39. Visions
Niall
Am Morgen, als wir nach Sheffield reisten, wurde mir richtig bewusst, dass unsere Tour sich wirklich dem Ende zuneigte; noch drei Konzerte und alles war vorbei. Für uns, und auch für unsere Fans, fühlte es sich wie eine Art Abschied an, obwohl wir eigentlich nur eine längere Pause einlegten.
Zuerst hatte ich mich dagegen gesträubt, doch mittlerweile fand ich Gefallen an dem Gedanken, über eine gewisse Zeitspanne nichts tun zu müssen. Natürlich wollte ich nicht zwingend auf der faulen Haut liegen, aber ich konnte selbst wählen, wie ich die Tage, Wochen und Monate ohne One Direction gestalten würde.
Mein ursprünglicher Plan, in Irland ein Haus zu kaufen, stand noch immer, aber der Rest nahm nun eine eher variable Gestalt an. Vor allem, seit Jess in mein Leben getreten war. Sie bedeutete mir so unglaublich viel und von daher konnte ich es kaum erwarten, sie nachher in meine Arme schließen zu dürfen. Obwohl wir täglich miteinander skypten, vermisste ich sie unendlich.
Glücklicherweise verging die Zeit heute so schnell, dass ich gar nicht lange auf ihr Eintreffen warten musste, nachdem ich mein Zimmer im Hotel bezogen hatte. Es dauerte kaum eine Viertelstunde, da traf schon eine Nachricht auf meinem Handy ein.
„Sitze in der Lobby und warte auf dich, Kuss, Jess."
Binnen kürzester Zeit stand ich im Aufzug, der mich nach unten brachte und gleich darauf lagen wir uns in den Armen.
„Ich hab dich so vermisst", wisperte sie leise, während ihre Wange sich an meine schmiegte.
„Ich dich auch, Prinzessin."
Nach diesen Worten liefen wir Hand in Hand zum Aufzug. Dabei beobachtete ich grinsend, wie toll sie ihre Beine wieder bewegen konnte, und wie leichtfüßig ihr Gang inzwischen wirkte. Jess hatte nochmals erhebliche Fortschritte gemacht, worüber ich mich unglaublich freute.
Wir versanken in einem tiefen, emotionalen Kuss, kaum dass wir mein Zimmer betreten hatten. Es fühlte sich absolut toll an, ihre Nähe zu spüren und wieder vereint zu sein. Doch als wir den Kuss unterbrachen und ich in ihre hübschen braunen Augen schaute, kam es mir so vor, als ob sie etwas auf dem Herzen hatte.
„Was ist los, Süße?", fragte ich deshalb.
Jess holte tief Luft, bevor sie antwortete: „Es gibt da etwas, über das ich mit dir reden möchte."
Gemeinsam machten wir es uns auf dem Bett bequem, den Rücken an die Kissen gelehnt. Als ich mit dem Daumen sanft über ihre Hand streichelte, um sie auf diese Art und Weise wissen zu lassen, dass sie mir wirklich alles anvertrauen konnte, kamen die Worte aus ihrem Mund, die mich im ersten Augenblick ein wenig außer Fassung brachten.
„Ich hab Norman im Krankenhaus besucht."
„Was? Wann denn? Und was hat er denn?"
Es war noch immer in Erinnerung geblieben, wie sehr Jess sich über sein Verhalten aufgeregt hatte, dennoch musste es einen triftigen Grund geben, warum sich ihre Einstellung ihm gegenüber veränderte.
Die nächsten Sätze sprudelten nur so aus ihr heraus und ich hörte aufmerksam zu, wobei sich eine leichte Gänsehaut auf meinem Rücken bildete. Es war schlimm, dass er an einer unheilbaren Erkrankung litt, die ihn irgendwann in den Rollstuhl befördern würde.
„Ich habe über viele Dinge nachgedacht in den letzten Tagen", fuhr Jess fort. „Und ich bin zur Überzeugung gekommen, dass ich gar keinen Grund zum Jammern habe. Ich werde zwar nie wieder tanzen können, doch ich kann laufen und dafür bin ich unglaublich dankbar."
