26. The Promise
Jess
Seit Tagen kannte ich nur ein Gesprächsthema, wenn ich mich mit Anne unterhielt: Unseren Trip nach London, bei welchem ich NJ endlich kennenlernen würde. Gleich nachdem ich meine Skype Korrespondenz mit ihm beendet hatte, in der mir die genauen Daten des Besuches mitteilte, hatte ich ihr Bescheid gegeben, damit sie rechtzeitig planen konnte. Meine beste Freundin war nun Feuer und Flamme, obwohl sie mir zunächst nicht glaubte, dass sie Harry Styles persönlich kennenlernen würde. Erst als ich ihr die Skype Unterhaltung mit NJ zeigte, konnte ich sie davon überzeugen.
„Oh Gott, Jess, was soll ich bloß anziehen, wenn wir nach London fahren?"
Annes Blick ging hilfesuchend zu mir. Sie war gerade von der Arbeit gekommen und hatte nichts Besseres zu tun, als mich mit diesem Thema zu überfallen. Einerseits war ich ihr unglaublich dankbar dafür, andererseits stellte ich mir nahezu die gleichen Fragen. Seit ich im Rollstuhl saß, maß ich meiner Garderobe nämlich keinerlei Bedeutung mehr zu. Das sollte sich nun ändern, denn ich konnte schließlich nicht in einem ausgeleierten Sweatshirt und einer Jogginghose in London aufkreuzen. Hinzu kam, dass viele meiner Kleidungsstücke an einigen Stellen zu eng geworden waren, da ich mangels Bewegung drei Kilo zugenommen hatte.
„Wir sollten dringend shoppen gehen", schlug Anne schließlich vor, was ich mit einem tiefen Seufzen zur Kenntnis nahm.
Es schien Ewigkeiten her zu sein, dass ich mit ihr eine Shoppingtour veranstaltet hatte und damals hatte ich noch laufen können. Nun würde es ziemlich schwierig werden, solch eine Aktion zu starten, doch ich wollte es versuchen. NJ zuliebe, denn er verdiente einfach, dass ich das Beste aus mir machte, wenn ich ihn traf.
„Von mir aus können wir gleich morgen losfahren", wandte ich mich an Anne.
„Ok, da morgen Freitag ist, habe ich eher Feierabend. Ich komme dich dann abholen und keine Angst, wir kriegen das mit deinem Rollstuhl irgendwie hin", versicherte sie.
Ein bisschen mulmig wurde mir schon zumute, wenn ich daran dachte, denn es war das erste Mal seit meinem Unfall, dass ich wieder shoppen gehen würde. Bisher hatte ich nämlich keinerlei Veranlassung gesehen, dies zu tun. Aber jetzt gab es einen guten Grund, der NJ hieß und vermutlich genauso sehnsüchtig auf mich wartete wie ich auf ihn.
„Morgen früh muss ich auch noch zur Physiotherapie", seufzte ich ein wenig unmotiviert.
„Ach komm schon, das kriegst du doch hin." Anne nahm mich kurz in den Arm und drückte mich an sich, was mir zeigte, wie eng wir noch immer miteinander verbunden waren. Selbst dieser schreckliche Unfall und meine daraus resultierende Unfähigkeit zu laufen, konnte unserer Freundschaft nichts anhaben.
Seit ich mein rechtes Bein wieder spüren konnte, musste ich zweimal pro Woche bei unserem Therapeuten vorsprechen, der sich bemühte, meine Muskeln wieder aufzubauen. Es fiel mir schwer, mich auf die Übungen, die zudem sehr anstrengend waren, zu konzentrieren. Hinzu kam die Tatsache, dass mir ein Bein nichts nützte. Ich konnte nicht einmal laufen, ganz abgesehen vom Tanzen.
So fristete ich mein Dasein nach wie vor in diesem Rollstuhl dahin. Trotzdem hatte ich ein wenig Lebensmut geschöpft, mein Ziel war es, nach London zu reisen, um diesen liebenswerten Chaoten kennenzulernen, der so wundervoll schreiben konnte. Wahrscheinlich würde er, ohne sich zu beschweren, meinen Rollstuhl durch die Gegend schieben.
