24. Happy Birthday

Jess

Der zweite Tag im Krankenhaus war angebrochen. Gleich würde man mich zu dieser Untersuchung abholen, doch einstweilen lag ich noch in meinem Bett und ließ die letzten Tage Revue passieren. Angefangen hatte alles mit diesen heftigen Schmerzen im Knie, die mitten in der Nacht, aus heiterem Himmel aufgetaucht waren. Ich brauchte volle fünf Minuten, um zu realisieren, dass mein Bein nicht mehr gefühllos war, sondern dass ich dieses bis zu den Fußzehen hinunter spüren konnte. Eigentlich hätte ich mich darüber freuen müssen, doch die Schmerzen nahmen mir jegliches Glücksgefühl.

Automatisch wanderten meine Gedanken nun zu NJ. Es war unglaublich, wie er sich in dieser Nacht um mich gekümmert hatte. Noch immer traten Tränen der Rührung in meine Augen, als ich mich daran erinnerte. Ohne zu zögern hatte er mir seinen Skype Namen mitgeteilt, so konnten wir besser schreiben. Wahrscheinlich würden wir auch dabei bleiben, denn diese Art der Kommunikation war viel einfacher, als ständig auf eine E-Mail zu warten.

Es fühlte sich an, als seien wir einen großen Schritt vorwärts gegangen, was unsere Freundschaft betraf. Diese Nacht hatte etwas verändert. Ich konnte nicht genau sagen, um was es sich handelte, doch ich fühlte mich ihm so nahe, näher als je zuvor. Er schien fast greifbar zu sein und sein Vorschlag, dass wir uns irgendwann treffen sollten, gefiel mir außerordentlich gut.

Ich hatte keine Angst vor diesem Treffen, obgleich ich wusste, dass Anne nicht begeistert davon sein würde. Sie wollte mich nachher im Krankenhaus besuchen kommen, wie ich ihrer letzten Whatsapp Nachricht entnehmen konnte. Natürlich freute ich mich darüber, denn es war, bis auf die Skype Unterhaltungen mit NJ, stinklangweilig in diesem Krankenzimmer. Zwar gab es einen Fernseher, doch der sendete nur Schrott. Dementsprechend freute ich mich natürlich über Besuch.

Meine Eltern und Malcolm hatten gestern Abend noch kurz vorbeigeschaut, heute würde Anne kommen und morgen durfte ich bereits wieder nach Hause. Es sei denn, man würde beim CT etwas Schlimmes entdecken, so jedenfalls drückte der Stationsarzt sich aus.

Seufzend starrte ich die Decke an, als es auch schon an die Tür klopfte, und kurz darauf eine Krankenschwester das Zimmer betrat.

„So, Jess, ich komme dich jetzt abholen", sagte sie lächelnd.

Das Komische war, dass man im Krankenhaus nicht alleine in den Rollstuhl steigen durfte, obwohl ich das zuhause immer tat. Schwester Peggy schob mich zu den Aufzügen, und der erste, dessen Türen sich öffneten, transportierte uns in das Erdgeschoss. Dort befanden sich die ganzen Untersuchungsräume, sowie die dazu gehörigen Gerätschaften.

Mit klopfendem Herzen ließ ich alles über mich ergehen, es war nicht der Rede wert, NJ hatte wirklich Recht. Binnen kürzester Zeit lag ich wieder in meinem Bett und wartete nun gespannt auf den Besuch des Oberarztes, der mir Auskunft erteilen würde, was die Untersuchung ergeben hatte.

Instinktiv öffnete ich den Chatverlauf mit NJ in Skype und stellte fest, dass er mir gerade geschrieben hatte.

„Guten Morgen, Jess (in England war es bereits Mittag), hast du alles gut überstanden? Und gibt es schon ein Ergebnis?"

Er war schon wieder früh aufgestanden, denn in den Breitengraden, in welchen er sich gerade aufhielt, zeigte die Uhr sieben am Morgen. Natürlich antwortete ich ihm sofort.

