich hatte absolut nichts zu verlieren.

„Niall?"

„Hm", murmelte er verschlafen, mit geschlossenen Augen.

Das sah so verführerisch aus, dass ich ihn einfach küssen musste, worauf sich ein schelmisches Grinsen in seinem Gesicht bildete. Sein Protest, als ich den Kuss unterbrach, erfolgte ohne Verzögerung.

„Ach komm schon, Jess, es fühlt sich so gut an, wenn du mich küsst. Mach einfach weiter", wisperte er und blinzelte leicht.

„Nein, ich kann dich gerade nicht küssen, weil ich dir sagen muss, wie meine Entscheidung ausgefallen ist", erklärte ich ernst.

Sofort setzte Niall sich im Bett auf und schaute in meine Augen.

„Und wie ist sie ausgefallen?"

„Gut, also ich meine, zu Gunsten Dr. Steadmans Vorschlag. Ich werde mich von ihm operieren lassen."

„Das ist das Beste, was du tun kannst, glaub mir!" Niall jubelte fast, die Euphorie in seiner Stimme kam deutlich hervor.

„Du kannst ihn also sofort anrufen", fuhr ich lächelnd fort.

Bevor mein Freund dies tat, versanken wir allerdings zuerst in einem endlosen, gefühlvollen Kuss, der so heiß war, dass sich eine Gänsehaut auf meinem Rücken bildete. Wie schaffte Niall das bloß immer?

Das Telefonat zwischen den beiden, oder besser gesagt, zwischen uns drei (Niall schaltete auf Lautsprecher um), verlief nennenswerte Probleme. Dr. Steadman erklärte, dass ich einen Vertrag zugeschickt bekommen würde, indem sämtliche Risiken nochmals erläutert wurden, sowie eine eingehende Beschreibung der OP dargelegt wurde.

„Falls Sie noch Fragen haben sollten, Miss Meyers, scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen", ließ er mich wissen. „Oh, und wir könnten selbstverständlich sofort einem Termin für die Operation festlegen, wenn Sie das möchten."

„Wann passt es denn in Ihren Terminplan?", stellte Niall die Frage.

Ich wusste, dass er vor der großen Pause von One Direction noch einige Termine zu absolvieren hatte.

„Also Anfang März würde perfekt passen."

„Bei Jess und mir auch", antwortete Niall sofort.

Das waren noch fast zwei Monate bis dahin, aber mir was lieber, Niall an meiner Seite zu haben, als das alles alleine durchzustehen.

„Ok, dann machen wir das fest. Ich trage den ersten März als OP Termin ein. Sie müssten allerdings einen Tag früher ins Krankenhaus einrücken, Miss Meyers. Wir müssen vorher Blut abnehmen und sie auf die OP vorbereiten."

„Das ist kein Problem", erklärte ich mit klopfendem Herzen.

Plötzlich kam ich meinem Ziel immer näher. Mit jeder Stunde, mit jedem Tag, rückte dieses immer mehr in meine Gedanken.

Der Rückflug nach London, welchen wir am selben Abend noch antraten, zog sich zunächst wie Kaugummi dahin. Alles in mir wurde von einer immensen Ungeduld erfasst. Ich musste mit meinen Eltern darüber reden, ich wollte es am liebsten gleich tun, doch während des Fluges ging das wohl eher schlecht. So sehr Niall versuchte, mich abzulenken, an diesem Abend funktionierte es gar nicht.

Erst nachdem wir das Abendessen hineingeschaufelt hatten, wurde ich etwas ruhiger, um nicht zu sagen müde. Da wir die komplette Nacht hindurch flogen, schien es auch angebracht zu sein, einige Stunden zu schlafen. Zum ersten Mal seit langer Zeit schlich sich das Ballett wieder in einen nächtlichen Traum, der allerdings damit endete, dass ich beim Tanzen auf dem Boden landete, weil mein Knie wegknickte. Ich erschrak dermaßen, dass ich aus dem bequemen Liegesitz des Learjets hochfuhr, worauf Niall prompt erwachte.

„Was ist denn?", murmelte er verschlafen, seinen halbgeöffneten Augen auf mich gerichtet.

„Ich hab geträumt."

„Aber es war nichts Gutes, oder?"

