33. Treat

Niall

Ich konnte nicht fassen, wie schnell die gemeinsame Zeit mit Jess verging. Es schien, als sei sie gestern erst angereist und heute war bereits unser vorletzter Tag in London, für welchen ich mir noch eine besondere Überraschung ausgedacht hatte.

Noch wusste Jess nicht, was sie gleich erwarten würde, als wir uns dafür rüsteten, das Hotel zu verlassen. Außerdem hatte sie keine Ahnung, wie viel Überredungskünste, Zeit und Geld mich der Spaß kostete, den ich ihr nun zum Geschenk machen würde.

Seit Tagen gelüstete es ihr nämlich nach echtem italienischen Eis, und da ich ihre Sucht dahingehend befriedigen wollte, hatte ich es mir zur Aufgabe gemacht, den besten Eissalon Londons ausfindig zu machen, der diese Köstlichkeiten anbot.

Natürlich konnte ich nicht so ohne weiteres in Begleitung einer jungen Frau in der Eisdiele, welche den Namen Morellis Gelato trug, am helllichten Tag in der Stadt aufkreuzen, das verstand sich von selbst. Aber zum Glück besaß ich genügend Selbstvertrauen und vor allem Geld, um den Besitzer des Eisimperiums davon zu überzeugen, dass ich, Niall Horan, genau an diesem Tag seinen Eissalon für eine Stunde mieten wollte, was bedeutete, dass allen anderen, normal Sterblichen der Zutritt innerhalb dieser Zeitspanne verwehrt bleiben würde.
Selbstverständlich bot ich Mr Morelli eine entsprechende Entschädigung dafür an, und als wir uns nach einer langen Diskussion endlich auf eine Summe geeinigt hatten, fiel mir ein Stein vom Herzen.

Jess, die von alldem keine Ahnung hatte, versuchte zwar zu erraten, wo unsere Reise wohl hingehen würde, doch sie lag jedes Mal daneben.

„Ich gebe es auf, Niall", seufzte sie schließlich, als ich bei ihrer Vermutung „Zum Wachsfigurenkabinett", grinsend den Kopf schüttelte.

Allerdings stellte ich ihr sofort eine Frage. „Warst du noch nie bei Madame Tussauds?"

„Nein, noch nie. Ich würde ja gerne mal hin, aber nicht, so lange ich noch auf den Rollstuhl angewiesen bin", antwortete sie wahrheitsgetreu.

Diese Information speicherte ich sogleich in meinem Hinterkopf ab. Jess würde sicher nicht zum letzten Mal gemeinsam mit mir in London sein, zumindest hoffte ich das.

Erwartungsvoll blickte sie aus dem Fenster der großen Limousine, welche durch die Straßen der Weltmetropole rollte. Draußen nieselte es, was unserer guten Stimmung jedoch keinen Abbruch tat. Eng aneinandergeschmiegt belegten wir die Rückbank des Wagens, durch dessen getönte Scheiben wir hin und wieder schauten, wenn wir nicht gerade mit Küssen beschäftigt waren.

Jess war wie eine Sucht für mich. Jede Nacht schlief sie in meinem Arm ein, meistens den Kopf auf meiner Brust gebetet. Es war ein schönes Gefühl, ihr Vertrauen zu spüren und zu wissen, dass sie sich komplett auf mich eingelassen hatte. Nach wie vor hielt ich nichts davon gewisse Dinge zu überstürzen, denn ihre Gesundheit stand für mich so sehr im Vordergrund, dass ich ohne Probleme auf den Sex verzichten konnte. Manchmal wusste ich nicht, woher ich diese Selbstbeherrschung nahm, denn ich begehrte sie unendlich. Sie war liebenswert und wunderschön. Vermutlich lag dies daran, dass ich noch niemals solche tiefen Gefühle für jemanden hatte aufbauen können, wie für Jess.

Als ihre zarten Finger über meine Hand streichelten, wanderten meine Augen sofort zu ihrem Gesicht. Sie lächelte und küsste sanft meine Nasenspitze.

„Niall?"

„Ja?"

„Wie lange dauert unsere Unternehmung?"

Oh, nun versuchte sie es auf diese Art und Weise herauszufinden, was mich ziemlich breit grinsen ließ.