„Ich habe alles gut überstanden, aber noch kein Ergebnis. Du bist ja schon wieder so früh auf. Ich bekomme echt ein schlechtes Gewissen."

Bevor ich NJs Antwort lesen konnte, erschien der Oberarzt, um das Ergebnis der Untersuchung mitzuteilen.

„Wir haben nichts Außergewöhnliches entdecken können, jedenfalls nichts, was uns nicht schon bekannt wäre", erklärte er. „Haben Sie sich vielleicht das Knie vor kurzer Zeit angestoßen?", erkundigte er sich.

„Nicht, dass ich wüsste."

„Was macht das andere Bein?"

Er setzte sich auf das Bett, schlug die Decke zurück und tastete auf dem gefühllosen Anhängsel herum. Ich spürte nichts, außer ein leichtes Kribbeln, was ich ihm mitteilte.

„Sie können damit rechnen, dass Sie das andere Bein auch bald wieder spüren werden, Miss Meyers. Ab dann sollten sie mit der Physiotherapie beginnen, um die Muskeln wieder aufzubauen."

Insgeheim stellte ich mir wie so oft die Frage, wozu ich das tun sollte, sprach diesen Gedanken jedoch nicht aus. Wahrscheinlich hätten die Ärzte mich dann sofort in eine Psychiatrie gesteckt.
Nachdem der Doktor wieder verschwunden war, führte ich mir NJs Antwort zu Gemüte.

„Du brauchst absolut kein schlechtes Gewissen zu haben, ok? Ich tue das gerne."

Wie sehr wünschte ich mir plötzlich den Monat September herbei! Doch was würde bis dahin mit meinen Beinen passieren? Für einen kurzen Augenblick dachte ich darüber nach, wie schön es wäre, NJ entgegen laufen zu können. Sollte er meine neue Motivation sein? Dank ihm schaffte ich es jeden Tag zu lachen, er munterte mich stets auf, er war einfach für mich da. Schuldete ich ihm da nicht etwas?
Nachdenklich blickte ich auf das Handy und begann zu tippen.

„Der Arzt hat gesagt, dass es vermutlich nicht mehr lange dauert, bis ich mein anderes Bein auch spüre, ich habe ein bisschen Angst davor."

„Warum denn?"

„Weil es vielleicht auch wehtut. Ach ich weiß selbst nicht so genau."

Ich befand mich in einer sehr zwiespältigen Stimmung, was NJ zu spüren schien, denn er versuchte nun, mich ein bisschen aufzuheitern. Seine Nachricht schlug ein, wie eine Bombe.

„Ich werde Katy Perry nächsten Monat sehen und versuchen, ein Autogramm für dich zu ergattern."

„Im Ernst? Du verarschst mich jetzt nicht?", lautete meine euphorische Antwort.

„Das würde ich niemals tun. Ich treffe sie wirklich."

„Oh mein Gott!!!!"

Noch immer ein wenig fassungslos starrte ich auf unsere Skype Korrespondenz. NJ hatte ja solch ein Glück! Ich beneidete ihn wirklich, gleichzeitig kam die Frage auf, welchen konkreten Job er im Music Business ausübte. Er war nie näher darauf eingegangen, deshalb sprach ich dieses Thema erneut an.

„Ich erkläre es dir genau, wenn wir uns sehen", bekam ich zur Antwort, die mich zwar nicht hundertprozentig, aber zumindest ein bisschen zufriedenstellte.

Die Zeit verging wie im Flug, als ich mit NJ schrieb, und kaum beendeten wir unsere Korrespondenz, tauchte Anne auf, die mich sogleich heftig umarmte.

„Was ist mit deinem Knie?", fragte sie ohne Umschweife.

Als ich ihr erzählte, dass die Untersuchungen eigentlich nichts weiter ergeben hätten, zuckte sie resigniert mit den Schultern.

„Dann warst du also ganz umsonst hier. Du hast uns echt einen Schrecken eingejagt mit deiner Schmerzattacke."

„Tut mir leid", grinste ich, „ich mache es wieder gut", worauf Anne nur lachte.

