40. Drowning
Jess
Die Zeit bis zum Sonntag raste nur so dahin. Seit ich die Karten für das Ballettstück im Internet erworben hatte, dachte ich an nichts anderes mehr. Es war so unglaublich wichtig für mich, zu testen, wie ich in der Zwischenzeit damit umgehen konnte, dass ich nie wieder auf einer Bühne stehen und tanzen würde. Sicherlich grenzte dieses Vorhaben schon ein wenig an Selbstverletzung, aber meine masochistische Ader befahl mir geradezu, dies zu tun. Ich musste es herausfinden und ich würde es nur auf diese Art und Weise können.
Dass Niall sich an meiner Seite befand, machte es leichter. Ich fühlte mich sicher, wenn er bei mir war und sollte ich in Tränen ausbrechen, würde er mich auffangen; zumindest sinnbildlich gesprochen. Er war derjenige, dem ich am meisten vertraute und der genau wusste, was in mir vorging. Insgeheim bereitete ich mich auf den seelischen Schmerz vor, der mich sicher ereilen würde, aber auch auf die grenzenlose Freude, mit der mein Herz erfüllt sein würde, sobald ich die Tänzerinnen sah. Zwei Seelen kämpften also in meiner Brust, als wir uns am Sonntag für das große Ereignis bereit machten.
Da das Stück im Royal Opera House in London aufgeführt wurde, war ein angemessener Kleidungstil unerlässlich. Aus diesem Grunde wählte ich ein schlichtes, schwarzes Kleid, welches ich für den Fall der Fälle eingepackt hatte. Der weich fallende Stoff des edlen Teils umspielte meine Knie.
Als ich mich im Spiegel betrachtete, seufzte ich kurz auf. Würde ich in den Pumps laufen können? Seit meinem Unfall hatte ich das noch nicht wieder probiert, aber heute schien die Gelegenheit zu sein.
Zunächst wählte ich jedoch den Schmuck aus, bestehend aus einer goldenen Kette, mit einem Anhänger aus einem Rubin, sowie den passenden Ohrringen dazu. Meine Haare trug ich offen, doch ich hatte diese mit einem Lockenstab bearbeitet, um manierlich auszusehen. Auch mein Make-up war dem Kleidungsstil angepasst: Sichtbar, jedoch nicht zu auffällig. Vorsichtig steifte ich die Pumps über meine Füße, atmete nochmals tief durch, und trat dann den Weg in Richtung Niall an, der bereits im Wohnbereich auf mich wartete. Es fühlte sich komisch an, in den Pumps zu laufen, doch ich bekam es irgendwie hin.
„Wow, Jess! Du siehst absolut toll aus!"
Niall konnte seinen Blick nicht von mir abwenden, als ich langsam auf ihn zuging.
„Danke, du aber auch", erwiderte ich lächelnd.
Mein Freund trug einen dunkelblauen Anzug, das farblich passende Hemd dazu, ergänzt durch eine Krawatte. Er sah unglaublich sexy aus, obwohl die Knöpfe des Hemdes nicht offen standen. Als Niall sich vom Sofa erhob, streckte er seine Hand nach mir aus, welche ich sofort ergriff. Sie fühlte sich warm und stark an, so wie ich es brauchte.
„Bist du bereit, Prinzessin?", fragte er, bevor er einen Kuss auf meine Wange hauchte.
„Ich denke schon", erwiderte ich lächelnd.
Niall wusste haargenau, dass dieses Lächeln nicht alles wiedergab, was sich gerade in meinem Innersten abspielte. Freude, Aufregung und Glück vermischten sich mit Zweifel, Angst und Unruhe. Wie würde die Darbietung von Romeo und Julia als Ballettstück auf mich wirken? Konnte ich mir die Vorführung bis zum Ende anschauen, oder würde ich zwischendurch mental kollabieren? All diese Fragen quälten mich, als wir in das Taxi stiegen, welches uns nach London brachte.