„Eine Stunde", erwiderte ich gelassen.

„Hm, also fällt der Kinobesuch aus", sinnierte sie.

„Du hast es erfasst."

Inzwischen näherten wir uns dem Ziel, dem Hintereingang der Eisdiele Morellis Gelato. Von hier aus konnte man weiß Gott nicht erkennen, um welche Art Geschäft es sich handelte, was es umso spannender für Jess machte.

Obwohl wir aus Sicherheitsgründen ihren Rollstuhl mitgenommen hatten, bestand sie darauf, es zunächst ohne zu versuchen, als ich ihr erklärte, dass sie wirklich nur wenige Schritte gehen müsste, um zu unserem Ziel zu gelangen.

Selbstverständlich hatte ich mich vorher erkundigt, ob wir Treppensteigen mussten, was Mr Morelli während unseres Telefonates sofort verneint hatte. Somit sollte es für Jess kein Problem sein, in das Innere der Eisdiele zu gelangen, auch nicht über den Hintereingang, und falls doch, dann würde ich sie tragen.

Kaum war der Wagen zum Stehen gekommen, blickte sie neugierig aus dem Fenster und rümpfte ihre süße kleine Stupsnase, weil wir direkt vor dem Eingang zu einem tristen Gebäude parkten. Dieses war jedoch nur von außen und von hinten so unspektakulär. Ich kannte ja, im Gegensatz zu ihr, den eigentlichen Eingang zum Eisparadies.

Schnell verließ ich die Limousine, um ihr anschließend beim Aussteigen behilflich zu sein und beobachtete, mit welcher Anstrengung Jess ihre Beine aus dem Wagen hinaus manövrierte. Für einen gesunden Menschen waren diese alltäglichen Bewegungen selbstverständlich, man dachte überhaupt nicht darüber nach, wenn man es tat. Doch seit Jess in London verweilte und ich tagtäglich damit konfrontiert wurde, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hatte, begriff ich, wie dankbar man eigentlich sein musste, wenn man ganz normal seine Beine gebrauchen konnte.

Da es seit geraumer Zeit nieselte, war das Kopfsteinpflaster, auf welches Jess nun treten musste, relativ nass und rutschig. Sofort spürte ich ihre Unsicherheit, als sie den ersten Schritt versuchte und verstand gleichzeitig, dass dies viel zu gefährlich für sie war, zumindest in ihrer momentanen gesundheitlichen Verfassung.

„Niall, ich..."

Bevor sie den Satz zu Ende sprechen konnte, handelte ich.
Ohne eine große Erklärung abzugeben, hob ich Jess einfach hoch und trug sie in Richtung Eingang. Sie legte ihre Arme um meinen Nacken und flüsterte mir ins Ohr: „Danke, ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann."

Wie von Geisterhand öffnete sich die Tür des Hintereingangs, in der Mr Morelli stand, um uns zu begrüßen.

„Hallo, Mr Horan, da sind sie ja! Und die junge Dame ist Jessica, richtig?"

„Ja, das ist richtig", erwiderte ich schmunzelnd.

Besagte junge Dame gab mir nun durch Handzeichen zu verstehen, dass sie versuchen wollte zu laufen, als wir uns im Inneren des Gebäudes befanden, was ich ihr natürlich nicht verwehrte. Langsam und mit äußerster Vorsicht setzte ich sie ab, bis ihre Füße den Steinboden berührten.

„Hier entlang, bitte", forderte Mr Morelli uns mit einem breiten Lächeln im Gesicht auf.

Hand in Hand folgten wir ihm nun zu unserem eigentlich Ziel, wobei er sich unserem Tempo, oder besser gesagt, dem von Jess, anpasste. Ihre Finger hielten meine Hand fest umklammert, während sie sich ganz auf ihre Schritte konzentrierte.

Vertieft in das Laufen, registrierte sie zunächst gar nicht, in welcher Umgebung sie sich befand, als wir den Eissalon erreichten. Ihre Aufmerksamkeit beschränkte sich, wie zu erwarten, auf den nächstgelegenen Stuhl, der vor einem kleinen, runden Tisch stand.