„Ich bin froh, wenn du wieder zuhause bist", meinte sie und streichelte kurz über meine Wange.
Seufzend lehnte ich mich in das Kissen zurück. „Ich wünschte, sie würden mich sofort nach Hause lassen."

Wir begannen eine Unterhaltung, welche sich zunächst um Annes neues Auto drehte und schließlich irgendwann bei der Gruppentherapie endete. Da Anne den Grund, warum ich dort nicht mehr aufkreuzen wollte, noch immer nicht kannte, erklärte ich ihr diesen nun.

„Willst du es wirklich nicht noch einmal versuchen, Jess?" stellte sie ihre Frage, nachdem ich meine Ausführungen beendet hatte, doch ich schüttelte nur meinen Kopf.

„Sei mir bitte nicht böse, aber das bringt nichts, zumindest nicht im Moment", wehrte ich entschieden ab, was Anne wohl oder übel akzeptieren musste.

Sie leistete mir bis in die späten Abendstunden Gesellschaft, was es mir nicht ermöglichte, nochmals mit NJ schreiben zu können. Als Anne sich gegen zehn verabschiedete, hatte er mir eine Nachricht auf Skype hinterlassen.

„Ich bin jetzt arbeiten und melde mich, wenn ich wieder Zeit habe. Schlaf schön und ich freue mich, wenn du morgen wieder zuhause bist. Ich hab dich lieb, NJ."

Oh Gott, er war so süß! Ich himmelte wirklich einen Menschen an, den ich noch nie gesehen hatte, das war echt krass.

„Ich hab dich auch lieb, NJ", schrieb ich zurück, bevor ich mich hinlegte, um zu schlafen.

Am nächsten Morgen befand sich bereits eine neue Skype-Nachricht von NJ in unserer Korrespondenz, die mich sogleich zum Lächeln brachte.

„Hey Jess, ich bin gerade von der Arbeit zurückgekommen und werde jetzt erstmal versuchen zu schlafen. Wenn du diese Zeilen liest, liege ich vermutlich noch in meinem bequemen Bett, was dich aber nicht davon abhalten soll, mir zu schreiben. Ich kann es ja später lesen, und melde mich dann bei dir. xxx"

Er schickte mir also Küsschen per Skype, wie süß war das denn? Niemals hätte ich gedacht, dass mir ein eigentlich fremder Mensch so nahe stehen würde. Aber es war passiert, ungewollt, nicht forciert und trotzdem fühlte es sich großartig an. Mein Tag begann wirklich super und als ich endlich zur Mittagszeit das Krankenhaus verlassen durfte, schien einem perfekten Ende nichts mehr im Wege zu stehen. Doch in dieser Hinsicht sollte ich mich täuschen.

Zuhause angekommen, suchte ich sofort mein Zimmer auf und startete den Laptop. Wie zu erwarten war keine neue Nachricht von NJ eingetroffen, er schlief vermutlich noch, was ich durchaus verstehen konnte. Also legte ich mich ins Bett, um mich durch die Kanäle des Fernsehers zu zappen. Das Klingeln an unserer Tür ignorierte ich gekonnt, da meine Mutter sich im Haus befand, und der Besuch bestimmt nicht meinetwegen hergekommen war.

Minuten später schaute ich allerdings überrascht auf, als ich in Normans Gesicht blickte, der in meiner Zimmertür stand.

„Hallo, Jess, ich habe gehört, du warst im Krankenhaus", begrüßte er mich.

„Ja, das stimmt. Woher weißt du das?"

„Von Christopher."

Die Frage, die sich mir nun stellte, war, woher Christopher seine Informationen bezog, doch das wollte ich hier nicht zur Sprache bringen.

„Setz dich doch."

Wenn er schon den Weg bis zu unserem Haus in Kauf genommen hatte, um mich zu besuchen, wollte ich nicht allzu unfreundlich sein. Nachdem Norman seinen Platz am unteren Ende des Bettes eingenommen hatte, begann er zu erzählen.