Während der Fahrt dorthin hielt Niall die ganze Zeit meine Hand. Er spürte, wie aufgeregt ich war, küsste hin und wieder meine Wange und flüsterte mir ins Ohr: „Ich bin bei dir, Jess, es kann nichts schief gehen. Und wenn du heulen musst, dann tust du es eben, lass alle deine Gefühle raus."
Niall war der wundervollste Mensch auf Erden, wie er gerade wieder mit dieser Aussage bewies. Womit hatte ich ihn nur verdient? Seufzend ließ ich meinen Kopf auf seine Schulter sinken. Die Augen geschlossen und nur seinem Atem lauschend, versuchte ich, innerlich zur Ruhe zu kommen. Es stand außer Frage, dass mich dieses Ereignis mehr als nur aufwühlte, aber ich wollte unbedingt testen, inwieweit ich mich bereits vom Traum, eine Prima Ballerina zu sein, verabschiedet hatte.
Als das Taxi vor der Oper hielt, konnte ich es kaum noch aushalten. Niall stieg zuerst aus und öffnete die Tür auf der anderen Seite für mich. Galant streckte er seine Hand aus, damit ich den sicheren Schritt nach draußen wagen konnte. Das Pflaster der Straße war ein wenig feucht, da es geregnet hatte, doch so lange ich Nialls Hand spürte, welche meine fest umschloss, traute ich mich selbst in Pumps den Weg entlang zu laufen.
Am Eingang angekommen, holte Niall die Karten hervor und wir konnten umgehend eine der VIP Lounges aufsuchen. Für diesen Bereich gab es sogar eine eigene Garderobe. Kein Wunder, denn die meisten VIP Gäste bestanden aus Prominenten oder Politikern, welche sich ganz gewiss nicht an einer langen Warteschlange im Garderobenbereich für die normalen Mitbürger anstellten. Eigentlich kam es uns sehr gelegen, obwohl Niall hier mit ziemlicher Sicherheit nicht von irgendwelchen Fans attackiert werden würde. Trotzdem erkannte ihn eine der Bediensteten, welche für die Aufbewahrung der Mäntel verantwortlich war, und fragte prompt nach einem Autogramm für ihre Tochter.
„Wenn Sie einen Zettel auftreiben können, auf dem ich meine Unterschrift verewigen kann, ist das kein Problem", antwortete mein Freund in seiner nonchalanten Art, sowie seinem atemberaubenden Lächeln.
Sekunden später präsentierte ihm die Angestellte ein weißes Blatt Papier, nebst einem Kugelschreiber, damit Niall seine Unterschrift draufsetzen konnte. Fürsorglich wie er nun mal war, erkundigte er sich nach dem Namen ihrer Tochter, um eine persönliche Widmung zu verfassen. Einige seiner Fans wussten vermutlich gar nicht zu schätzen, welches Glück sie mit Niall als ihrem Schwarm hatten. Nicht jeder Star nahm sich die Zeit für solche Dinge, wenn er privat mit seiner Freundin oder Familie eine solche Veranstaltung besuchte.
Kurze Zeit später befanden wir uns in der kuscheligen Lounge, welche nur für zwei Personen ausgelegt war, und genossen den VIP Service. Wir bekamen Getränke serviert und ein Programmheft ausgehändigt, das ich sofort durchblätterte.
„Giulietta Morini spielt die Julia, sie ist eine traumhafte Tänzerin", schwärmte ich begeistert. „Und Victor Hemsworth ist auch nicht zu verachten."
„Meinst du jetzt seine enganliegende Strumpfhose oder seine Tanzkünste?", kam es prompt von Niall, begleitet durch ein schelmisches Grinsen.
„Beides, seine Strumpfhose wird voll von dem hängenden Teil ausgefüllt", erklärte ich, ohne mich zu schämen.
Niall zog erstaunt seine Augenbrauen nach oben. „Oh, würde ich da etwa einen schlechten Schnitt machen, wenn du Vergleiche anstellst?"