Nachdem sie sich dort niedergelassen hatte, versuchte Jess zunächst ihre Atmung ein wenig unter Kontrolle zu bringen, doch dann hob sie plötzlich den Kopf und ließ ihre Augen erstaunt durch den großen Raum wandern. Unverkennbar handelte es sich um eine Eisdiele, deren Einrichtung durch die Farben Weiß und Lila dominiert wurde. Inmitten des Eissalons befand sich eine große, runde Theke, mit einer lilafarbenen runden Säule in der Mitte, auf welcher groß und breit Morellis Gelato zu lesen war. Spätestens jetzt begriff Jess, wo wir uns befanden.

„Oh mein Gott, ein Eissalon! Niall, du bist total verrückt!"

Ihr Strahlen, das sich auf dem ganzen Gesicht ausbreitete, ließ mein Herz höher schlagen. Es machte mich glücklich, wenn Jess sich freute.

Immer wieder wanderten ihre braunen Augen zu den verschiedenen Eissorten, es waren gefühlte hundert, zwischen denen wir uns gleich entscheiden mussten, bis sie schließlich eine Frage stellte.

„Warum sind wir denn hier ganz alleine?"

Mein Grinsen nahm kein Ende, als ich antwortete: „Dreimal darfst du raten."

„Nicht schon wieder!"

Sie senkte ihre Stimme ein wenig, bevor sie sich anschickte, eine Aussage zu machen, die der tatsächlichen Lösung sehr nahe kam.

„Ich wette, du hast diesen Typen bestochen, damit er keine anderen Gäste hineinlässt, so lange wir hier sind."

Dies entlockte mir ein kleines Schmunzeln. „Weißt du, Prinzessin, bestechen ist echt ein hartes Wort. Ich bevorzuge den Ausdruck verhandeln."

Gerade als Jess etwas antworten wollte, tauchte Mr Morelli mit zwei Portionen Schokoladeneis auf, welche sich in weißen Glasschalen mit lilafarbenen Füßen befanden.

„Lassen Sie es sich schmecken, das ist übrigens nur zum Einstimmen auf unsere überaus große Auswahl an Eissorten", erklärte er mit einem verschmitzten Lächeln.

„Ich liebe Schokoladeneis!"

Mit diesen Worten griff Jess nach einem der Löffel und begann das Eis in sich hineinzuschaufeln. Es war herrlich mitanzuschauen, wie ihre Augen leuchteten und ihr Gaumen sich an dieser süßen Köstlichkeit erfreute. Ich musste zugeben, es war das beste Schokoladeneis, das ich jemals gegessen hatte. Doch unsere Testphase erstreckte sich noch über weitere Sorten, wobei es sogar eigene Kreationen von Morellis Gelato gab. Langsam ließ ich das Eis auf meiner Zunge zergehen, meinen Blick immer auf Jess gerichtet, die nicht aufhören konnte zu strahlen.

„Du hast mir mal geschrieben, dass wir uns vorstellen könnten, zusammen Eis essen zu gehen und heute ist es wahr geworden", sagte sie leise, während ihre freie Hand nach meiner tastete. „Danke", fügte sie noch hinzu.

Die kleinen Freudentränen in ihren Augen ließen mich wissen, wie viel ihr das hier tatsächlich bedeutete. Sogleich beugte ich mich über den Tisch, um ihre Tränen wegzuküssen.

„Das ist echt so lieb von dir, Niall", wisperte sie, noch immer total gerührt.

Der Kuss, welchen sie anschließend auf meinen Lippen platzierte, löste schon wieder dieses wahnsinnige Kribbeln in mir aus. Es fühlte sich an, als hätte Jess mich verhext, aber im positiven Sinne.

„Ich wollte dir eine Freude machen und dachte, das mit dem Eis essen passt ganz gut", sagte ich, nachdem ich mich wieder ein wenig gefasst hatte.

Jess grinste, tauchte ihren Löffel in das Eis und begann mich damit zu füttern.

„Hier, koste mal, das ist Ananas mit irgendwas drin."

Das Irgendwas entpuppte sich als Curry, das sich wirklich zu einer exzellenten Mischung mit dem Geschmack der Ananas verband.

„Oh Gott, wenn das so weitergeht, kriege ich hier gleich einen Gaumen Orgasmus", flüsterte Jess, während sie genießerisch ihre Augen verdrehte.