„Ok", hörte ich Anne sagen, „ich komme dich morgen gegen drei Uhr abholen und dann fahren wir in die Stadt."
„Fein, gehen wir dann auch Eis essen?"
„Natürlich, was dachtest du denn?"
Anne war einfach die beste Freundin der Welt, das stellte ich immer wieder fest. Nachdem sie sich verabschiedet hatte, schrieb ich einige Zeilen an NJ.
„Ich gehe morgen mit Anne shoppen. Sie ist schon ganz aufgeregt, weil wir bald nach London fahren."
Er antwortete prompt. „Das hört sich doch gut an. Was wollt ihr denn alles einkaufen?"
„Neue Klamotten, was sonst?"
„Für was?"
„Ich kann doch nicht in einer alten Jogginghose dort auftauchen", schrieb ich entrüstet zurück, worauf er antwortete: „Das wäre doch mal was Neues, vielleicht wird es ja zum Trend."
Mein Lachflash war so stark, dass ich fast wieder aus dem Bett fiel, ich konnte mich gerade noch festhalten. Wie ich seinen Humor liebte, der einfach perfekt für mich war! Ich konnte es kaum noch erwarten, nach London zu reisen und ihn endlich zu sehen. Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn wir uns umarmten?
Der nächste Tag begann mit dem Besuch beim Physiotherapeuten, welcher überaus frustrierend war. Ich hatte Schwierigkeiten, das Bein mit den Gewichtsmanschetten anzuheben, obwohl ich mich bemühte. Jedenfalls redete ich mir ein, dass ich mir Mühe gab, doch der Therapeut schien das anders zu sehen.
„Jess, du musst dich mehr anstrengen", forderte er mich auf.
„Ich tue mein Bestes", schnaufte ich erbost.
Meine Angst, dass die Schmerzen im Knie wieder auftauchen könnten, wenn ich das Bein zu stark belastete, war größer als den Versuch starten zu wollen, die Muskeln wieder aufzubauen. Es war ein Teufelskreis in dem ich mich befand, ich wusste das sehr wohl, doch ändern konnte ich es nicht. Zudem kam immer wieder der Gedanke auf, dass ein intaktes Bein mit einem kaputten Knie nichts wert war. Da konnte ich genauso gut im Rollstuhl sitzen bleiben.
Müde und ein wenig deprimiert traf ich mit meiner Mutter zur Mittagszeit zuhause ein. Gemeinsam nahmen wir das Mittagessen ein, anschließend suchte ich mein Zimmer auf, wo ich so lange auf dem Bett lag, bis Anne endlich eintraf, um mich zur Shopping Tour abzuholen. Zuerst fühlte es sich komisch an, an ihrer Seite durch die Fußgängerzone zu rollen, doch je länger wir uns in der Stadt aufhielten, desto mehr gewöhnte ich mich daran. Anne kaufte drei T-Shirts, zwei Jeans und ein Paar Schuhe, während ich zwei T-Shirts, einen dünnen Schal und neue Unterwäsche erstand.
Nach unseren erfolgreichen Einkäufen gönnten wir uns jeder ein Eis. Es fühlte sich himmlisch an, im Außenbereich des Eiscafés zu sitzen, zumal die Sonne an diesem Tag kräftig schien. Vorsichtig streckte ich das rechte Bein aus, was Anne dazu veranlasste einen Kommentar abzugeben.
„Hoffentlich kannst du dein anderes Bein auch bald wieder spüren. Ich wünsche dir das so sehr, Jess."
Nachdenklich löffelte ich das Eis aus der Glasschale, denn ich wusste nicht, ob ich den gleichen Wunsch verspürte. Ich würde nie wieder tanzen können und vielleicht auch nie wieder richtig laufen.
„Lass uns nach Hause fahren", sagte ich gedankenverloren, nachdem wir das Eis aufgegessen hatten.
Zuhause angekommen, zeigte ich meiner Mutter die Einkäufe und rollte dann in mein Zimmer. Ich war ein bisschen fertig, denn der Trip in die Stadt war ungewohnt und zehrte an meinen Kräften. Wenn man den halben Tag im Bett verbrachte, so wie ich, dann wurde man schneller müde. Meine Lider fühlten sich schwer wie Blei an und so versank ich binnen kürzester Zeit in einen tiefen Schlaf.
