18. Break-out
Jess
Als ich am nächsten Tag erwachte, wurde mir bewusst, dass heute die Stunde der Wahrheit schlug. Nachher würde ich die erste Gruppentherapie starten, wobei ich noch immer nicht wusste, was dort auf mich zukommen würde. Vielleicht waren die Leute nicht nett, oder der Leiter der Gruppe ein Idiot, der nur mit psychisch gestörten Menschen umgehen konnte. Annes Erzählungen nach zu urteilen, überzeugte mich seine Kompetenz nicht unbedingt, denn es war ein großer Unterschied, ob man zum Beispiel unter Schizophrenie litt, oder aufgrund eines körperlichen Leidens plötzlich in eine Depression verfiel.
Seufzend hievte ich mich aus dem Bett, ließ mich in den Rollstuhl plumpsen und begann mit der täglichen Routine. Dabei ließ ich mir am heutigen Tag sehr viel Zeit, denn ich wollte, dass der Nachmittag schnell herannahte. Je länger ich darauf warten musste, desto schlimmer würden meine Gedanken und Ängste werden. Also ließ ich es langsam angehen.
Nachdem ich das Badezimmer verlassen hatte, vertilgte ich mein Frühstück, um anschließend wieder in mein Zimmer zurückzukehren. Eigentlich erwartete ich noch keine E-Mail von NJ, umso erstaunter reagierte ich natürlich darauf, dass er bereits geantwortet hatte. Als ich auf die Uhrzeit blickte und zurückrechnete, stellte ich fest, dass er die Email etwa gegen ein Uhr nachts abgeschickt haben musste. Mit einem Lächeln im Gesicht öffnete ich diese und begann sofort zu lesen.
Liebe Jess,
es war schlimm, so lange auf deine Antwort warten zu müssen, ich dachte schon, du willst nichts mehr mit mir zu tun haben, weil ich dich über meine Fuckbuddies aufgeklärt habe. Aber Gott sei Dank siehst du das nicht so eng und hast ein Herz für einen Typen, der sein Single Dasein genießt. Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich viel lieber eine Freundin hätte, auf die ich mich freuen kann, wenn ich nach längerer Abwesenheit nach Hause komme?
Fakt war, ich würde es ihm glauben, denn er kam absolut ehrlich rüber, jedenfalls in meinen Augen. Jeder Mensch sehnte sich doch danach, einen anderen zu haben, mit dem man alles teilen konnte. Freud und Leid, lachen und weinen, und das Gefühl geliebt zu werden. Auch ich sehnte mich danach, wobei mir jeden Tag bewusster wurde, dass ich dies vermutlich nie wieder erfahren würde.
Traurig blickte ich an meinen mageren Beinen herab, die keine Muskeln mehr besaßen und leblos an mir hingen. Ich musste eine gewaltige innere Kraft aufbieten, um einfach weiterzulesen und die derzeitige Situation zu ignorieren. Jetzt war NJs E-Mail an der Reihe, die mich in eine andere Welt entführte und nachdem ich die Tränen aus meinen Augen gewischt hatte, las ich weiter.
Wenn ich eine Freundin hätte, könnte diese sich jetzt auch um meinen lädierten Rücken kümmern. So muss ich leider einen Arbeitskollegen darum bitten, in der Hoffnung, dass ich nicht ausgelacht werde, wenn ich von ihm verlange, dass er meine Rückseite mit Quark einschmieren soll. Aber da mich sowieso alle für verrückt halten, dürfte das kein Problem werden.
Und schon brachte er mich wieder zum Lachen. Er hatte es einfach drauf, was diese Sache anging, kein Wunder, dass ich darauf nicht mehr verzichten wollte! Auch als ich mir den nächsten Satz zu Gemüte führte, rief dieser ein Schmunzeln bei mir hervor.