Seufzend erzählte ich, was sich gerade in meinem Traum abgespielt hatte, worauf er nur sagte: „Dein Unterbewusstsein hat eben damit zu kämpfen, dass nicht alles glatt laufen könnte. Mach dir keinen Kopf, Jess, das geht irgendwann vorüber. Spätestens nachdem die OP erfolgreich verlaufen ist."

„Deinen Optimismus hätte ich gerne", meinte ich und versuchte, mich in seine Arme zu kuscheln, was nicht so ganz einfach war, da Niall sich total in seine Decke eingemummelt hatte. Schließlich schafften wir beide es doch, eng aneinandergepresst die restliche halbe Stunde bis zur Landung zu verbringen. Dann allerdings mussten wir uns aufsetzen, aber wir hielten weiterhin unsere Hände, bis der Jet die Landebahn erreichte.

In London angekommen, marschierten wir sofort zum Parkhaus. Von dort aus ging es direkt zu meinen Eltern. Ich konnte es kaum erwarten, ihnen von Dr. Steadmans Worten zu berichten und rutschte dementsprechend unruhig auf dem Beifahrersitz hin und her. Niall ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Er steuerte den großen Range Rover wie immer gelassen durch die Straßen, bis wir endlich meinen Heimatort erreichten.

Da es Samstag war, befanden sich meine Eltern auch zuhause. Sie begrüßten uns freudestrahlend und lächelten noch viel mehr, nachdem sie vom Ausgang meiner Untersuchung, sowie der anstehenden OP hörten.

„Das ist toll, Jess!" Meine Mutter und auch mein Vater freuten sich so sehr für mich, dass ich fast schon den Tränen nahe war. So viele unterschiedliche Gefühle wie in den letzten achtundvierzig Stunden hatte ich schon lange nicht mehr verspürt.

Natürlich trafen wir uns abends mit Anne, die sich wahnsinnig für mich freute. Immer wieder umarmte sie mich, als wir nebeneinander in der Pizzeria saßen, und drückte mir einen Kuss auf die Wange.

„Danke, Niall, das du mit meiner besten Freundin zu deinem Wunderheiler geflogen bist", lauteten ihre Worte an meinen Freund.

Niall und ich blieben bis Sonntag bei meinen Eltern, dann fuhren wir zu seinem Haus.

„Was denkst du, wie lange es dauert, bis ich die Unterlagen von Amerika bekomme?", erkundigte ich mich, als wir den Flur betraten.

„Das geht in der Regel sehr schnell. Also bei mir war das zumindest so. Ich glaube, länger als eine Woche hat es nicht gedauert."

Diese Aussage machte mir Hoffnung und veranlasste mich dazu, jeden Tag zum Briefkasten zu laufen, um nach der Post zu schauen. Nach fünf erfolglosen Versuchen fischte ich am sechsten Tag einen großen Umschlag aus dem Briefkasten. Als ich auf den Empfänger schaute, entdeckte ich meinen Namen. Mit schnellen Schritten lief ich zum Haus zurück, um die Post dort zu öffnen.

Zu diesem Zweck ließ ich mich auf dem großen Sofa nieder. Da ich alleine im Haus war (Niall war schnell zum Supermarkt gefahren, da wir beim Einkauf etwas vergessen hatten), konnte ich in aller Ruhe lesen. Ich verstand die Erklärungen bezüglich der Operation recht gut, zumal sogar Bilder beigefügt waren, wie das Knie von Innen aussah. Dr. Steadmans Kompetenz beeindruckte mich immer mehr und ich hatte bereits jetzt ein gutes Gefühl. Warum sollte es auch nicht klappen?

Auch der Fragebogen nach Allergien, sowie Vorerkrankungen zeichnete sich durch eine leicht verständliche Formulierung aus. Alles wirkte so patientengerecht, was mir durchaus gefiel. Man bekam nicht das Gefühl, nur eine Nummer, oder einer von Vielen zu sein, sondern eben ein ganz persönlicher Schützling des Arztes. Die letzten beiden Seiten des Papierstapels beinhalteten den Vertrag, einschließlich der Operationskosten.