Ein lautes Klopfen, sowie Malcolms Stimme weckten mich jedoch einige Stunden später wieder auf.
„Jess! Wach auf! Ich muss dir was zeigen! Sieh mal, was ich gefunden habe!", rief er mir entgegen.
Langsam blinzelnd versuchte ich mich aufzusetzen und zu erkennen, was er in seiner Hand trug. Als er sich dem Bett näherte, erspähten meine Augen ein kleines Igel-Baby. Mit einem Schlag war ich hellwach.
„Oh mein Gott ist das süß! Wo hast du das denn gefunden?", keuchte ich.
„In unserem Garten, von der Mutter fehlt jede Spur", erklärte Malcolm. „Mum und Dad haben gesagt, dass wir versuchen sollten, ihn zu füttern", setzte er noch hinzu.
„Aber mit was denn?"
Fragend schauten meine Augen zu dem kleinen Tier, das sich in Malcolms Hand zusammengerollt hatte. Er schien keine Angst zu haben, ansonsten hätte er nämlich seine Stacheln aufgestellt.
„Er schläft heute Nacht in einem Pappkarton und morgen früh bringen wir ihn zum Tierarzt", klärte mein Bruder mich auf, was ich mit einem Nicken zur Kenntnis nahm.
Inbrünstig hoffte ich, dass wir dem kleinen Igel helfen konnten.
„Also, ich gehe dann mal schlafen", verabschiedete sich Malcolm von mir.
Erstaunt stellte ich fest, dass es bereits halb zwölf in der Nacht war. Da NJ heute Abend arbeiten musste, schickte ich ihm nur eine kurze Nachricht mit einem Smiley, sowie den Satz: „Gute Nacht, ich hab dich lieb."
Lächelnd beobachtete ich, dass er etwas schrieb. „Gute Nacht, Jess, schlaf gut, ich hab dich auch lieb. Erzähl mir morgen, was du alles eingekauft hast, ok?"
Es war so süß, wie er sich für alles interessierte, was mich und mein Leben betraf. Grinsend legte ich das Handy zur Seite, als mir bereits erneut die Augen zufielen.
Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte, nur dass Malcolm morgens in mein Zimmer gestürmt kam, um mir zu sagen, dass der kleine Igel nun bei uns bleiben, und mit einer Art Muttermilchersatz gefüttert werden würde. Zu diesem Zweck hatte der Tierarzt meinem Bruder wohl eine winzige Babyflasche mitgegeben.
„Lass mich das machen, bitte!", bettelte ich, bevor er noch irgendetwas sagen konnte.
Nun verzog sich Malcolms Gesicht zu einem breiten Grinsen.
„Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest", meinte er erfreut und stürmte anschließend aus dem Zimmer, um kurz darauf mit dem Pappkarton in seiner Hand zurückzukehren.
Behutsam setzte er den Igel auf meinen Schoß, drückte die Flasche in meine Hand und sagte: „Dann mal los, Mama, der Kleine braucht dich."
Vorsichtig versuchte ich dem kleinen Tier die Milch einzuflößen, was zu meiner Überraschung auch recht gut gelang. Er trank sogar ziemlich viel, fast den kompletten Inhalt der Flasche, und rollte sich dann zufrieden auf meinem Schoß zusammen. Als ich auf den Winzling blickte und sanft über seine Stacheln streichelte, fühlten sich diese ganz weich an, da der Igel sich wohl nicht einer Bedrohung ausgesetzt sah.
„Na, mein Kleiner, wir brauchen einen Namen für dich", murmelte ich leise vor mich hin und dann ganz plötzlich wusste ich, wie ich ihn nennen wollte.
Schmunzelnd holte ich mein Hand hervor, schoss ein Foto von ihm, welches ich nun per Skype an NJ schickte. Darunter schrieb ich einen kurzen Text.
„Das ist NJ! Ich habe ihn nach dir benannt, weil er so süß ist."