French 21 kann ich nur empfehlen, aber bitte sei vorsichtig mit der Dosierung! Ich möchte nicht die Schuld daran tragen, wenn du vielleicht aus dem Rollstuhl kippst.
„Du trägst bereits die Schuld daran, dass ich wegen deiner Penisgeschichte aus dem Bett gefallen bin", murmelte ich grinsend vor mich hin, bevor ich den Text weiter verfolgte.
Kommen wir nun zu den ernsteren Themen. Warum nur habe ich es mir gedacht, dass du keinen Wert darauf legst, neue Freundschaften einzugehen? Es ist ja auch nicht einfach, sich wildfremden Menschen anzuvertrauen, doch du hast das geschafft, indem du auf meine E-Mail geantwortet hast. Außerdem sollte man bei der Auswahl seiner richtigen Freunde wählerisch sein, denn was nützt es, viele Menschen zu kennen, die sich Freunde schimpfen, jedoch nie da sind, wenn du sie wirklich brauchst. Da ist es vermutlich besser, wenn man nur Wenige hat, auf die man sich jedoch bedingungslos verlassen kann. Ich habe vier von diesen Freunden, das ist eine Menge, aber ich weiß, dass sie immer für mich da wären, egal was passiert. Und dann ist da noch dieses Mädchen, das ich im Internet kennengelernt habe. Ich habe das Gefühl, ihr alles erzählen zu können, egal, um welches Problem es sich handelt.
Sorry, dass ich gerade in der dritten Person von dir gesprochen habe, aber es passte so gut. Um ehrlich zu sein, gehörst du auch zu meinen Freunden, denn du bereicherst mein Leben auf eine Art und Weise, die neu für mich ist. Du hast mir das Gefühl gegeben, etwas richtig zu machen, indem du mir zu verstehen gegeben hast, dass ich dich aufmuntern, aber auch zum Nachdenken anregen kann. Ich habe vorher nie gewusst, dass ich zu so etwas fähig sein würde. Warum solltest du also nicht auch über deinen Schatten springen können, wenn du diese Gruppentherapie besuchst?
Wie geschickt er doch von einer Thematik in die andere überging, fiel mir heute erneut auf. Er wusste sich so gut auszudrücken und in jedem seiner Sätze steckte Wahrheit aber auch Mut, welchen er an mich weiterreichte. Man konnte das regelrecht zwischen den Zeilen lesen, zumindest schaffte ich das mühelos. Seine Botschaften kamen bei mir an, egal in welcher Form er diese verpackte. Auch die nächste war ein Volltreffer.
Stell dir einfach vor, ich sitze neben dir und halte deine Hand, während du die Therapie hinter dich bringst. Lass dich ruhig auf die Menschen dort ein und auch auf die Fragen, die sie dir vielleicht stellen werden. Du kannst nichts verlieren, nur gewinnen. Vermutlich fragst du dich gerade, was du denn gewinnen solltest; diese Frage kann ich leicht beantworten. Respekt, Verständnis und vielleicht doch neue Freundschaften, wenn du der Ansicht bist, diese zulassen zu wollen. Es ist einzig und alleine deine Entscheidung, wie nahe du einen Menschen an dich herankommen lässt, womit ich schon beim nächsten Thema angelangt bin.
Jetzt musste ich erstmal tief durchatmen, denn ich wusste ganz genau, was er nun ansprechen würde.
Kommt es dir manchmal auch so vor, als ob wir eine unsichtbare Grenze überschreiten würden, mit den Dingen, die wir uns schreiben und den Fotos, die wir uns schicken? Ich hoffe, dass du mich noch immer nicht für einen Perversling hältst, denn diese Dinge sind einfach so passiert, weil wir beide es zugelassen haben, verstehst du? Als ich mit dir zu schreiben begann, hatte ich nie die Absicht, Bilder von meinen Boxershorts an dich zu senden oder welche von deiner Unterwäsche anzufordern, welche übrigens total sexy und hübsch ist. Du besitzt einen guten Geschmack, das muss ich echt mal loswerden. Und ich bin nicht leicht zufrieden zu stellen, was diese Dinge angeht, lass dir das gesagt sein!