Ein Lächeln huschte über meine Lippen, als sie diese Worte aussprach. Jess hatte nicht nur körperlich, sondern auch seelisch riesige Fortschritte gemacht. Sie war soweit, ihre Beeinträchtigung endlich anzuerkennen und damit leben zu wollen. Aber sie schien mit ihren Ausführungen noch nicht ganz zu Ende zu sein, wie ihr nächster Satz bewies, der mein Herz heftig zum Schlagen brachte.
„Aber am dankbarsten bin ich dafür, dass ich dich habe, Niall. Du bist...", Sie brach kurz ab, weil sie schlucken musste und ich erkannte, dass sich kleine Tränen in ihren Augen gebildet hatten. „Du bist alles, was ich brauche und der liebste Mensch der Welt."
Augenblicklich nahm ich sie in meine Arme, küsste sie sanft auf die Lippen und wisperte: „Und du bist alles, was ich brauche, Prinzessin. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich darauf freue, dich bei mir zu haben."
Wir versanken in einem endlosen Kuss, der gleichermaßen Liebe und Leidenschaft ausdrückte. Und wieder einmal verfluchte ich es, das wir schon sehr bald aufbrechen mussten, um nicht zu spät zum Konzert aufzutauchen. Gerade jetzt wollte ich mit Jess zusammen sein, weil ich spürte, wie sehr sie mich brauchte.
„Hilfst du mir?", vernahm ich ihr leises Flüstern, nachdem sich unsere Lippen wieder voneinander gelöst hatten.
„Für was auch immer du mich brauchst, ich bin bereit", erklärte ich leise, den Blick auf ihre Augen gerichtet.
Sie lächelte und sagte dann: „Ich muss mir darüber klar werden, wie meine berufliche Zukunft aussehen soll. Es wäre schön, deine Unterstützung zu haben."
„Die hast du, zu tausend Prozent."
Als ich sie auf die Nasenspitze küsste, begann sie zu kichern.
„Ich wusste es, du bist der beste Freund der Welt, der Allerbeste!"
„Der Allerbeste muss jetzt leider gleich aufstehen und sich für seine Arbeit rüsten", seufzte ich, was Jess zu einem Lachen animierte.
„Ich bin auch für dich da, wann immer du mich brauchst! Ich werde kräftig mitsingen und jubeln", erklärte sie mit einem Augenaufschlag, der mich fast schon wieder schwach werden ließ.
Und ihre nächste Äußerung: „Hast du eigentlich deine Tasse mitgenommen?", trug auch nicht unbedingt dazu bei, mich auf andere Gedanken zu bringen.
„Brauche ich die jetzt jedes Mal, wenn ich einen Blowjob haben will?", konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen, worauf Jess mich neckte: „Natürlich! Was dachtest du denn? Ohne das Ding läuft nichts!"
„Und schon arten unsere Gespräche wieder aus", kommentierte ich grinsend.
Jess hauchte einen Kuss auf meine Lippen, um dann zu sagen: „Gut, dass wir den gleichen Humor besitzen, sonst wären wir schon aufgeschmissen."
„Aber sowas von!"
Die drei Konzert und die beiden Nächte im Hotel gingen so rasend schnell vorüber, dass ich es fast nicht glauben konnte. Wie versprochen, tauchte Anne am Samstagabend auf, um sich das letzte unserer Gigs anzuschauen, was wir ihr wirklich hoch anrechneten, denn anschließend ging es für uns sofort nach Hause.
Da Anne, laut Jess, jedoch bei ihrer Cousine in Sheffield übernachtete, gab es keine Probleme bezüglich ihrer eigenen Heimreise. Nachdem Jess sich von ihrer besten Freundin verabschiedet hatte, stieg sie in den Wagen, der uns zu dem winzigen Flughafen in Sheffield brachte. Das Ding besaß nur eine Start- und Landebahn, was ich unheimlich witzig fand. Selbst Jess tat ihre Verwunderung über den kleinen Flughafen kund, indem sie sagte: „Der ist ja süß, ich wusste gar nicht, dass wir in England so kleine Flughäfen haben!"