Grinsend erwiderte ich: „Nein, aber es wäre mir lieber, wenn das Teil in deiner Strumpfhose steht und nicht hängt."
„Das könnte aber unbequem werden."
„Nicht, wenn ich dir die Strumpfhose ausziehe."
Wie so oft, artete unsere Konversation aus.
„Hast du schon Mal einem Typen die Strumpfhose vom Leib gerissen?", flüsterte Niall mir ins Ohr, obwohl uns keine Menschenseele hören konnte.
„Ja, als ich das erste Mal in der Kindergruppe mit einem Jungen tanzen musste. Er war frech zu mir und da ich wusste, dass er immer Unterwäsche mit den Teletubbies drauf trug, habe ich mich gerächt und ihn vor versammelter Mannschaft bloßgestellt."
Nach dieser Äußerung musste Niall sich schwer beherrschen, um nicht in einen unkontrollierten Lachanfall auszubrechen. Vermutlich stellte er sich die Sache gerade bildlich vor.
Sekunden später erlosch die Deckenbeleuchtung und das Programm startete.
Mein Herz raste wie verrückt, als der Vorhang sich öffnete und die ersten Tänzerinnen die Bühne betraten. Niemand konnte sich vorstellen, was in jenem Augenblick in mir vorging. Diese zwiespältigen Gefühle, welche auf mich einstürzten, brachten mich fast um den Verstand. Liebe, Sehnsucht, Trauer, Schmerz und Glück vereinten sich gleichermaßen in meinem Herz und in meiner Seele. Ich wusste genau, was die Tänzerinnen gerade durchlebten, als sie mit perfekter Choreografie nahezu über die Bühne schwebten. Und dann kam Giulietta.
Schon von Kindesbeinen an bewunderte ich diese Tänzerin, die bereits die Dreißig überschritten hatte. Doch dies merkte man ihr keineswegs an. Ihre Bewegungen wirkten geschmeidig und sie tanzte mit solch einer Hingabe, dass ich prompt zu weinen anfing. Sie liebte das Ballett, ich konnte es fühlen. Sie lebte nur dafür, so, wie ich es vor meinem Unfall getan hatte.
„Jess, geht es dir gut?", flüsterte Niall mir zu, der meine Tränen bemerkt zu haben schien.
„Ja..., es ist nur..., es ist so schön, verstehst du?", schluchzte ich leise.
Behutsam streichelte er meine Hand. „Ich bin da, wenn du mich brauchst."
Ich brauchte ihn in jener Sekunde mehr, als er es sich vorstellen konnte und nur alleine die Berührung seiner Hand führte mich auf einen sicheren Pfad. Meine Zukunft lag noch im Ungewissen, doch eines wurde mir gerade bewusst: Hier, in dieser Oper, auf dieser Bühne, würde niemals mehr ein Platz für mich sein.
Der Gedanke daran ließ mein Herz beinahe zerbrechen, doch es war Niall, der es in seinen Händen hielt, ganz vorsichtig und zart. Er hauchte meinem Herzen jeden Tag aufs Neue Leben ein, so wie in jenem Augenblick, als er sanft meine Hände streichelte und mich auf die Wange küsste. Der Hauch seiner Lippen bewirkte, dass ich leicht zu zittern anfing. Niall deutete dies im ersten Moment als einen Zusammenbruch, denn er sagte sofort: „Jess, wenn es zu viel für dich ist, dann lass uns gehen. Ich verstehe das vollkommen."
Doch ich schüttelte nur den Kopf. „Es ist ok, Niall. Ich möchte das Stück bis zum Ende sehen, ich brauche das, aber ich brauche auch dich. So lange du an meiner Seite bist, bin ich stark." Die Entschlossenheit in meiner Stimme war nicht zu überhören.
„Du bist der stärkste Mensch auf Erden, Prinzessin", hörte ich ihn flüstern. „Und ich bin froh, dass ich an deiner Seite sein kann."