Vermutlich würde ich noch eine Weile auf seine Antwort warten müssen, da er mit Sicherheit noch schlief. Also platzierte ich den Igel vorsichtig auf meinem Kissen, neben meinen Kopf und schaute einfach nur zu, wie er ein Nickerchen machte. Da ich nicht aufstehen, und den kleinen Kerl stören wollte, schickte ich eine Whatsapp Nachricht an Malcolm, dass er mir bitte das Frühstück ans Bett bringen sollte.
Mein Bruder und auch meine Eltern hatten vollstes Verständnis für meine Lage und so frühstückte ich seit langer Zeit mal wieder im Bett. Anschließend tat ich es dem kleinen Igel gleich, indem ich eine ganze Stunde schlief. Viel verpassen konnte ich nicht, denn es regnete in Strömen. Eigentlich hätte ich meine Übungen mit dem Bein machen müssen, doch ich konnte mich im Moment nicht dazu aufraffen, denn mein kuscheliges Bett zu verlassen, schien gerade jetzt nicht erstrebenswert zu sein.
Irgendwann erwachte ich wieder, weil sich etwas bewegte. Der Igel lag jetzt genau an meiner Wange, seine winzige Schnauze fühlte sich ein bisschen feucht an und kitzelte ein wenig. Grinsend hob ich meinen Kopf, betrachtete das kleine Tier und griff dann nach meinem Handy, das unter die Bettdecke gerutscht zu sein schien. Das Erste, was ich erblickte, war eine Skype Nachricht von NJ.
„Ich bin schon wach und habe das Bild mit „NJ" gesehen. Er ist wirklich sehr süß, aber wie kommst du darauf, dass ich es vielleicht auch bin?"
Das war mal wieder typisch für ihn.
„Weil ich es so empfinde", tippte ich, gefolgt von dem Satz: „Du bist also zufrieden damit, dass ein Igel nach dir benannt wurde?"
„Oh ja, denn er ist echt putzig."
„Er schläft in meinem Bett!", klärte ich NJ auf, dessen Antwort ein schelmisches Grinsen in meinem Gesicht erzeugte.
„Was?! Jetzt bin ich echt eifersüchtig auf NJ!"
„Warum denn das? Er ist doch noch so klein, er braucht mich!", gab ich kontra.
Gespannt blickte ich auf seinen nächsten Satz.
„Vielleicht brauche ich dich ja auch."
Die nächsten Worte kamen aus meinem Bauch heraus, es war das, was ich seit langem spürte.
„Ich glaube, ich brauche dich mehr als du mich."
„Falls das jetzt eine Anspielung darauf sein sollte, dass du in meinem Bett schlafen willst, können wir gerne in London darüber diskutieren", lautete seine Antwort.
„Wir schießen schon wieder über das Ziel hinaus."
„Das sehe ich anders, wir testen Grenzen aus."
NJ hatte Recht, wir taten das ständig, jeden Tag und immer wieder aufs Neue. Wie würde es sein, wenn wir uns endlich sehen konnten, von Angesicht zu Angesicht? Ob wir uns dann noch immer so gut verstehen würden?
Einerseits hatte ich ein bisschen Angst vor diesem Treffen, andererseits konnte ich es kaum erwarten, ihm persönlich zu begegnen. Ihm schien es wohl ähnlich zu gehen, denn er schrieb plötzlich: „Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht von mir, wenn du mich siehst und richtig kennenlernst."
„Das hoffe ich umgekehrt genauso".
„Mach dir keine Gedanken, Jess, du bist wundervoll, wenn etwas schief gehen sollte, liegt das an mir", ließ er mich wissen.
Eine Aussage, die mich zugegeben etwas verwirrte. Er war so perfekt, es konnte gar nichts schief gehen! Wir würden sicher eine wunderschöne Zeit in London haben und bis dahin jeden Tag schreiben.
Die Zeit flog dahin und wir kamen dem London Trip immer näher. Hin und wieder hörte ich einige Lieder von One Direction an, die Anne mit meinem Einverständnis auf mein Handy geladen hatte. Sie waren gar nicht mal so schlecht, ich hatte mir die Musik wesentlich schlimmer vorgestellt. Trotzdem drängte sich mir nach wie vor der Verdacht auf, dass die Jungs nicht viel zu ihrer Musik beitrugen und sich live bestimmt schrecklich anhörten. Aber für NJ würde ich auch dieses Konzert überstehen, nichts konnte mich davon abhalten, ihn kennenzulernen. Und erst recht nicht eine talentfreie Boyband.