Allerdings staunte sie erneut, als sie unseren Privatjet bemerkte, der uns sogleich nach London bringen würde. Die Flugzeit betrug nur eine halbe Stunde und da ich meinen Wagen in der Tiefgarage des Londoner Flughafens abgestellt hatte, konnten wir uns umgehend auf den Heimweg machen. Die monatelange Trennung von den Jungs fiel mir zwar schwer, aber da wir am gestrigen Abend bereits eine Art Abschiedsfeier mit reichlich Alkohol und unkontrollierten Lach-, sowie Tränenausbrüchen veranstaltet hatten, hielt sich die heutige Zeremonie in Grenzen.
Wir würden uns ganz sicher während dieser Pause privat treffen, einfach nur um miteinander abzuhängen, so, wie wir es am liebsten taten. Doch jetzt begann zunächst meine langersehnte Zeit mit Jess.
Obwohl die Uhr bereits nach Mitternacht anzeigte, wirkte sie kein bisschen müde.
„Ich bin so aufgeregt, Niall", ließ sie mich wissen, als wir uns auf der Straße Richtung Hertfordshire befanden. „Ich kann mir immer noch nicht richtig vorstellen, dass wir jetzt fast zwei Monate jeden Tag zusammen sind."
„Ganz ehrlich? Ich auch nicht. Es kommt mir vor wie ein Traum", erwiderte ich wahrheitsgetreu und mit einem breiten Lächeln im Gesicht.
Je näher wir meinem Heim kamen, desto aufgeregter wurde Jess. Ich konnte es förmlich an ihren Gesichtszügen ausmachen, welche ich hin und wieder kurz betrachtete.
„Ich kann es immer noch nicht richtig glauben", seufzte sie, als ich den Range Rover nach gut vierzig Minuten Fahrt vor meinem Haus parkte.
Grinsend schaute ich zu Jess. „Es ist aber kein Traum! Willkommen bei mir zu Hause."
Sie in meinem Haus ohne Probleme herumlaufen sehen zu können, bereitete mir großes Vergnügen. Ich erinnerte mich kurz daran, wie schwer ihr dies noch vor ein paar Wochen gefallen war, als ich sie zum ersten Mal hierher brachte. Ihr Gang hatte so staksig und unkontrolliert gewirkt, dass ich Angst hatte, sie könnte jeden Augenblick hinfallen. Diese Bedenken besaß ich nun ganz und gar nicht mehr, denn meine Freundin stolzierte förmlich durch die Wohnung. Trotzdem verursachte gerade das einen kurzen Stich in meinem Herzen.
Wie gerne hätte ich ihr beim Tanzen zugeschaut; es musste wundervoll aussehen, wenn ihr Körper nahezu über dem Boden schwebte. In Gedanken schalt ich mich einen Narren, denn die Tatsache, dass Jess nie wieder Ballett tanzen würde, war unumstößlich. Doch wenn es in meiner Macht stehen würde, dies zu bewerkstelligen, hätte ich es ohne mit der Wimper zu zucken getan. Sie verdiente es so sehr, glücklich zu sein. Aber im Moment sah es ganz danach aus, als ob ihr Herz gleich vor Freude überquellen würde.
„Es ist so toll, dass ich bei dir bin", rief sie und fiel mir um den Hals, nachdem ich unsere Koffer ins Schlafzimmer gebracht hatte, damit wir diese irgendwann auspacken konnten.
Blitzschnell hob ich sie hoch, vollführte eine Drehung, und ließ mich mit ihr in meinen Armen, auf das große Bett fallen. Dabei achtete ich darauf, dass Jess oben lag, damit ihr kaputtes Knie nicht versehentlich von der Masse meines Körpers eingequetscht wurde. Vergnügt quietschte sie auf und als wir uns zu küssen begannen, konnte ich ihr kleines Lächeln spüren.