Als ich diese jedoch erblickte, begann mein Herz zu rasen. Woher sollte ich, oder besser gesagt meine Eltern, siebzigtausend US Dollar hernehmen? Das waren umgerechnet circa siebenundvierzigtausend Pfund. Dadurch, dass meine Eltern das Badezimmer hatten komplett neu sanieren lassen, und außerdem im letzten Jahr ziemlich viele andere Arztrechnungen, welche die Versicherungen nicht bezahlen wollten, beglichen hatten, herrschte in der Familienkasse absolute Ebbe.

Wir würden auch nicht so ohne weiteres einen Kredit bekommen, da der Bungalow noch nicht schuldenfrei frei war. Ich hatte nicht mit derart hohen Kosten gerechnet und mir auch nicht wirklich Gedanken darüber gemacht, so lange wir in Denver verweilten. Meine Euphorie verbat mir geradezu solche Überlegungen anzustellen. Nun wurde ich von einer zur anderen Sekunde in die brutale Realität zurückgeholt. Was hatte ich eigentlich erwartet? Dr. Steadman behandelte fast ausschließlich Prominente, die sich natürlich solch eine OP ohne Probleme leisten konnten.

Als ich das Geräusch der sich öffnenden Haustür vernahm, zuckte ich zusammen. Niall. Gleich würde er vor mir stehen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an, als er wenige Augenblicke später vor mir stand.

„Jess, was hast du denn?"

Selbst mein Gesichtsausruck verriet, dass etwas nicht stimmte, na toll!

„Ähm, das Schreiben von Dr. Steadman ist gekommen", würgte ich schließlich hervor.

Seine blauen Augen musterten mich gründlich. „Und?"

„Ich kann die OP vergessen, sie ist viel zu teuer", erwiderte ich leise, wobei ich versuchte meine Tränen zurückzuhalten.

„Was kostet sie denn?"

„Siebzigtausend US Dollar."

Niall setzte sich zu mir auf das Sofa. „Und wo ist jetzt das Problem?", fragte er erstaunt.

„Ich habe nicht so viel Geld und meine Eltern ebenfalls nicht!", schmetterte ich ihm entgegen.

Seine Antwort darauf haute mich fast aus den Schuhen. „Willst du mich eigentlich verarschen, Jess? Ich bezahle deine OP, das war von Anfang an klar."

„Bitte?! Dir war das vielleicht klar, aber mir nicht! Ich kann dein Geld nicht annehmen, Niall. Jedenfalls nicht diese Summe, begreifst du das denn nicht? Es..., wir sind nicht verheiratet, verstehst du?"

Er wurde nun auch ein wenig lauter, weil ich meine Stimme ebenfalls erhoben hatte.
„Was hat denn das damit zu tun? Ich liebe dich und ich werde diese OP bezahlen, basta!"

„Nein, das wirst du nicht!", drohte ich.

„Sag mir einen Grund, warum ich es nicht tun sollte!?"

Tränen brannten in meinen Augen, als ich leise hervorbrachte: „Weil ich dich zu sehr liebe."

Ich wusste, dass er es nicht verstehen würde, zumindest nicht im Moment, ganz sicher aber irgendwann später. So gesehen überraschte mich seine Reaktion nicht. Niall erhob sich vom Sofa, griff nach den Autoschlüsseln und marschierte ohne ein Wort zu sagen zum Ausgang.

Als die Tür hinter ihm krachend ins Schloss fiel, zuckte ich für den Bruchteil einer Sekunde zusammen. Jetzt hatte ich einen guten Grund, meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Und nicht nur das. Als ich an diesem Abend zu Bett ging, war Niall noch nicht wieder aufgetaucht und als ich am nächsten Morgen erwachte, um durch das leere Haus zu schleichen, fehlte von ihm ebenfalls jede Spur.

Wo um Himmels Willen hatte er die letzte Nacht verbracht? Mein Herz begann zu rasen, während ich nach meinem Handy griff, um ihn anzurufen. Nach dem dritten Klingeln meldete sich die Mailbox.

„Scheiße", schluchzte ich leise und sank auf dem Sofa zusammen.

Warum nur musste ich gerade an Lucy denken?

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Oh oh, ob das wohl Stress gibt? Was denkt ihr, wo Niall seine Nacht verbracht hat? Und könnt ihr nachvollziehen, dass Jess sein Geld nicht annehmen will?

Vielen Dank für die 30K reads, das ist unglaublich!

LG, Ambi xxx






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