„Ich habe mir wirklich Sorgen um dich gemacht, aber deine Mum sagte gerade, dass es du dein rechtes Bein wieder spüren kannst."

„Allerdings, der Nachteil daran ist, dass ich auch wieder Schmerzen wahrnehme und die in meinem Knie waren schon sehr heftig."

„Das glaube ich dir."

Eigentlich fand ich es recht nett, dass er mich besuchte und gleichzeitig komisch. Wir hatten in der Gruppentherapie kaum miteinander gesprochen, aber scheinbar wollte er nicht aufgeben, was mein Erscheinen dort betraf.

„Jess, vielleicht solltest du doch noch einmal über die Therapiegruppe nachdenken. Ich meine, jetzt, wo du wieder Gefühl in einem Bein hast, bringt es vielleicht mehr, als du es dir vorstellen kannst."

Zögernd antwortete ich: „Ok, ich werde darüber nachdenken."

„Wirklich?" Norman strahlte mich an.

„Ja, versprochen."

In meinen Gedanken malte ich mir bereits aus, wie NJ wohl reagieren würde, wenn ich ihm dieses Gespräch schilderte. Ich wollte auf jeden Fall seine Meinung dazu hören bzw. lesen.

Norman verabschiedete sich nach einer Viertelstunde wieder von mir, mit der Aussage, dass er in der nächsten Woche wieder vorbeikommen wollte, um nach mir zu schauen. Da jegliche Art von Besuch ein Zeitvertreib für mich war, protestierte ich nicht, sondern ließ ihn wissen, dass er willkommen sei. Trotzdem konnte ich es kaum erwarten, wieder alleine zu sein, da ich unbedingt mit NJ schreiben musste.

Das Glück schien auf meiner Seite zu sein, als ich die Skype Korrespondenz öffnete, denn er hatte mir gerade etwas geschrieben.

„Ich bin jetzt wach, wir können chatten."

Sofort teilte ich ihm mit, was sich heute ereignet hatte und bat ihn um seine Meinung. NJ zeigte sich genauso verwundert über Normans Besuch wie ich und warf sogar in den Raum, ob dieser vielleicht an mir interessiert sein könnte. Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht, weil es mir völlig absurd erschien, dass ein Mann ein Mädchen in einem Rollstuhl attraktiv finden könnte. Aber NJ belehrte mich erneut eines Besseren.

„Attraktivität ist nicht mit Perfektion gleichzusetzen, Jess. Vergiss das nicht."

Verliebt in seine Ausdrucksweise, lächelte ich in mich hinein, bevor ich antwortete: „Deine blauen Augen sind bestimmt beides: Perfekt und attraktiv."

„Du machst mich verlegen, können wir bitte das Thema wechseln?", kam es prompt zurück, was mich zu einem Grinsen animierte.

Er konnte tatsächlich schüchtern klingen, wenn er es darauf anlegte. Da ich jedoch auf sein Spiel einging, fragte ich sogleich: „Ok, über was möchtest du gerne schreiben?"

„Darüber, ob du eine Ahnung hast, warum die Schmerzen im Knie plötzlich so stark waren."

„Das hat mich der Arzt auch schon gefragt, oder besser gesagt, er wollte wissen, ob ich mir vielleicht das Knie angestoßen hätte."

„Und? Hast du?"

Beim überaus gründlichen Nachdenken poppte ein Ereignis in meinem Kopf hervor, das ich fast verdrängt hatte, und welches mich nun heftig schmunzeln ließ.

„Ich bin damals vor Lachen aus dem Bett gefallen, als ich gelesen habe, dass du deinen Penis gemessen hast. Dabei habe ich mir das Knie angestoßen, was natürlich nicht wehgetan hat, da ich meine Beine noch nicht spüren konnte. Vermutlich kommen die Schmerzen daher", ließ ich NJ wissen.

Gespannt verfolgte ich, wie er etwas tippte, um dann gekrümmt vor Lachen, im Bett zu liegen.

„Es tut mir echt leid, dass mein Penis die Schuld an deinen Schmerzen trägt. Wie kann ich das wieder gut machen?"