Er gehörte also zu den Unterwäsche Fetischisten, was ich jedoch keineswegs schlimm fand, sondern grinsend zur Kenntnis nahm. Gespannt blickte ich nun auf die folgenden Zeilen.
Findest du es schlimm, dass unsere Korrespondenzen so ausgeschweift sind? Wenn ja, dann sage es mir bitte, damit ich versuchen kann, mich zu mäßigen.
Ich wollte gar nicht, dass er sich in dieser Hinsicht mäßigte, denn er war meine einzige Chance zum Flirten, zwar nur im Internet aber weshalb sollte ich das nicht nutzen? Immerhin brachte mich das auf andere Gedanken und das war genau das, was ich im Moment brauchte. Umso erfreute war ich nun, die nächsten Sätze lesen zu können.
Wie kommst du denn auf die Idee, dass ich wegen einer festen Freundin die Brieffreundschaft zu dir aufgeben würde? Keine Angst, das wird nicht geschehen, dafür bin ich viel zu egoistisch und unabhängig. Aber ich würde dann nicht mehr mit dir flirten, was du hoffentlich verstehst. Da das mit der festen Freundin jedoch nicht in absehbarer Zeit passieren wird, kannst du dich beruhigt zurücklehnen und unsere Korrespondenzen weiterhin genießen.
Das würde ich, darauf konnte er sich verlassen! Jeder einzelne Buchstabe war ein Genuss, den ich in mir aufsog, als sei er meine Rettung aus einer furchtbaren Welt. Zugegeben hielt die Realität auch nur Grausamkeiten für mich bereit, aber wenn ich mit NJ schrieb, fühlte ich mich wie in einem Märchen. Er war mein Ritter und ich seine Prinzessin. Selbst wenn wir über ernste Themen diskutierten, hatte ich trotzdem das Gefühl, dass er mich immer auffing, wie seine darauffolgende Aussage es verdeutlichte.
Ich habe lange über die Sache mit den vier Stützen nachgedacht, die du so gut beschrieben hast und bin zu folgendem Ergebnis gekommen. Vielleicht mag dich dieses überraschen, aber die vierte Stütze bist du selbst, denn ohne dein Zutun können die anderen drei Stützen, deine Familie, Anne und ich, nicht das Vollkommene erreichen. Verstehst du was ich meine? Wenn eine Stütze einbricht, werden auch die anderen nicht mehr lange aufrecht stehen können. Du bist die wichtigste Stütze, indem du es zulässt, dass wir uns um dich kümmern dürfen.
Es war wundervoll seine Worte lesen zu können. Er klang wie ein Poet, es hätte mich nicht gewundert, wenn er sich als heimlicher Dichter entpuppt hätte. Wie konnte ein Mensch einen anderen nur so aufrichten? Gierig verschlang ich die nächsten Worte, die so süß waren, dass ich unwillkürlich lächeln musste.
Ich finde es toll, dass du mir vertraust, wenn es um dein Knie geht, keine Angst, ich werde dich gut beraten, falls du dich irgendwann zu einer erneuten Untersuchung begeben solltest. Auch möchte ich mich dafür bedanken, dass du dich nach meinem Knie erkundigst, welchem es ausgezeichnet geht. Ich wünschte, du würdest das auch eines Tages zu mir sagen können.
Seine Fürsorglichkeit berührte mich so sehr, dass ich meine Tränen zurückhalten musste. Womit verdiente ich einen Menschen wie NJ? Immer wieder war es mir ein Rätsel, warum er keine feste Freundin hatte. Waren die Mädchen dumm oder blind? Was bitte erwarteten sie von einem Typen? NJ besaß absolut alles, was für mich wichtig war. Aber vielleicht musste man zuerst Schlechtes erfahren, um das Gute erkennen zu können, so, wie es mir passiert war.