Jeden Morgen strich ich einen Tag auf dem Kalender durch, heute waren es nur noch zehn Tage, bis wir uns endlich treffen würden! Komischerweise musste ich gerade an Norman denken, der sich seit seinem letzten Besuch, also einen Tag vor meinem Geburtstag, nicht mehr gemeldet hatte. Mit Sicherheit stimmte NJs Theorie, dass Norman sich für mich interessierte und nun enttäuscht war, weil keine Reaktion meinerseits bezüglich der roten Rosen erfolgt war. Eigentlich konnte mir das nur recht sein.
Mit einem zufriedenen Lächeln schlug ich die Bettdecke zurück, doch als ich mich voller Elan vom Bett in den Rollstuhl hievte, passierte es plötzlich: Ich spürte mein linkes Bein. Hektisch tastete ich mit den Fingern auf dem Oberschenkel herum, um mich davon zu überzeugen, dass ich keiner Illusion verfallen war, doch alles entsprach der Realität. Ich spürte meine Finger, sowie den Stoff der dünnen Schlafanzughose.
„Mum!", schrie ich hektisch. „Mum! Bitte komm sofort!"
Nichts rührte sich und so fuhr ich schließlich mit dem Rollstuhl in die Küche, wo ein großer Zettel auf der Anrichte platziert war.
„Bin zum Einkaufen gefahren, Gruß, Mum."
Der Frühstückstisch war bereits für mich gedeckt, ich hätte mich hinsetzen und essen können, doch im Moment war ich nicht dazu fähig. Aufregung, egal welcher Art, schlug mir seit jeher auf den Magen. Mit zitternden Fingern kramte ich das Handy hervor und begann eine Nachricht an NJ zu schreiben. In seiner Zeitzone musste es ungefähr drei Uhr morgens sein, doch vielleicht hatte ich Glück und er war noch wach.
„NJ, bitte melde dich, wenn du auf bist! Ich muss mit dir reden! Es ist dringend!"
Bange Sekunden vergingen, doch dann sah sich, dass er zurückschrieb.
„Was ist los Jess? Ich bin noch wach, du kannst über alles mit mir reden."
„Ich kann das andere Bein spüren, oh Gott, ich muss heulen", antwortete ich unter Tränen, weil ich total fertig war.
„Jess, das ist toll, ich freue mich für dich und kann verstehen, dass du gerade ein wenig ausrastest. Aber es gibt keinen Grund zur Panik, oder tut das Bein weh?", kam es besorgt von ihm.
„Nein, es tut nicht weh... Ich bin nur so durcheinander, verstehst du?"
„Klar verstehe ich das!"
Und dann schrieb er etwas, was mich im ersten Augenblick vollkommen verwirrte.
„Fass dein Bein an und beschreibe mir, was du dabei fühlst."
Perplex starrte ich auf die Schrift auf dem Display.
„Wieso soll ich das denn tun?"
„Frag nicht, mach es einfach. Nimm deine Hand, leg sie auf das Bein und schließe deine Augen. Dann sagst du mir, was du spürst."
Er stellte mich vor eine ziemlich merkwürdige Aufgabe, die ich jedoch nicht ablehnen wollte.
„Ok, ich probiere es."
„Fein."
Als ich meine freie Hand auf den Oberschenkel legte und gleichzeitig die Augen schloss, versuchte ich mich nur auf das Bein zu konzentrieren. Bestimmt verging ein Minute, ehe ich mich dazu in der Lage sah, NJ diese Empfindungen mitzuteilen, die einfach überwältigend waren.
„Es fühlt sich warm an und so lebendig, obwohl ich es noch nicht richtig bewegen kann."
Erneut stürzten Tränen aus meinen Augen, es war einfach alles zu viel im Moment, und so schrieb ich zurück: „Ich wünschte, du könntest jetzt bei mir sein und mich in den Arm nehmen. Ich brauche dich gerade so sehr, bitte hör nicht auf, mit mir zu schreiben."