Er drückte kurz meine Hand, was mir ein Lächeln entlockte. Niall war immer so süß, wenn er versuchte mich aufzurichten. Dann, urplötzlich wurde meine Aufmerksamkeit auf Victor gelenkt, der als Romeo die Bühne betrat. Obwohl der Begriff betreten in diesem Zusammenhang gar nicht passte. Er sprang und schwebte gleichzeitig über dem Boden, bekleidet mit seinen hautengen Strumpfhosen, die wirklich jedes Detail seines wohlgeformten Körpers hervorstechen ließen.
Victor war nicht sehr viel älter als ich, vielleicht drei oder vier Jahre. Man konnte es als absoluten Glücksfall für ihn bezeichnen, dass er an der Seite von der Prima Ballerina Giulietta Morini tanzen durfte, obwohl ich glaubte, dass er das zu schätzen wusste. Er ließ sie über dem Boden schweben, er himmelte sie an, er vergötterte sie, so wie die Rolle es erforderte. Manchmal keimte in mir der Verdacht auf, dass die jüngeren, männlichen Tänzer sich eine der älteren, weiblichen angelten, um deren Gelüste zu befriedigen. Als ich das Thema in der Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt ansprach, begann Niall zu schmunzeln.
„Na ja", meinte er, „wenn ihr Körper noch knackig ist, wäre ich auch nicht unbedingt abgeneigt, vorausgesetzt ich wäre solo."
„Bitte?", schnaufte ich empört.
„Was denn? Du wolltest doch meine ehrliche Meinung dazu hören, oder etwa nicht?"
Angriffslustig stemmte ich meine Hände in die Hüften. „Wie alt sagtest du nochmal, war dein ältester Fuckbuddie?"
„Darüber hatten wir, glaube ich, noch nicht gesprochen. Aber sie wird nächstes Jahr dreißig."
Meine Kinnlade klappte kurz nach unten, bevor ich sagte: „Was habt ihr jungen Typen eigentlich immer mit den älteren Frauen?"
„Jess, Alter ist nur eine Zahl", hielt Niall dagegen.
„Dann würdest du also mit einer Frau, die zehn Jahre älter ist als du, ins Bett steigen?"
„Klar, da ist doch nichts dabei", erwiderte er lässig.
„Du machst mich zum ersten Mal sprachlos", gab ich perplex zu.
„Cool, dass ich sowas mal geschafft habe."
An dieser Stelle endete unsere Diskussion, da der Kellner erschien, um uns etwas zu trinken zu bringen.
„Ich habe übrigens ein Autogramm von Victor", erzählte ich beiläufig.
„Echt? Du sammelst Autogramme von Balletttänzern?", zog Niall mich auf.
„Hör mal, das waren meine Stars, als ich noch jünger war. Gott, wie habe ich Victor angehimmelt! Ich war fünfzehn, als ich ihm begegnet bin. Wir durften an einer seiner ersten Aufführungen teilnehmen."
„Wer ist wir?", Niall nippte an seinem Sekt, als er mich neugierig musterte.
„Einige ausgewählte Tänzerinnen aus meiner damaligen Ballettschule. Er ist sogar mal zu einem Training aufgetaucht, bei dem ich anwesend war und hat gesagt, ich wäre ein großes Talent."
Nach diesen Worten kippte ich meinen Sekt auf ex ab, denn ich wollte plötzlich nicht mehr daran erinnert werden. Jeder hatte mir eine große Zukunft vorausgesagt, doch alles war nun anders gekommen. Niall spürte wohl, dass mich die Vergangenheit kurz einholte, denn er legte beruhigend einen Arm um meine Schultern, zog mich zu sich und küsste mich sanft auf die Lippen.
„Alles wird gut, Prinzessin, ich bin bei dir", murmelte er.