Wie ich es liebte, wenn sie genau das aussprach, was sie dachte! Trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, sie ein wenig aufzuziehen.

„So lange es nur der Gaumen ist, besteht keine Gefahr, dass wir hinausgeworfen werden", entgegnete ich grinsend.

Als sie meinen amüsierten Blick, sowie mein Zwinkern bemerkte, überzog sich ihr Gesicht allerdings mit einer dezenten Röte. Da wir dahingehend noch keinerlei gemeinsame Erfahrungen gemacht hatten, verstand sie das wohl als Anspielung.

„Niall, also..., das sollte jetzt nicht heißen, dass..."

Als Mr Morelli sich plötzlich unserem Tisch näherte, verstummte Jess schlagartig. Wir bekamen die nächste Portion Eis serviert, es handelte sich bereits um die dritte. Nachher würden wir bestimmt wie zwei Kugeln aus der Eisdiele hinausrollen.

„Wo waren wir stehengeblieben?", fragte ich sogleich, nachdem Mr Morelli sich wieder hinter die Theke zurückgezogen hatte.

„Beim Gaumen Orgasmus", kam es prompt von Jess, die ihren Löffel nun vorwitzig in meine Eisschale tauchte.

Ich ging sofort zum Angriff über, indem ich nun etwas von ihrem Eis stibitzte. Nebenbei stellte ich ganz beiläufig eine Frage.

„Hattest du schon mal einen?"

„Einen was?"

„Gaumen Orgasmus."

Das Wort hörte sich bescheuert und gleichzeitig scharf an.

„Ich glaube nicht, außerdem frage ich mich gerade, wie der wohl ausgelöst werden könnte."

Der Blick aus ihren braunen Augen wirkte ziemlich frivol und gleichzeitig super sexy, was mich anspornte, eine möglichst passende Antwort herauszuhauen. Sicherheitshalber senkte ich meine Stimme, sodass Mr Morelli der Inhalt unserer Konversation auf jeden Fall verborgen blieb.
„Vielleicht bei einem Blowjob."

Jess' Gesichtsausdruck war einfach unbezahlbar. Sie hatte Mühe, ihr Eis nicht auszuspucken und kämpfte darum, ihr Lachen unter Kontrolle zu halten.

„Niall", japste sie, „davon kriegt man aber keinen Gaumen Orgasmus."

„Sicher?"

„Ganz sicher!"

Grinsend reichte ich ihr eine Serviette, da ihr Mund ringsum mit Eis beschmiert war, die Jess dankend entgegennahm.

„Kannst du mir mal sagen, warum unsere Konversationen immer so ausarten?", wollte sie plötzlich wissen.

Daraufhin zuckte ich nur mit den Schultern. „Keine Ahnung, vermutlich passiert das genauso unkontrolliert wie bei unseren E-Mails in der Vergangenheit."

„Vermutlich. Aber weißt du was? Ich liebe es total."

„Ich auch."

Als ich zärtlich mit meinem Daumen über ihren Handrücken streichelte, begann Jess zu lächeln.

„Es ist so gut, dass wir uns begegnet sind", wisperte sie leise.

„Ja, das ist es."

Nach ungefähr einer Stunde erhob ich mich mit prall gefülltem Bauch, um die ausgehandelte Summe per Kreditkarte an Mr Morelli zu bezahlen, doch er wehrte plötzlich ab.

„Lassen Sie nur, Mr Horan, das ist schon in Ordnung so."

„Bitte was?", murmelte ich verständnislos.

Er war Geschäftsmann, er konnte doch nicht so einfach auf seinen Gewinn verzichten, der ihm sicher durch die Lappen gegangen war, während Jess und ich alleine in seiner Eisdiele saßen.

„Aber wir hatten doch eine Summe ausgemacht...", wollte ich widersprechen, konnte den Satz jedoch nicht zu Ende bringen.

„Ja, aber das war bevor ich Ihre bezaubernde Freundin gesehen habe, für die Sie wohl alles tun würden."

Als ich ihn etwas perplex anstarrte, lächelte er und sagte: „Ich finde es außergewöhnlich schön, dass jemand wie Sie, der jede Frau haben könnte, sich um einen Menschen kümmert, der körperlich beeinträchtigt ist. Sie ist einfach wundervoll, bitte akzeptieren Sie, dass ich kein Geld von Ihnen möchte."