Ich bin immer noch dafür, dass wir uns mit Mickey Mouse und Boxershorts bekleidet nebeneinander legen, um zu kuscheln. Aber nur, wenn du deine scharfe Unterwäsche drunter trägst! Keine Sorge, ich würde sie dir nicht vom Leib reißen, solch edlen Wäschestücke muss man langsam und genüsslich ausziehen. Das macht wesentlich mehr Spaß und ist außerdem appetitanregend.
Ich wusste ziemlich genau, von welchem Appetit er gerade sprach, was mich süffisant grinsen ließ. Sein nächster Satz rief allerdings ein lautes Lachen aus meiner Kehle hervor.
Schön, dass du mir meine Fuckbuddies zugestehst, obwohl die nicht so scharfe Unterwäsche tragen wie du. Vielleicht sollte ich sie demnächst zu Calvin Klein einkaufen schicken, bevor sie mich heimsuchen.
Sein Humor war so köstlich!
Deine Vorstellung, dass alle meine Fuckbuddies sich an einem Ort zur gleichen Zeit treffen könnten, hat mich ziemlich erschreckt, denn das wären dann vier an der Zahl. Tut mir leid, aber das schaffe ich nicht! Ich bin auch nur ein Mensch und kein Roboter! Aber vielleicht könnten wir die vier ganz unverfänglich zum Tee einladen, wenn du dabei bist.
„Du bist ja sowas von verrückt!", entfuhr es mir lachend, während ich mir NJ im Kreise von fünf jungen Frauen vorstellte, die alle mit ihm Tee tranken.
Die andere Vorstellung, dass ich dir die Klamotten ausziehe, hat mich dagegen weniger erschreckt, jedoch die Tatsache, dass du weinen musstest, weil du deine Beine nicht bewegen kannst, umso mehr. Es tut mir leid, dass du meinetwegen auf solche Gedanken gekommen bist, ich wollte das nicht.
Gott, es war so süß, wie er sich entschuldigte, dabei konnte er nichts dafür.
Meine Seele fühlt sich bei dir auch gut aufgehoben, Jess. Deswegen vertraue ich dir Dinge an, die nicht jeder weiß, zum Beispiel die Sache mit den Fuckbuddies. Das wissen echt nur meine engsten Freunde.
Ich konnte durchaus verstehen, dass er das nicht überall herumerzählte, denn die meisten Menschen waren einfach viel zu intolerant, um zu begreifen, dass das nichts Schlimmes war. Seufzend las ich nun weiter.
Ich soll also stolz auf mich sein? Nun das bin ich ein bisschen, aber ich bin noch viel stolzer auf dich. Du hast wirklich viel geschafft, du beginnst zu kämpfen, was deine Teilnahme an der Gruppentherapie beweist. Bitte schreibe mir umgehend, wie diese für dich war. Ich drücke dir alle Daumen und werde natürlich in Gedanken deine Hand halten, wenn du dort bist. Und wenn du nicht mehr weiter weißt, stell dir einfach vor, dass wir uns gegenüber sitzen und du es mir erzählen würdest.
Das wollte ich gerne tun, mehr sogar, ich wollte in seine blauen Augen schauen, die wahrscheinlich wunderschön waren. Bevor ich mich in meinen Träumen verlor, las ich noch den Rest der E-Mail.
Bezüglich deines Musikgeschmacks kann ich dir nur sagen, dass er super, und vor allem breit gefächert ist. Allerdings möchte ich dich darauf aufmerksam machen, dass es tatsächlich Boybands gibt, die ihre Texte größtenteils selbst schreiben. Aber das sei nur am Rande erwähnt. Magst du The Script? Das ist eine meiner Lieblingsbands. Katy Perry ist natürlich super, keine Frage. Hast du sie schon mal auf der Bühne erlebt? Ich schon und sie war gigantisch gut!