Der Rest der Aufführung war genauso grandios wie der Auftakt und als es zu Ende war, erhob ich mich, um Beifall zu spenden. Tränen glitzerten noch immer in meinen Augen, als wir längst im Taxi saßen, welches uns nach Hause brachte. Ich hatte es tatsächlich geschafft, ein komplettes Ballettstück anzuschauen, ohne mental zu zerbrechen, obwohl der Schmerz in meinem Herzen tobte. Es war zwar hart, aber dennoch schön gewesen, vor allem, weil Niall mich so liebevoll umsorgte. Was würde ich nur ohne ihn tun? Er war mein Fels in der Brandung, mein Anker in der stürmischen See und meine große Liebe. Immer wieder bewies er mir, wie wichtig unsere Zuneigung zueinander war.
Als wir in seinem Haus eintrafen, ließ er mich nicht aus den Augen. Er spürte, dass ich mit vielen Emotionen zu kämpfen hatte, die mich lange nicht zur Ruhe kommen ließen. Doch er wäre nicht Niall, wenn er nicht seine ganz eigene Methode entwickelt hätte, um mich auf vollkommen andere Gedanken zu bringen. Wir verbrachten eine wundervolle Nacht zusammen. Er trug mich förmlich auf Händen, als wir miteinander schliefen; er erweckte solche tiefen Gefühle in mir, wie ich sie noch niemals verspürte. Wir gaben uns alles, wir waren eins, mehr als je zuvor.
Als ich später mit geschlossenen Augen, total überwältigt von all den Emotionen in seinen Armen lag, wurde mir bewusst, wie sehr er mein Leben verändert hatte und es auch in Zukunft noch tun würde. Eine Freundschaft, die im Internet begann, hatte sich wirklich in Liebe verwandelt.
„Ich liebe dich", wisperte ich leise.
„Ich liebe dich auch, Jess", flüsterte er zurück.
Dann fielen mir die Augen zu und ich driftete ab in einen tiefen Schlaf.
In den nächsten Tagen versuchte ich alles aufzuarbeiten, was sich am Sonntag ereignet hatte. Niall ließ mir durchaus Zeit, denn er hatte zwischendurch einige Dinge zu erledigen. Unter anderem wollte er sich mit einigen Musikerkollegen in London treffen. Ich zog es vor, in seinem Haus zu bleiben und Wäsche zu waschen. Außerdem wollte ich im Internet Informationen über das Psychologie Studium herausfischen, was jede Menge Zeit in Anspruch nahm.
Somit passte es ganz gut, dass Niall mich für einige Stunden alleine ließ. Es war das erste Mal, dass wir uns räumlich trennten, seit ich mit ihm von Sheffield aus hierhergekommen war. Wir verabschiedeten uns mit einem langen, innigen Kuss voneinander, als er am späten Vormittag aufbrach.
„Ich schätze, ich bin gegen vier Uhr wieder zurück", sagte er lächelnd.
„Ok, bis dahin habe ich die Wäsche fertig und bin um einiges schlauer, was mein zukünftiges Studium angeht", erklärte ich voller Überzeugung.
„Mach's gut, Prinzessin, und überanstrenge dich nicht mit der Hausarbeit!"
Er hob mahnend den Zeigfinger, was mir schon wieder ein Grinsen entlockte. Normalerweise kümmerte sich Nialls Putzfrau um die Wäsche oder er brachte diese, wenn es ganz dringend war, zur Wäscherei um die Ecke. Aber da ich nun mal hier wohnte, sah ich es als meine Aufgabe, ihn dahingehend zu unterstützen. Außerdem kam es mir komisch vor, meine Kleidung von einer fremden Person waschen zu lassen.
Nachdem Niall weggefahren war, band ich meine Haare zu einem Zopf zusammen und machte mich an die Arbeit. Mit einer schwarzen Leggins und einem weißen T-Shirt bekleidet, sortierte ich die Wäsche nach hellen und dunklen Kleidungsstücken, damit später in der Maschine nichts abfärbte.