„Was wird das hier, Niall? Ein Ringkampf oder das Vorspiel für eine lange Nacht?", wisperte sie in mein Ohr.
Meine Arme umschlangen ihren Körper, bevor ich uns vorsichtig drehte, sodass Jess plötzlich unten lag. Sofort glitten ihre schlanken Finger durch meine Haare und begannen meine Nacken zu streicheln. Mit einem Blick in ihre braunen Augen flüsterte ich: „Du möchtest also ein Vorspiel haben? Lang oder kurz?"
„Wenn du mich so fragst, dann lang", kam es prompt von ihr, was ich mit einem Grinsen quittierte.
„Ok, aber wehe du beschwerst dich, wenn wir erst in den frühen Morgenstunden einschlafen sollten."
Sie küsste mich zärtlich auf die Nasenspitze und meinte: „Es ist mir egal, wann wir einschlafen, oder hast du geplant morgen eine Runde Frühsport zu absolvieren?"
„Ganz sicher nicht!"
Tatsächlich schliefen wir erst gegen drei Uhr morgens ein, mit noch immer vollen Koffern und einem leeren Kühlschrank, wie ich am nächsten Tag feststellen durfte. Immerhin befanden sich haltbare Milch, sowie Cornflakes in meinem Vorratslager, sodass wir unseren Mägen vor dem Einkauf wenigstens etwas zuführen konnten.
Mein Stammsupermarkt lag etwa eine Meile entfernt und besaß eine reichliche Auswahl für jeden Geschmack. Ich genoss es, mit Jess durch die Gänge zu bummeln und sie aussuchen zu lassen, was ihrem Gaumen zusagte. Hier belästigte uns keine Menschenseele, weder Paparazzi, noch nervige Fangirls. Die meisten Leute kannten mich zwar, ließen mich jedoch in Frieden, genau wie in Mullingar, meiner Heimatstadt in Irland. Vielleicht hatte ich mich deswegen für ein Domizil entschieden, welches etwas außerhalb Londons lag. Nachdem wir den Einkauf beendet hatten, verbrachten wir den restlichen Tag in meinem Haus, da es draußen kalt und regnerisch war.
Binnen kürzester Zeit gewöhnte ich mich daran, nicht mehr alleine in meinem Haus zu sein, sondern eine wunderhübsche, junge Frau an meiner Seite zu haben, was viele Vorteile mit sich brachte, einschließlich des Rituals, dass wir jeden Morgen zusammen duschten. Tatsächlich schien es mir sicherer zu sein, wenn ich mich an ihrer Seite aufhielt, so lange sie ohne Kniebandage in der Duschkabine stand, aber das war natürlich nicht der einzige Grund.
Diese Duschsessions arteten nicht selten darin aus, dass wir schnurstracks wieder im Bett verschwanden, um unseren Gefühlen, die sich unter dem Wasser angesammelt hatten, wenn wir uns gegenseitig einseiften, freien Lauf zu lassen. So auch an diesem Morgen Mitte November.
Nachdem ich Jess zum Bett getragen hatte, zog ich ihr blitzschnell die Kniebandage über, denn ich spürte förmlich, dass sie keine Sekunde länger warten konnte, bis unsere Körper sich endlich vereinten. Den Schmerz ignorierend, ausgelöst durch ihre Fingernägel, die sich in meinen Rücken bohrten, ließ ich meinen Gefühlen freien Lauf. Unser Sex war so heiß, dass wir danach eigentlich wieder hätten duschen müssen. Doch wir blieben einfach eng aneinandergeschmiegt im Bett liegen. Zumindest so lange, bis das Läuten der Klingel ertönte.
„Welcher Idiot ist das denn?", murmelte ich seufzend und warf einen Blick auf die Überwachungskamera, welche sich im Schlafzimmer befand.
„Das ist Louis!", sagte ich ein klein wenig erstaunt.
Schnell schlüpfte ich in meine Boxershorts, um Sekunden später zur Tür zu eilen, wo ein grinsender Louis mich sofort umarmte.