Das glaubte ich ihm das aufs Wort, wobei ich ziemlich neidisch wurde, denn ich hätte zu gerne ein Konzert von Katy besucht. Zumindest als ich noch laufen konnte, denn jetzt würde das nur noch der halbe Spaß sein. Resigniert blickte ich für eine Sekunde auf meine Beine, um dann jedoch wieder den Kopf zu haben. Schließlich wollte ich die letzten Zeilen auch noch lesen.
Die Mischung aus Gitarre spielen und kochen klingt interessant, vielleicht sollte ich das wirklich mal versuchen. Während du nach einem geeigneten Haustier Ausschau hältst, dem du meinen Namen verpassen kannst, stelle ich unser Menü und die Songs zusammen, ok?
Natürlich ist meine Penisgröße nicht relevant, sondern ob ich damit richtig umgehen kann. Keine Ahnung, was ich jetzt noch dazu sagen könnte, ohne dass unsere Korrespondenz schon wieder in eine gewisse Richtung geht. Hilf mir das zu beenden!
Lachend warf ich meinen Kopf zurück, so dass meine langen Haare umherflogen. Meine Antwort würde so spaßig werden! Beim nächsten Satz lächelte ich jedoch wieder selig vor mich hin.
Du möchtest auf dem Sofa kuscheln? Kein Problem! Und 58 Kilo schaffe ich gerade noch so mit meinen wundervollen Händen zu tragen! Danke übrigens, für das Kompliment. Vielleicht hast du schon bemerkt, dass ich dir heute auch ein Bild geschickt habe. Darauf ist meine Gitarre zu sehen, so wie du es dir gewünscht hast. Darf ich mir jetzt auch ein Foto wünschen? Keine Angst, ich möchte nichts Spezielles haben. Schick mir einfach ein Bild von etwas, das dir wichtig ist, dass ich es sehe. Es kann ein Gegenstand sein, oder etwas zu Essen, es ist egal.
Zum Schluss möchte ich dir noch sagen, dass du ein sehr tapferer Mensch bist.
Alles Liebe, NJ
P.S.: Ich werde nachher an dich denken! Du schaffst das!
Er war so liebenswert, dass ich schon fast wieder heulen musste vor Glück. Verdammt! Seit dem Unfall war ich so nahe am Wasser gebaut, das war nicht mehr feierlich!
Seufzend überflog ich die E-Mail ein weiteres Mal, nachdem ich das Bild mit der Gitarre eingehend betrachtet hatte, und kam zu dem Entschluss, dass ich erst nach der Therapiestunde zurückschreiben wollte. NJ wartete sicher darauf, wie die Sache ausgehen würde. Da es bereits auf die Mittagszeit zuging, fiel es mir nicht schwer, die Zeit totzuschlagen.
Zuerst schaute ich einen Film an, dann las ich seine E-Mail ein weiteres Mal durch, weil es mir einfach gut tat und zum Schluss überlegte ich, was ich anziehen sollte. Eigentlich wollte ich nicht in meiner ausgeleierten Jogginghose und einem labbrigen T-Shirt zu der Gruppentherapie auftauchen. Also entschied ich mich für eine Jeans und eines meiner geliebten Topshop Oberteile. Darüber zog ich eine Strickjacke, da es heute merklich kühler war als noch vor einigen Tagen.
Pünktlich um halb fünf stand Anne vor unserer Tür. Sie hatte sich das große Auto von ihren Eltern geliehen, weil mein Rollstuhl dort mühelos hineinpasste. Während wir in Richtung Chippenham fuhren, hörten wir Musik im Radio, unterhielten uns jedoch nicht, denn ich war ziemlich wortkarg. Meine Gedanken fuhren gerade Achterbahn. Was würde nun auf mich zukommen?