Ich verstand, dass er Jess wundervoll fand, denn das war sie auch.

„Ok, dann danke ich Ihnen für das tolle Eis und die Stunde, die wir hier ungestört verbringen durften", erwiderte ich und schüttelte seine Hand zum Abschied.

„Es war mir eine Ehre", entgegnete Mr Morelli, der sich nun anschickte, uns hinauszugeleiten.

Jess streckte mir ihre zierliche Hand entgegen, die ich sofort ergriff, damit sie sich gefahrlos von ihrem Stuhl erheben konnte. Als sie auf ihren Füßen stand, gingen wir langsam los, bis zum Ausgang. Dort wartete bereits der Fahrer mit der schwarzen Limousine direkt vor dem Hintereingang.

Da es immer noch nieselte, hob ich Jess kurzerhand hoch, um sie die wenigen Schritte zum Auto zu tragen. Auf diese Art und Weise gelangte sie nämlich sicher ins Innere des Wagens, der kurze Zeit später auf die Straße rollte. Da wir heute ein Konzert gaben, mussten wir nun direkt ins Hotel zurück, um später nicht in Zeitnot zu geraten. Jess schwärmte während der ganzen Fahrt von der leckeren italienischen Eiscreme, was mich vollauf zufrieden stellte. Ich hatte ihr etwas Besonderes bieten wollen, und das schien mir gelungen zu sein.

Unser vorletztes Konzert in London verlief genauso reibungslos und lustig, wie die anderen auch. Noch immer fühlte es sich für uns unglaublich an, dass das O2 sechs Mal hintereinander jeden Abend ausverkauft war, obwohl wir bereits oft genug in riesigen Stadien gespielt hatten. Trotzdem würde das O2 In London immer etwas Besonderes für uns bleiben, es war sozusagen unsere Heimat, in der wir lebten.

Als das Konzert nach fast zwei Stunden zu Ende war, konnte ich es nicht erwarten, wieder bei Jess zu sein. Der Gedanke, dass wir nur noch einen Tag und zwei Nächte miteinander verbringen konnten, bevor sie wieder nach Hause reiste, ließ mich traurig werden.

Ich hätte sie gerne einfach mit auf die Tournee genommen, doch ich wusste selbst, dass dies unmöglich war. Ihr Gesundheitszustand erlaubte dies einfach nicht, denn sie musste nun versuchen, so schnell wie möglich wieder zu laufen. Dazu gehörte eine besondere Physiotherapie, die wir ihr nicht bieten konnten, zumindest nicht so, wie es für sie nötig sein würde. Also musste ich sie schweren Herzens ziehen lassen, jedoch nicht heute.

Ihre Augen leuchteten, als ich mit einem Handtuch um den Nacken auf sie zugelaufen kam, mich zu ihr hinabbeugte, und ihr einen Kuss auf den Mund drückte.

„Ihr wart so toll, ehrlich!" Euphorie schwang in ihrer Stimme mit.

„Und das sagt jemand, der Boybands grundsätzlich abgelehnt hat", bemerkte ich zufrieden grinsend, worauf Jess antwortete: „One Direction sind die große Ausnahme."

Meine Lippen befanden sich direkt an ihrem Ohr, als ich flüsterte: „Würdest du nun einen der großen Ausnahmen auf sein Zimmer begleiten?"

„Wenn es weiter nichts ist."

Nachdem wir uns von den anderen verabschiedet hatten, suchten wir umgehend meine Suite im obersten Stockwerk auf. Es war schon zu einem Dauerzustand geworden, dass Jess den Weg vom Aufzug bis zu meinem Zimmer laufend zurücklegte, und ich dann den Rollstuhl holte, sobald sie auf meinem Bett saß. Jeden Tag klappte es ein wenig besser, doch ihre Beine waren noch lange nicht soweit, dass die Bewegungen geschmeidig wirkten. Ich spürte, dass das Laufen sie noch immer sehr anstrengte.

„Ich gehe schnell duschen, Prinzessin, ok?", sagte ich, worauf sie nickte, um es sich dann im Bett bequem zu machen.