Auf diese Frage gab es nur eine Antwort, die da hieß: „Meinst du jetzt den Penis oder dich?", worauf NJs Lässigkeit wieder zum Vorschein kam.

„Keine Ahnung, such es dir aus!"

Meine Kinnlade klappe nach unten, doch ich wollte unbedingt verbal zurückschießen und war gespannt, wie er das verkraftete.

„Wenn das so ist, nehme ich beide!"

Es erfolgte kein Protest, sondern eher eine NJ typische Antwort. „Ok, wir werden unser Möglichstes versuchen, wenn wir dich sehen."

Oh Shit! Ich hatte mal wieder nicht nachgedacht, als ich mich mit meiner Bemerkung verbal etwas weit aus dem Fenster lehnte. Irgendwann würde ich ihm gegenüber stehen (oder sitzen), in seine blauen Augen schauen und mich in Grund und Boden schämen, weil ich so etwas von mir gegeben hatte. Das war richtig peinlich! Aber auch NJ schien plötzlich den gleichen Gedankengang zu verfolgen, denn er ließ verlauten: „Nimm bitte nicht alles so ernst, was ich sage, manchmal schieße ich einfach über das Ziel hinaus."

Man konnte deutlich spüren, dass wir versuchten, etwas vorsichtiger zu sein, seit unser Treffen so gut wie beschlossene Sache war. Einerseits fand ich das gut, andererseits liebte ich gerade diese Neckereien zwischen uns besonders. Es machte ihn so sexy, wenn er zweideutige Dinge schrieb.

Verzweifelt versuchte ich diesen Gedanken abzuschütteln. Wir kannten uns nicht einmal, ich durfte keine hohen Erwartungen stellen, umso größer würde nämlich die Enttäuschung sein, wenn er diesen nicht gerecht wurde. Vielleicht würde ich seine Stimme nicht ausstehen können, oder etwas anderes gab den Ausschlag, dass ich ihn nie wieder sehen wollte. Man konnte nicht wissen, wie das Treffen verlaufen würde, sondern nur das Beste hoffen.

Seufzend stellte ich fest, dass wir total vom Thema abgekommen waren, denn eigentlich ging es darum, ob ich nochmals einen Versuch bei der Gruppentherapie wagen sollte. Gemeinsam mit NJ wägte ich das Für und Wider ab und kam schließlich zu dem Entschluss, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei, um diese fortzusetzen.

„Es ist so schön, dass ich mit dir über alles schreiben kann", ließ ich ihn wissen, worauf er nur antwortete: „Das ist umgekehrt genauso, ich kann mit dir auch über alles schreiben."

„Freundschaft fürs Leben?", kam es von mir.

„Auf jeden Fall!", entgegnete NJ, das wundervolle Wesen, das ich im Internet kennengelernt hatte.

Die nächsten Tage vergingen eigenartigerweise recht schnell. Jeden Tag schrieb ich mit NJ, manchmal Stunden, oft nur kurz, je nachdem wie sein Zeitplan aussah. Er wusste, wie komisch es sich für mich anfühlte, nur eines meiner Beine spüren zu können und, dass das Kribbeln im anderen Bein mich fast rasend machte. Außerdem hatte ich Angst, das rechte Bein aus Versehen zu verdrehen und auch, das Knie eventuell wieder anzustoßen, tollpatschig wie ich nun einmal war.

NJ empfahl mir deshalb, eine Kniebandage anzulegen, damit es einigermaßen geschützt sei. Da er sich bestens mit solchen Dingen auskannte, schlug ich unserem Orthopäden, dem ich auf Drängen unseres Hausarztes einen Besuch abstattete, diese Maßnahme vor. Gott sei Dank versuchte er nicht, mir das auszureden.

Mit der Kniebandage fühlte ich mich erheblich sicherer und natürlich schoss ich ein Foto davon, welches ich an NJ schickte, der sofort einen Kommentar abgab: „Sieht sexy aus!"