„Hey, Bro, alles klar? Ich war in deiner Nähe und dachte, ich schaue mal vorbei", sagte er.
„Komm rein", seufzte ich, was ihn dazu animierte, mich genauer zu betrachten. Dabei streifte sein Blick meinen Rücken, der mit frischen Striemen übersäht sein musste.
„Shit, ich habe euch wohl gerade gestört, oder?"
„Du kannst von Glück sagen, dass du nicht zehn Minuten eher aufgetaucht bist!"
Die Stimme, die das von sich gab, gehörte Jess. Sie trug mittlerweile ihre Jogginghose, sowie einen meiner Pullover, der ihr ausgezeichnet stand. Ich liebte es, wenn sie in meinen Klamotten herumlief, obwohl diese ihr zu groß waren.
Louis stürzte sogleich auf Jess zu, um sie mit einer Umarmung zu begrüßen.
„Tut mir ja leid", sagte er zerknirscht. „Ich hätte vielleicht vorher anrufen sollen."
„Schon ok", meinte ich und bot ihm anschließend einen Kaffee an, welchen er dankend annahm.
„Was machst du hier in der Gegend?", erkundigte ich mich neugierig. „Solltest du nicht in Doncaster, bei deiner Familie sein?"
Louis warf zwei Stück Würfelzucker in seine Tasse, goss reichlich Milch dazu und rührte kurz um, bevor er zu einer Antwort ansetzte.
„Ich war in Sachen Eden Dora Trust unterwegs."
Ich nickte verständnisvoll, während Jess fragend dreinschaute. Sie konnte ja nicht wissen, dass Louis als Patron für diese Stiftung fungierte, die sich um Kinder kümmerten, welche körperliche, geistige und seelische Beeinträchtigungen nach einer Hirnhautentzündung davontrugen.
„Was bitte ist Eden Dora Trust?", erkundigte sie sich vorsichtig.
Als Louis ihr dies ausführlich erklärte, betrachtete ich ihr Gesicht. Es wirkte erschüttert und traurig, doch gleichzeitig keimte so etwas wie Hoffnung darin auf.
„Und du bist ein Patron dieser Einrichtung?", wollte sie wissen.
„Ja, einer von fünf."
„Das finde ich großartig!"
Ich konnte sehen, wie Tränen der Rührung in ihren Augen standen.
„Es ist so schön, etwas für andere Menschen tun zu können, die Hilfe brauchen", wisperte Jess.
Ich zog sie zu mir auf die Couch und hielt sie in meinen Armen, während sie nach einem der Kekse griff, die auf dem Tisch standen. Louis beobachtete uns lächelnd.
„Ihr wisst gar nicht, wie glücklich ich bin, dass ihr zwei zusammen seid", meinte er dann. „Niall hat endlich eine Frau gefunden, die ihn ein bisschen zähmt und die seinem Herz gut tut."
Spitzbübisch grinsend gab Jess einen Kommentar dazu ab. „Er tut meinem Herz aber auch gut, das wollte ich nur mal gesagt haben. Und was das Zähmen angeht, du hast ja keine Ahnung, wie er sich im Bett aufführt."
Während Louis mit einem lauten Lachen herausplatzte, begann ich Jess zu kitzeln, das verdiente sie nach dieser Äußerung auf jeden Fall. Sekunden später rangelten wir auf dem Sofa, noch immer durch Louis' Lachen begleitet, der sich nicht mehr einkriegte.
„Ich sehe schon, euch beiden geht es gut", meinte er zufrieden, nachdem sein Lachanfall vorüber war.
„Allerdings tut es das", sagten Jess und ich fast gleichzeitig, was uns erneut zum Lachen brachte.
Louis verweilte über eine Stunde bei uns und nachdem er sich verabschiedet hatte, saß Jess nachdenklich auf dem Sofa.
„Über was brütest du, Prinzessin?", wollte ich wissen.