„Keine Panik, ich bin da, Jess. Versuche, dich ein wenig zu beruhigen. Es ist doch schön, dass du dein Bein wieder fühlst, oder?"
„Ja, aber ich habe trotzdem Angst, verstehst du?"
Zitternd wischte ich die Tränen aus meinen Augen, starrte noch immer auf meine Beine, die sich nicht mehr taub anfühlten und doch saß das Gefühl in meinem Herzen fest, dass ich nie wieder richtig laufen konnte. Das kaputte Knie trug die Schuld an meiner Einstellung, und vor allem an den Ängsten, die mich plagten. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass NJ so hartnäckig sein würde.
„Jess, bitte beruhige dich, ich bin für dich da und ich möchte dir jetzt sagen, dass du nicht aufgeben sollst. Bitte geh so schnell wie möglich zum Arzt. Du brauchst keine Angst zu haben, er wird nichts Schlimmes mit dir anstellen. Und vergiss nicht, ich bin immer an deiner Seite, egal, was passiert."
Er war so unglaublich süß, so rührend, einfühlsam und er setzte Kräfte und Hoffnungen in mir frei, die ich längst verloren glaubte.
„Ich werde meiner Mum gleich Bescheid sagen, wenn sie zuhause ist, dann fahren wir zum Arzt", versprach ich schließlich, was NJ wohl zufrieden stellte.
„Gut, und nun möchte ich dass du dich ein wenig beruhigst und ins Bett legst, bis deine Mutter wieder zuhause ist", forderte er mich auf.
Er schien mich wirklich gut zu kennen, meine Empfindungen wahrzunehmen, denn die Aufregung hatte tatsächlich von meiner Seele Besitz ergriffen, jedoch fiel diese langsam von mir ab, je länger ich mit NJ schrieb. Auf wundersame Art und Weise gelang es ihm, mich so weit zu beruhigen, dass ich mich tatsächlich hinlegte, bis meine Mutter vom Einkaufen zurückkehrte.
Es kostete mich trotzdem alle Überwindung am Nachmittag den Arzt und anschließend den Physiotherapeuten aufzusuchen, um meine Beine anschauen zu lassen. Großartige Änderungen gab es jedoch nicht, denn das linke Bein war im Gegensatz zum rechten beim Unfall unversehrt geblieben.
Die Physiotherapie sah vor, dass ich nach wie vor zweimal pro Woche vorbeischauen, und auch weiterhin zuhause meine Übungen absolvieren sollte. Jedoch war ich viel zu ängstlich den Versuch zu wagen, mich auf die Beine zu stellen und mit dem Laufen zu beginnen. Alles tat weh, die Muskeln schienen noch nicht kräftig genug zu sein, obwohl ich trainierte. Der Therapeut verzweifelte fast an mir, doch ändern konnte er es nicht.
„Jess, du musst es versuchen", versuchte er mir gut zuzureden, doch ich hatte einfach keine Kraft, weil die Angst, vielleicht hinzufallen und alles noch schlimmer zu machen, mich lähmte.
„Ich kann nicht", schluchzte ich an diesem Montag, drei Tage vor unserem London Trip.
„Dann möchtest du also weiterhin in deinem Rollstuhl sitzen und auch damit nach London fahren", stellte er mit ruhiger Stimme fest.
„Das hätte ich sowieso getan", erwiderte ich unter Tränen.
Warum quälten mich alle so sehr? Konnten sie denn nicht sehen, wie sehr ich litt? Selbst meine Eltern und Malcolm forderten mich täglich dazu auf, doch wenigstens den Versuch zu starten, einige Schritte zu gehen. Aber jeder stieß auf taube Ohren, was diese Sache anging. Mit mir war in diesem Punkt nicht zu verhandeln.
Als ich an diesem Tag von der Physiotherapie nach Hause kehrte, schrieb ich wie gewöhnlich mit NJ, der sich bereits in London aufhielt. Unser Treffen rückte in greifbare Nähe und somit auch die Vorfreude, sowie ein gewisses Maß an Aufregung. Würden wir uns noch so gut verstehen, wenn wir uns persönlich kannten? Nach wie vor besaß er mein uneingeschränktes Vertrauen, da er im Moment zusammen mit Anne der einzige Mensch war, der mich nicht bedrängte, was das Laufen anging.