Leise vor mich hin summend belud ich die Waschmaschine, füllte Weichspüler, sowie Waschpulver auf und startete dann das Programm. Anschließend suchte ich die Küche auf, um den Müll nach draußen zu bringen. Das war weiß Gott keine schwere Arbeit, die mein Knie belasten würde. Zudem trug ich die Bandage unter den Leggins.
Niall zwang mich jeden Tag aufs Neue dazu, das Ding anzulegen und wenn ich es nicht von selbst tat, stülpte er mir das schwarze, hässliche, unerotische Teil ganz zärtlich übers Knie. Ich musste in mich hineingrinsen, als ich daran dachte und mit der Mülltüte in meiner Hand in Richtung Haustür lief. Auf dem Weg dorthin ertönte plötzlich und völlig unerwartet die Klingel. Als ich auf eine der Überwachungskameras blickte, sah ich eine Frau vor dem Tor stehen. Stirnrunzelnd betätigte ich die Sprechanlage.
„Sie wünschen bitte?"
„Ich möchte zu Mr Horan."
„Tut mir leid, der ist gerade nicht da."
„Das macht nichts, ich habe hier nur etwas abzugeben. Könnten Sie es vielleicht entgegen nehmen?"
Auf dem Monitor konnte ich erkennen, dass sie etwas in ihrer Hand hielt. Es sah aus wie ein kleines Päckchen.
„Also gut", erwiderte ich und betätigte gleichzeitig den Toröffner.
Mit der Mülltüte in meiner Hand öffnete ich die Haustür, um Sekunden später in das Gesicht einer rothaarigen, hübschen Frau zu blicken. Sie strahlte mich an, als sie sagte: „Ich wusste gar nicht, dass Niall eine neue Putzfrau hat."
Ich war so perplex, dass ich nichts darauf erwiderte, sondern sie nur weiterhin anstarrte.
„Na ja, wie dem auch sei, ich wollte ihm seinen Pullover zurückbringen, den er mir freundlicherweise vor ein paar Wochen geliehen hat, als ich etwas spärlich bekleidet aus seinem Haus gehen wollte."
Urplötzlich schien Leben in meine Gedankengänge zu kommen. Was zum Teufel bedeutete spärlich bekleidet und über welchen Zeitraum erstreckte sich der Begriff vor ein paar Wochen?
„Er hat Ihnen seinen Pullover geliehen?", fragte ich misstrauisch.
„Ja. Wissen Sie, Niall ist echt ein guter Kerl, er meinte sogar, ich könnte den Pullover behalten, aber das will ich dann doch nicht."
„Was bitte meinen Sie denn mit spärlich bekleidet?", schoss es aus mir heraus.
Jetzt lachte die Rothaarige kurz auf. „Sie wollen es aber ganz genau wissen, hm? Nun ja, da ich davon ausgehe, dass Sie nichts ausplaudern werden, weil Sie dann Ihren Job binnen kürzester Zeit los sind, kann ich Ihnen wohl verraten, dass ich nur meine rote Unterwäsche unter meinem Mantel trug, als ich bei ihm aufgekreuzt bin. Es war echt bitterkalt draußen an diesem Tag."
Ich beobachtete, wie sie den grauen Pulli sorgfältig aus einer Plastiktüte hervorholte, als sei dieser ein kostbarer Gegenstand. Mein Herz raste wie verrückt, als ich ihr die nächste Frage stellte, die unweigerlich in mir hochkam.
„Wann war denn dieser besagte Tag?"
Ihre Antwort ließ mich innerlich zerbrechen.
„Am fünfzehnten Oktober, einen Tag, bevor er nach Dublin geflogen ist."
Einen Tag bevor er nach Dublin flog, war also eine Frau in Reizwäsche bei Niall aufgetaucht, der er auch noch seinen Pullover geliehen hatte.
Meine Welt brach gerade zusammen. Er hatte mich eiskalt mit einer seiner Fuckbuddies betrogen! Ich hatte alles erwartet, aber das nicht. Nur mit allergrößter Mühe konnte ich meine Tränen zurückhalten, als die Rothaarige sagte: „Sie können ihm einen schönen Gruß von Lucy ausrichten."