„Darüber, ob ich vielleicht einen Beruf ergreifen soll, mit dem ich anderen Menschen helfen kann. Ich habe es selbst erfahren, wie es ist, wenn man ganz unten ist, wenn man möchte, dass sein Leben zu Ende geht. Aber ich habe auch erfahren, was ein Mensch bewirken kann, der dich da rausholt. Vielleicht..." Sie brach ab und schaute mich an.
„Bitte lach mich jetzt nicht aus, Niall."
„Das werde ich nicht, versprochen."
„Vielleicht sollte ich Psychologin werden, aber für Kinder und Jugendliche."
Lächelnd setzte ich mich zu ihr auf das Sofa, nahm ihre zierliche Hand in meine und sagte: „Warum sollte ich darüber lachen? Ich finde es toll, wenn Menschen solch einen Beruf auswählen, und ich denke, du würdest das hinbekommen. Aber zuerst solltest du an dich selbst denken. Du bist nämlich noch lange nicht so weit, dich den Problemen anderer Leute anzunehmen. Zumindest nicht, so lange dein Knie nicht halbwegs in Ordnung ist."
„Ich möchte mich aber nicht operieren lassen!" Ihre Stimme klang sehr bestimmt und leicht angepisst.
Wenn ich nicht selbst einmal nahezu in der gleiche Situation gesteckt hätte, wäre es mir sicher schwer gefallen, ihre Reaktion nachvollziehen zu können. Doch so wusste ich ziemlich genau, was in ihr vorging. Ich hatte meine OP damals vier Jahre vor mir hergeschoben. Vier verdammte Jahre, in denen ich hätte ohne Kniebandage und vor allem ohne Schmerzen durch die Gegend laufen können. Aber es brauchte Zeit, um dahin zu kommen, und somit konnte ich Jess unmöglich böse sein. Im Moment kam sie nämlich fast ohne Schmerzmittel aus, was natürlich dazu beitrug, dass sie keine Veranlassung für eine Operation sah.
„Ich weiß, dass du das in nächster Zeit nicht unbedingt machen willst, aber irgendwann wirst du dich damit auseinander setzen müssen, glaub mir."
„Und was soll ich in der Zwischenzeit machen? Mich auf die faule Haut legen und gar nichts tun?", kam es ein klein wenig empört zurück.
„Davon habe ich nichts gesagt. Aber vielleicht solltest du dir eine zweite Meinung bezüglich des Knies und der anstehenden OP einholen, und danach entscheiden, was du tun wirst", versuchte ich auf sie einzuwirken.
Jess' tiefes Seufzen ließ mich wissen, dass sie zumindest darüber nachdachte, dies in Erwägung zu ziehen. Vorsichtig zog ich sie in meine Arme und spürte, wie sich ihr Kopf an meine Schulter lehnte.
„Du hast ja Recht, Niall. Aber ich habe Angst vor einer neuen OP", seufzte sie leise.
„Ich verstehe das, Jess. Ich hatte auch lange Zeit Angst davor, aber du kannst sicher sein, wenn es irgendwann soweit sein sollte, bin ich an deiner Seite."
Der lange Kuss in den wir verfielen, brachte unsere Gefühle wieder heftig in Wallung und mir wurde mal wieder bewusst, wie sehr ich mich in sie verliebt hatte. Noch nie durfte ein weibliches Wesen in meinem Haus wohnen, für meine Fuckbuddies hieß es früher nur das Bett aufsuchen und anschließend das Taxi, mit dem sie zurück nach Hause fuhren. Doch mit Jess war alles ganz anders. Ihr gehörte mein Herz und ich hätte alles darum gegeben, sie einmal tanzen sehen zu können. Nur ein einziges Mal.
Unsere Seelenverwandtschaft zeichnete sich dadurch aus, dass Jess meine Gedanken manchmal lesen konnte, und gerade jetzt schien das der Fall zu sein, denn sie sagte plötzlich leise. „Ich wünschte, du hättest mich tanzen sehen können, nur ein einziges Mal."