„Hey, ich komme gerade von der Physiotherapie und bin mal wieder total down", schrieb ich ihn einfach auf Skype an, in der Hoffnung, dass er bald antworten würde.
Tatsächlich dauerte es nur wenige Minuten, bis er sich meldete.
„Klappt es noch immer nicht mit dem Laufen?", erkundigte er sich, gefolgt von einem traurigen Smiley.
„Nein, denn ich habe noch wie vor Angst", ließ ich ihn wissen, bevor ich das Handy kurz zur Seite legte, um den kleinen Igel zu streicheln, der es sich wie so oft auf meinem Kopfkissen gemütlich machte.
„Komm her Süßer", flüsterte ich und nahm ihn auf den Schoß.
Anschließend griff ich wieder nach meinem Handy, um zu sehen, was NJ geantwortet hatte. Vor Überraschung entglitt das Handy beinahe meinen Fingern, ich konnte es gerade noch verhindern und starrte mit klopfendem Herzen auf das Display. Denn die Worte, welche NJ nun schrieb, wühlten alles in mir auf.
„Jess, ich möchte dir jetzt und hier ein Versprechen abnehmen."
Meine Finger zitterten noch immer ein wenig, als ich auf dem Display des Handys herumtippte.
„Was denn für ein Versprechen?"
Ich hatte keine Ahnung, was er von mir verlangte, jedoch wusste ich, dass ich ihm nichts abschlagen würde. Als ich seine nächsten Worte las, schlug mein Herz unkontrolliert, teils vor Angst, teils vor Freude.
„Bitte versprich mir, dass du versuchst zu laufen, wenn ich dir meine Hand reiche."
Dies sagte so viel über ihn aus, über seine Bereitschaft, mich nicht aufzugeben und mir helfen zu wollen, so gut es ihm möglich war. Ich vertraute ihm wie keinem anderen Menschen, und so gab es darauf nur eine Antwort, die aus tiefstem Herzen erfolgte. Tränen des Glücks liefen meine Wangen hinab, als ich ihm schrieb.
„Ich verspreche es."
In diesem Augenblick wusste ich, dass ich den Versuch wagen würde, wenn er an meiner Seite war.
„Wirklich?" Er schien zu zweifeln, doch ich blieb dabei, denn ich wollte es versuchen.
„Ja."
Der Gedanke daran, dass er bald meine Hand halten würde, löste eine Menge an Gefühlen in mir aus. Er wollte mir helfen, er würde mich nicht loslassen, aber konnte ich es wirklich schaffen wieder zu laufen?
„Es sind nur noch drei Tage, Jess."
„Ich weiß, und ich kann es nicht mehr erwarten, dich zu sehen."
„Mir geht es genauso."
Wir texteten bis in die Nacht hinein, wie so oft, und ich schickte ihm ein Foto von meinen Beinen, welches er sogleich kommentierte.
„Sie sehen gar nicht mehr so dünn aus wie am Anfang."
Das stimmte wohl, denn ich trainierte fast täglich im Sitzen mit den Gewichtsmanschetten, welche der Physiotherapeut mir privat zur Verfügung stellte. Trotzdem war ich noch nicht einen einzigen Schritt gelaufen.
Ich hoffte, dass ich es am Donnerstag schaffen würde, so wie ich es NJ versprochen hatte. Bestimmt würde er mir die nötige Kraft geben, wenn er meine Hand hielt. Und bis dahin zählte ich nun die Tage.
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So, hier ist nun das Versprechen, das Niall Jess abnimmt! Ob sie es wohl schaffen wird, vor allem wenn sie erfährt, wer er wirklich ist?
Ich habe euch ja so lange auf die Folter gespannt, was das Treffen zwischen Niall und Jess angeht, aber... die Durststrecke ist zu Ende, denn im nächsten Kapitel sehen sich die beiden zum ersten Mal! Seid ihr gespannt darauf? Ich hoffe doch sehr!
Auch dieses Kapitel möchte ich einer meiner Lieblingsautorinnen auf Wattpad widmen: dropthathoran !
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