Nach den Konzerten waren wir immer so durchgeschwitzt, dass das Duschen unerlässlich blieb, egal, wie spät wir im Hotel eintrafen. Ich beeilte mich am heutigen Abend sehr, denn jede Minute, die ich länger mit Jess verbringen durfte, war kostbar.

Sie lächelte mir entgegen, als ich mit einer frischen Boxershorts bekleidet, endlich vor ihren Augen auftauchte. Schnell krabbelte ich ins Bett, um sie in meine Arme zu nehmen. Doch Jess schien heute auf einem anderen Trip zu sein. Dass ihre Finger durch meine Brusthaare fuhren, war ich je gewöhnt, aber heute wanderten diese ein wenig abwärts.

„Jess, es ist gefährlich, was du da tust, ich..."

„Lass mich bitte, du weißt doch gar nicht, was ich will", fiel sie mir ins Wort.

Schließlich gab ich es auf und ließ sie einfach machen. Wir Männer waren wirklich leicht um den Finger zu wickeln, wenn es um körperliche Nähe ging und unser Widerstand zeichnete sich nicht durch eine besondere Stärke aus. Und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, Jess nicht anzurühren, bevor sie ihre Beine wieder richtig bewegen konnte, sah ich bereits meinen Vorsatz gefährdet; zumindest so lange, bis ich bemerkte, was sie wirklich vorhatte.

Langsam und vorsichtig ließ sie den Zeigefinger ihrer rechten Hand über die Narbe an meinem Bein gleiten, examinierte diese regelrecht mit ihren Blicken und fragte plötzlich leise: „Tut es noch weh?"

Ich atmete tief durch, bevor ich antwortete: „Nein, schon lange nicht mehr, obwohl ich das Knie erst seit ein paar Wochen wieder richtig beugen kann."

Unaufhaltsam wanderte ihr Zeigefinger über die Narbe, bis sie schließlich ihren Kopf nach unten beugte. Das Kitzeln ihrer langen, seidigen Haare, welches ich sogleich an meinem Oberschenkel spürte, ließ mich ein wenig zusammenzucken, da die Ameisen sich in meinem Bauch zurückmeldeten. Doch diese Ameisenarmee war nichts im Vergleich zu dem, was ich fühlte, als ihr Atem sich auf meiner Haut niederschlug.

Mein Herz hämmerte wie verrückt, pumpte das Blut so schnell durch meine Adern, das mir fast schwindelig wurde, als ihre Lippen Sekunden später meine Narbe berührten; sanft und zärtlich, so als ob sie alles wieder heil machen wollten. Aber mein Knie würde nie wieder 100 Prozent in Ordnung sein, womit ich jedoch ganz gut leben konnte, obwohl ich erst zweiundzwanzig war. Vielleicht würde Jess auch irgendwann so weit sein, damit klar zu kommen, dass nicht alles im Leben nach Plan lief.

Die Gefühle, welche sich in mir aufbauten, als sie meine Narbe zärtlich küsste, waren viel stärker, als alles andere, was ich bisher in puncto Berührungen erlebt hatte. In diesem Moment wusste ich, dass ich Jess wirklich aus tiefstem Herzen liebte. Ich würde alles dafür tun, um sie glücklich zu machen. Alles.

„Jess", murmelte ich leise, was sie dazu veranlasste, ihren Kopf zu heben.

„Ja, Niall?", hauchte sie mir entgegen, dass ich innerlich zu zittern begann.

Als unsere Augen sich eine Sekunde später trafen, begann mein Herz zu sprechen.

„Ich liebe dich."

Der Glanz in ihren Augen war wohl das Schönste, das ich jemals gesehen hatte, und ihre Worte, das Beste, was ich jemals gehört hatte.

„Ich liebe dich auch, Niall."

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Lasst uns heute die 10 k Reads knacken! Ihr seid Wahnsinn, Leute! Ich habe so viele tolle Kommentare und auch Privatnachrichten bekommen, das ist unglaublich! Ich kann nichts sagen, außer Danke, das ist umwerfend!

Ich hoffe nicht, dass ihr das Kapitel langweilig oder zu schnulzig fandet, ich wollte einfach nur ausdrücken, wie viel die beiden füreinander empfinden. Hoffentlich ist mir das gelungen! Ihr dürft gerne kommentieren und voten, das würde mich freuen.

LG, Ambi xxx



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