Schwer schluckend versuchte ich meine Tränen zurückzuhalten, und alles was ich hervorbrachte war: „Ich würde mir gerne mal ein Ballett Stück anschauen, irgendwann."
Jess' zarte Finger streichelten vorsichtig über mein Gesicht. „Ich liebe dich", flüsterte sie, bevor wir in einem tiefen Kuss versanken.
Während der nächsten Tage kümmerte ich mich besonders intensiv um ihr seelisches Wohlergehen. Jess mochte gefestigt erscheinen, doch ich wusste, dass tief in ihrem Innersten noch immer Zweifel herrschten und Unsicherheiten lauerten, was ihr zukünftiges Leben ohne das Ballett Tanzen anging. Und es würde noch eine ganze Weile dauern, bis sie so weit darüber hinweg war, dass sie nicht mehr trauerte.
So unternahm ich einige Dinge mir ihr, die der Seele gut taten. Unter anderem mietete ich nochmals Mr Morellis Eissalon für eine Stunde, und ließ dieses Mal ein ordentliches Trinkgeld auf dem Tresen liegen. Außerdem besuchten wir die Spätvorstellung im Kino, was auch relativ gut klappte, da sich zu dieser Uhrzeit keine Jugendlichen dort aufhielten.
Am letzten Wochenende in November feierten wir eine Party in meinem Haus, zu welcher auch Louis, Liam, Sophia und Harry auftauchten, sowie meine Freunden aus der LIC Gruppe. Zu unserem Erstaunen hatte Harry Anne im Schlepptau und erklärte, dass sie bei ihm übernachten würde. Jess haute es fast aus den Schuhen, als die beiden ihr das offerierten und sie fragte natürlich sofort: „Seid ihr etwa zusammen?".
„Nein, wir sind nur gute Freunde und deshalb treffen wir uns hin und wieder", erklärte Harry grinsend. Diese Aussage unterstützte Annes durch ein kräftiges Nicken.
Es wurde ein sehr fröhlicher Abend, bei dem wohl jeder auf seine Kosten kam, was die Lachanfälle anging.
Als Jess und ich am nächsten Tag das Wohnzimmer aufräumten, mussten wir über manche Dinge immer noch schmunzeln. Zum Beispiel über die Tatsache, dass Liam sich aus Versehen seinen Cocktail über die Hose geschüttet hatte, und Louis in total besoffenem Zustand versuchte, die Flüssigkeit mit einem Strohhalm von Liams Jeans zu saugen. Die kuriosen Bilder in meinem Kopf wollten tagelang nicht verschwinden und Jess, der es ebenso erging, machte schließlich einen Vorschlag.
„Wir sollten am nächsten Wochenende etwas zu zweit unternehmen, um auf andere Gedanken zu kommen", schlug sie grinsend vor.
„Oh, und an welche Unternehmungen dachtest du dabei, Süße?"
Ich hatte mich schon ganz darauf eingelassen, rechnete jedoch nicht mit der Aussage, die sie nun machte, und die mich ziemlich aus den Socken haute.
„Niall, ich würde mir gerne gemeinsam mit dir Ballett anschauen."
Obwohl Jess' Stimme vollkommen ruhig klang, wusste ich, dass nur die Vorstellung an dieses Ereignis sie innerlich total aufwühlte. Ich war mir nicht sicher, ob es eine gute Idee sein würde, ein Ballett Stück anzuschauen, oder ob dies vielleicht zu viele schmerzliche Erinnerungen in ihr hervorrief. Deshalb fragte ich sicherheitshalber nach. „Du möchtest das wirklich tun? Das ist jetzt kein Scherz?"
Blitzschnell umfassten ihre Arme meinen Nacken, während sie ihre Körper gegen meinen presste.
„Nein, Niall, das ist kein Scherz. Du hast gesagt, es würde dich interessieren, das mal anzuschauen und ich möchte einfach wissen, inwieweit ich damit umgehen kann, ok?"
„Ok", wisperte ich, um ihr in der nächsten Sekunde einen sanften Kuss auf die Stirn zu hauchen.