„Du bist ein Idiot!", schrieb ich zurück, allerdings mit einem augenzwinkernden Smiley, der dieser Aussage ihre Ernsthaftigkeit nahm.

In solchen Augenblicken wünschte ich mir, sein Gesicht sehen zu können, doch wir brachen unsere anfängliche Vereinbarung, dass es keine Webcam Sessions geben würde, nicht. Merkwürdigerweise empfand ich es als sehr reizvoll, ihn erst von Angesicht zu Angesicht zu sehen zu können, wenn unser Treffen stattfand, das immer näher rückte. Bis dahin begnügte ich mich mit dem Anblick eines Golfballs, seinem Profilbild auf Skype.

Inzwischen zeigte das Datum auf meinem Handy den dreizehnten August an, der Tag vor meinem Geburtstag. Welche großen Pläne hatte ich in der Vergangenheit verfolgt, die jedoch niemals wahr werden würden. Mit einundzwanzig wollte ich in New York sein, möglichst am Broadway tanzen, und in den Bars alkoholische Getränke zu mir nehmen.

Nichts von alldem würde sich jemals mehr erfüllen und so befand ich mich in einer sehr melancholischen, gedrückten Stimmung, als zu allem Überfluss auch noch Norman auftauchte. Trotzdem lag es mir fern, ihn einfach so hinauszuwerfen. Immerhin handelte es sich bei seinem Besuch um eine nette Geste.

Moment, war heute nicht Donnerstag? Sollte er nicht in absehbarer Zeit zur Gruppentherapie auftauchen? Als ich mich danach erkundigte, antwortete er lächelnd: „Das stimmt, aber ich wollte dich fragen, ob du nicht vielleicht doch mitkommen willst."

„Du lässt nicht locker, oder?"

„Warum sollte ich?"

Zweifelsohne gehörte Norman zur Kategorie der Sturköpfe, ich stand ihm jedoch in nichts nach, was das anging.

„Nein, danke. Ich habe mich vorerst dagegen entschieden", lautete meine höfliche, jedoch sehr bestimmte Antwort, die er wohl oder übel hinnehmen musste.

„Ok, aber wenn du dich anders entscheiden solltest, lass es mich wissen", verabschiedete er sich von mir. Allerdings fügte er noch einen Satz hinzu.

„Hast du etwas dagegen, wenn ich dich morgen wieder besuche?"

„Normalerweise nicht, aber morgen ist mein 21. Geburtstag und den möchte ich gerne mit meiner Familie verbringen", erwiderte ich ehrlich, was er glücklicherweise zu verstehen schien.

„Gut, dann sehen wir uns die Tage."

Als er sich mit einem Händedruck von mir verabschiedete, wünschte ich mir plötzlich NJs Hand spüren zu können. Doch das würde erst im September der Fall sein. Ein konkretes Datum stand noch nicht fest, obwohl ich mir sicher war, dass NJ dies bereits geplant hatte.

Stunden später wartete ich noch immer auf meinen Skype Partner, der wie vom Erdboden verschwunden zu sein schien, doch dann, um kurz vor Mitternacht schrieb er mich an.
„Hallo Jess, na bist du schon aufgeregt?"

„Wieso sollte ich?"

„21????"

„Das ist nichts Besonderes, zumindest nicht für mich."

„Dann mache ich es nächsten Monat zu etwas Besonderem", kam es prompt von ihm.

Was sollte das nun schon wieder bedeuten? Mit klopfendem Herzen schaute ich auf das Display des Handys, welches plötzlich Mitternacht anzeigte.

„Happy Birthday, Jess! Ich wünsche dir alles Liebe und Gute zum Geburtstag!"

Als ich NJs Worte las, traten kleine Tränen in meine Augen. Er war der erste, der mir gratulierte, ich hatte geahnt, dass es so kommen würde, und dies machte mich unheimlich glücklich.

„Danke, das ist sehr lieb von dir!", erwiderte ich und schickte ihm einen Kussmund.

Sekunden später bekam ich ein Herz zurück. Mit seiner liebevollen Art schaffte er es, dass ich tatsächlich Dinge aussprach, die in meinem Kopf umhergeisterten.