Als Anne mich zwanzig Minuten später vor dem Gebäude absetzte, fragte sie natürlich, ob sie mit hineinkommen solle, was ich jedoch verneinte. Ab jetzt wollte ich auf mich alleine gestellt sein, nur NJ durfte in Gedanken bei mir sein. Langsam rollte ich über die Rampe zum Eingang, dessen Tür sich durch die Betätigung eines elektrischen Drückers automatisch öffnete. Alles war also behindertengerecht eingerichtet, was mir die Dinge natürlich erleichterte. Den Raum, in welchem die Therapie stattfand, hatte ich schnell gefunden. Dieser lag im Erdgeschoss, in der Nähe der Eingangstür. Als diese sich öffnete, schienen alle Augen auf mich gerichtet zu sein.
„Herzlich willkommen! Du musst Jess sein", begrüßte mich ein Mann mittleren Alters, der eindeutig der Therapeut sein musste.
„Ja, ich bin Jess", erwiderte ich und schaute mich kurz um.
Sie saßen alle in einem Kreis, außer mir war nur noch ein einziger Rollstuhlpatient anwesend, was ich ziemlich gut fand. Ein komplettes Rollstuhlgeschwader hätte ich jetzt nämlich nicht ertragen können.
„Fein, ich bin Christopher, der Leiter dieser Gruppe. Am besten setzt du dich neben Norman und erzählst uns ein bisschen von dir, Jess."
Er zeigte mit seiner Hand auf einen jungen Typen, der schätzungsweise Mitte Zwanzig war, kurze schwarze Haare besaß und mich freundlich anlächelte. Auf den ersten Blick konnte ich keine körperliche Behinderung bei ihm feststellen, doch ich würde sicher irgendwann erfahren, warum er hier seine Zeit verbrachte.
Noch immer waren alle Augen auf mich gerichtet, was den Wunsch in mir aufkommen ließ, NJs Hand spüren zu wollen. Er sollte meine einfach nur halten, mehr nicht. Die Zeit schien still zu stehen, als ich versuchte, etwas über mich zu sagen.
„Ich bin Jessica Meyers, fast einundzwanzig Jahre alt und wohne in Derry Hill", begann ich nach einem kurzen Durchatmen.
Christopher ließ mich nicht aus den Augen, als er seine nächste Frage stellte.
„Hast du schon immer in diesem Rollstuhl gesessen?"
„Natürlich nicht! Deswegen bin ich ja hier!", entgegnete ich ein wenig aufbrausend. „Ich habe früher Ballett getanzt! Und es gibt nichts auf der ganzen Welt, was ich lieber tun würde! Nichts!"
Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, wurde mir bewusst, was sie wirklich bedeuteten. Ich würde nie wieder tanzen, nie wieder. Zumindest nicht mehr in diesem Leben.
Seit Tagen hatte ich diese unumstößliche Tatsache verdrängt, seit Tagen beschäftigten mich NJs E-Mails mehr als alles andere, doch nun wurde ich praktisch von einer Minute zur anderen in die harte Realität befördert.
Es tat so verdammt weh, daran zu denken, dass ich nie wieder Spitzenschuhe tragen und über den Boden schweben durfte. Ohne dass ich es verhindern konnte, rannen Tränen über meine Wangen, tropften auf die Ärmel der Stickjacke und erschwerten mir das Sehen. Ich hatte nicht weinen wollen, nicht vor diesen fremden Menschen. Ein Zittern durchlief meinen Körper, als eine Hand sich plötzlich auf meinen Arm legte.
Verzweifelt versuchte ich mich der Illusion hinzugeben, dass es sich um NJs Hand handelte, die meinen Arm streifte. Doch das gelang nur für den Bruchteil einer Sekunde.
„Du kannst ruhig weinen, das erleichtert gerade am Anfang, aber irgendwann hilft es dir nicht mehr weiter."
Als ich meinen Kopf ein wenig anhob, blickte ich in Normans grüne Augen, die mich aufmerksam und gleichzeitig freundlich fixierten.