Lächelnd nahm ich das kleine Zittern wahr, das durch ihren Körper lief, als meine Lippen wenig später an ihrem Hals entlang wanderten. „Du darfst das Stück aussuchen", flüsterte ich mit geschlossenen Augen.
„Dann nehme ich das Harte in der Mitte", hauchte sie verführerisch.
Sofort öffnete ich meine Augen, umfasste mit einer Hand ihr Kinn und zog dieses sanft zu mir, sodass sie gezwungen war, mich anzuschauen. Aus ihren braunen Augen blitzte, wie zu erwarten, der Schalk.
„Du kleines Biest, ich hab von dem Ballett Stück geredet", raunte ich ihr zu.
„Das weiß ich und es war klar, dass ich es aussuche, weil du keine Ahnung davon hast", säuselte sie schelmisch grinsend.
„Schon klar." Noch immer umfasste ich ihr Kinn, den Blick auf ihre Augen gerichtet, die unendlich lustvoll wirkten, als ich sagte: „Dafür habe ich mehr Ahnung von dem harten Stück in der Mitte, das dir nachher viel Freude bereiten wird."
Eines stand auf jeden Fall fest: Ich benötigte im Moment kein zusätzliches Fitness Programm, um Kalorien abzuarbeiten; das erledigte sich sozusagen durch meine Freundin von selbst.
Als ich mich Sekunden später auf einen der Stühle am Esstisch fallen ließ, setzte Jess sich rittlings auf mich. In ihrer rechten Hand hielt sie das Handy und scrollte auf irgendwelchen Seiten im Internet herum.
Genüsslich wanderte meine Hand unter ihr T-Shirt, um die zarte Haut ihres Rückens zu streicheln, was sie sichtlich genoss. Gerne hätte ich ihr zauberhaftes Lächeln in diesem Moment auf einem Bild eingefangen, aber mein Handy lag irgendwo auf dem Sofa, zu weit entfernt, als dass ich es hätte greifen können. So begnügte ich mich damit, einen Kuss auf ihr Dekolleté zu hauchen, was sie mit einem sanften Stöhnen quittierte.
„Du machst mich wahnsinnig, Niall", seufzte sie verführerisch.
„Das war meine Absicht", gab ich offen und mit einem Augenzwinkern zu.
„Wie bitte soll ich denn die Karten für das Ballett buchen, wenn du mich..."
Sie brach ab und schaute mich an.
„Wenn ich dich...?", redete ich weiter.
„Wenn du mich hier so anmachst", kam es schwer atmend von ihr, wobei sie nicht aufhörte, sich mit dem Handy zu beschäftigen. „So, alles, erledigt", schnaufte sie dann erleichtert.
Amüsiert zog ich meine Augenbraune ein wenig nach oben, als ich fragte: „Und? Wann gehen wir jetzt zur Ballettvorführung?"
„Am Sonntag, um acht Uhr abends. Da ich komischerweise immer noch Zugang zu den VIP Karten habe, sitzen wir zu zweit in einer kuscheligen Loge."
Das hörten meine Ohren doch gerne. „Wie kuschelig?", flüsterte ich, meinen Blick nicht von ihrem Gesicht nehmend.
„So kuschelig, dass du mich jederzeit küssen darfst, ohne dass sich jemand gestört fühlen wird", erwiderte sie lächelnd.
„Dann bin ich zufrieden."
Ich wusste nicht, ob ich auch in jener Hinsicht zufrieden war, dass Jess diesen Schritt wagen wollte. Hoffentlich bedeutete dies für sie nicht einen erneuten seelischen Zusammenbruch. Aber egal, wie die Sache ausgehen würde, ich blieb an ihrer Seite, um sie aufzufangen.
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Denkt ihr, dass es eine gute Idee ist, wenn Jess sich ein Ballett Stück anschaut? Oder teilt ihr Nialls Bedenken?
Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen!
Danke für die vielen Reads, Votes und Kommentare! Bitte hört nicht auf damit, das baut mich so auf!
LG, Ambi xxx
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