„Ich würde jetzt gerne in deinem Arm liegen", sprach ich ganz offen aus.

„Kein Problem, er gehört dir."

„Wie lange?"

„So lange du willst!"

Verträumt schloss ich meine Augen, um mir vorzustellen, wie es sich wohl anfühlte, in seinem Arm zu liegen, da öffnete sich meine Zimmertür. Meine Eltern, Malcolm und Stephanie schritten mit einer großen Geburtstagstorte in Richtung Bett, die mit einundzwanzig Kerzen geschmückt war. Schnell textete ich an NJ: „Meine verrückte Familie gratuliert mir tatsächlich mitten in der Nacht zum Geburtstag. Ich muss jetzt leider aufhören zu schreiben, bis später."

„Ok, schlaf schön und träum was Süßes", gefolgt von „xxx", waren seine letzten Worte in dieser Nacht.

Freudig wandte ich mich meiner Familie zu, die mich alle umarmten, küssten und mir das Gefühl gaben, geliebt zu werden, obwohl ich nicht vollkommen war. Die Erklärung, warum die Kerzen auf der Torte nicht brannten, lieferte meine Mutter, indem sie sagte: „Jess, die Torte wird nachher gegessen, ich wollte nur, dass du sie schon siehst. Deswegen darfst du die Kerzen erst ausblasen, wenn alle Gäste da sind."

Wohl oder übel musste ich mich damit zufrieden geben, obwohl der Anblick der Torte bereits ein gewaltiges Magenknurren in mir auslöste.

„Kann ich wenigstens Schokoladeneis haben?", stellte ich die Frage, worauf Malcolm sofort in die Küche stürmte, um mich prompt zu bedienen. Er war eben der beste Bruder der Welt.

Nachdem ich das Eis in Rekordgeschwindigkeit verzehrt hatte, beschloss meine Familie ins Bett zu gehen. Auch ich wurde langsam müde und driftete ab in einen tiefen Schlaf, aus welchem ich am nächsten Tag gegen zehn Uhr herausgerissen wurde, weil jemand die Klingel betätigte. Meine Eltern hatten sich heute beide frei genommen, somit war gewährleistet, dass ich mich nicht in den Rollstuhl hieven musste. Und wie immer ging ich davon aus, dass das Klingeln sowieso keine Bedeutung für mich haben würde. Allerdings lag ich damit schon wieder falsch, wie ich sogleich feststellen sollte.

Meine Mutter betrat mit einem Strauß roter Rosen in ihrer Hand, mein Zimmer.

„Die sind für dich abgegeben worden, Jess", sagte sie erstaunt und lächelnd zugleich.

„Was?!"

Fassungslos starrte ich auf die Blumen, einundzwanzig an der Zahl, die unglaublich toll aussahen. Ich hatte noch nie so schöne Rosen gesehen, doch wer ließ mir diese zukommen?

„Da ist ein Schriftstück beigefügt", erklärte meine Mum und überreichte mir einen kleinen, weißen Umschlag, aus welchem ich eine winzige Karte hervorzog, deren Inhalt ich nun aufmerksam zu lesen begann.

„Alles Liebe zum Geburtstag von jemandem der dich gern hat. N."

Ich brauchte genau drei Sekunden, um zu begreifen, wer der Absender war. Es konnte nicht wahr sein, dass Norman mir Blumen schickte! Er schien tatsächlich in mich verknallt zu sein, wie NJ es vorausgesehen hatte. Wie sollte ich denn damit umgehen?
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Arme Jess! Was soll sie nun machen? Und könnt ihr euch vorstellen, wie peinlich das sein wird, wenn Jess und Niall sich sehen, nach all den zweideutigen Dingen, die sie sich geschrieben haben? :D Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen!Ob Niall jetzt wohl eifersüchtig auf Norman wird?

Leute, über 600 Votes und 3.8 k reads! Das ist absolut toll! Ich danke euch dafür!

LG, Ambi xxx





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