Dann drückte sie mir den Pullover in die freie Hand, drehte sich um und verschwand.
Wie betäubt stand ich einige Minuten da, während ich meinen Tränen freien Lauf ließ. Sie tropften auf meine Arme und letztendlich auf den Boden, doch das war mir egal. Niall hatte gerade mein Leben zerstört. Alles, an was ich geglaubt hatte, war vorbei, einfach weg.
Ich ließ die Mülltüte fallen und warf den Pullover achtlos auf das Sofa im Wohnbereich. Dann hechtete ich ins Schlafzimmer, zog ein Sweatshirt über und tauschte die Leggins gegen eine Jeans. Dabei heulte ich die ganze Zeit. Ich war unglaublich verletzt, denn ich liebte ihn wirklich. Aber dass er mir damals erzählte, er wollte noch mit dem Sex warten, bis ich meine Beine einigermaßen bewegen könne und mich gleichzeitig mit einer anderen betrog, schmiss mich gewaltig aus der Bahn.
Meine Hände zitterten, als ich im Internet nach der nächsten Zugverbindung nach London suchte. Von dort aus musste ich nach Chippenham umsteigen. Nachdem ich herausgefunden hatte, dass der Zug in zwanzig Minuten fuhr, beeilte ich mich, und warf meine Sachen einfach in den Koffer. Anschließend schrieb ich einen Zettel, welchen ich auf Nialls Pullover legte und bestellte mir kurz darauf ein Taxi, das mich zum Bahnhof brachte. Dort angekommen zückte ich mein Handy und rief Anne an.
„Hey, Jess, alles klar bei euch?", sagte sie erfreut.
Als ich zu heulen begann, veränderte sich ihre Tonlage abrupt.
„Was ist denn los, Jess?"
„Kannst du..., kannst du mich bitte in Chippenham am Bahnhof abholen kommen?", würgte ich mit zittriger Stimme hervor.
„Um Gottes Willen, was ist denn passiert?" vernahm ich ihre bestürzte Frage.
„Niall,...Niall..., er hat mich betrogen."
„Was?!"
„Bitte, Anne, kannst du mich nachher abholen?", schniefte ich völlig entnervt und am Ende meiner psychischen Kräfte.
„Ja, natürlich. Sag mir nur, wann der Zug ankommt."
„Heute Abend um halb acht."
„Ich werde da sein."
Anne war die beste Freundin der Welt, und der einzige Mensch, dem ich außer meinen Eltern und meinem Bruder noch vertraute. Niall hatte nicht nur mein Vertrauen missbraucht, sondern etwas in mir kaputt gemacht; mein Herz, meine Seele und meine Kämpfernatur.
Ich stand da, wo ich am Anfang war, ich hatte mich aufgegeben.
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Habe ich euch schockiert? Ich hoffe doch sehr! Ich dachte mir, so ein bisschen Drama zwischendurch kann ja nicht schaden, oder? Zu gerne würde ich jetzt eure Gesichter sehen, haha. Ob Niall das wohl wieder hinbiegen kann?
Über Kommentare und Wertungen würde ich mich mega freuen! Gleichzeitig bedanke ich mich bei allen, die das regelmäßig tun! Das spornt mich wirklich sehr an, ihr wisst gar nicht, wie wertvoll eure Unterstützung ist!
Ich wollte euch noch auf eine Story aufmerksam machen. Sie heißt "They don't know about us" und wird von CatrifaThrums geschrieben! Sie ist ganz witzig, vor allem weil die Autorin gleich zu Anfang darauf hinweist, dass die Geschichte unrealistisch ist. Es ist also so gewollt, also nicht erschrecken! Es wäre lieb, wenn ihr dort mal vorbeischauen könntet, denn ihr Schreibstil ist super!
LG, Ambi xxx
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