„Natürlich hilft es nicht", schnaufte ich leise, während ich die Tränen aus meinem Gesicht wischte.
„Es muss dir nicht peinlich sein, Jess", hörte ich Christopher sagen. „Schließlich sind wir alle hier, um unseren Frust herauszulassen und mit den anderen über die Dinge zu sprechen, die uns bewegen."
Wollte ich das überhaupt? Diese Menschen kannten mich gar nicht und ich kannte sie nicht. Wieso sollten sie mir also bei meinen Problemen helfen können?
Wieso sollten sie dir nicht helfen können?
Eine Stimme, die nur in meiner Einbildung existierte, sprach gerade zu mir. Es waren NJs warnende Worte, der mich dazu aufforderte, alles zu überdenken. Wäre er doch nur bei mir! Ich brauchte ihn gerade in diesem Moment mehr als jeden anderen. Seinen Zuspruch, seinen tröstenden Worte und nicht das Gefühl, alleine vor wildfremden Menschen zu sitzen, die sich meine Geschichte anhören würden, ohne das Geringste zu verstehen. Niemand würde begreifen, wie ich mich fühlte, niemand außer NJ.
„Möchtest du uns erzählen, wie das passiert ist, Jess?" hörte ich Christopher mit sanfter Stimme fragen.
Gequält kamen die Worte aus meinem Mund. „Durch einen Autounfall. Mein Ex Freund ist zu schnell gefahren."
„Ok, und würdest du ihn deswegen gerne schlagen?"
Ich glaubte mich verhört zu haben, als Christopher das von sich gab, trotzdem antworte ich darauf.
„Ja, das würde ich!"
„Fein, siehst du die große Stoffpuppe, die dort hinten angebunden ist?"
Sein Finger wies in die linke Ecke des Raumes, in welcher eine Art Marterpfahl stand, an dem tatsächlich eine Puppe ihr jämmerliches Dasein fristete.
„Wir nennen sie Beat-Boy", erklärte er, „und du darfst sie oder in diesem Fall ihn, gerne schlagen."
Ich wusste zwar nicht, was das bringen sollte, doch ich rollte ohne darüber nachzudenken geradewegs auf die Puppe zu. Der erste Schlag war der Schlimmste, weil ich mir kindisch vorkam, doch dann lief es von alleine.
Meine gesamten Aggressionen schienen sich an dieser Puppe zu entladen, zumindest für diesen Augenblick. Ich stellte mir tatsächlich vor, auf Tim einzuprügeln wie eine Gestörte, bis ich meine Hände kaum noch spürte. Erst dann ließ ich schwer atmend von ihm ab. Die Hände noch immer zu Fäusten geballt, versuchte ich meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Zu diesem Zweck stellte ich mir vor, dass NJ mich nun in seine Arme nehmen und beruhigen würde. Weil er es einfach konnte und weil er die ganze Zeit in Gedanken bei mir war. Auf der ganzen Welt gab es kein besseres Gefühl, als das zu spüren.
Doch ich fühlte noch etwas anderes: Die Unfähigkeit mit meinem Leben klarzukommen. Ich konnte es noch immer nicht akzeptieren, dass ich nie wieder tanzen würde und das ließ mich gerade innerlich zerbrechen.
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Ich hab euch ja gesagt, dass es nicht ewig so lustig weitergehen wird. Seid ihr nun gespannt auf das nächste Kapitel?
Ich hätte noch eine Bitte an euch, wenn ihr noch Niall Girls kennt (oder auch andere Personen, die Spaß daran hätten, diese Story zu lesen), dann würde s mich riesig freuen, wenn ihr sie euren Freunden empfehlen würdet. Ich freue mich echt über jeden neuen Leser und natürlich auch, dass die Story vielleicht noch ein bisschen bekannter wird.
LG, Ambi xxx
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